Bernd Harder
Die Gottesmutter ist überpünktlich. Irgendwann für den Nachmittag war die Erscheinung angekündigt - exakt um 14 Uhr und acht Minuten ist es schon so weit. Jemand reißt hektisch eine Schelle hoch und schwingt sie geräuschvoll hin und her - laut mehrerer Info-Plakate rund um die kleine Kapelle im Härtelwald zu Marpingen das vereinbarte Zeichen, dass die drei „Seherinnen" jetzt die heilige Jungfrau erblicken. Die Gesänge und Gebete der Pilger brechen ab. Es wird totenstill. Christine (24), Marion (30) und Judith (35) knien vor der Mariengrotte nieder und pendeln ihre Blicke auf eine bestimmte Stelle vor ihnen ein. „Maria ist da", stöhnt eine ältere Frau ergriffen auf.
8000 Menschen sind an diesem Sonntag im Juli rund um die Gnadenkapelle in der saarländischen Gemeinde Marpingen zusammengeströmt. „Die ersten waren schon gegen 7.30 Uhr hier", berichtet ein Ordner, der sich mit einem rotweißen Absperrband der Menge entgegenstellt und versucht, wenigstens die Rettungswege freizuhalten. Die Nummernschilder der Pilgerbusse lesen sich wie eine Deutschlandkarte: Von der Nordsee bis zu den Alpen ist die Kunde von den Marienerscheinungen unweit der deutsch-französischen Grenze vorgedrungen. Seit dem 17. 5. soll sich hier in regelmäßigen Abständen die Muttergottes drei jungen Frauen zeigen und ihnen Botschaften übermitteln. „Es traf mich damals wie ein Hammerschlag", schildert die 24-jährige Musikstudentin Christine Ney die erste Begegnung im Innenraum der Kapelle. „Von da an war mir klar, dass ich die Menschen dazu bewegen will, dass die Liebe der Muttergottes in die Herzen aller Menschen fährt." Ihre „Mit-Seherin" Marion Guttmann ist Hotelangestellte und stammt nach eigenem Bekunden „aus einem normalen, religiösen Elternhaus". Sie sehe die Jungfrau Maria dreidimensional, dabei bewege sich die Erscheinung „wie eine normale Frau. Sie schaut mal hierhin und mal dahin und bewegt sich". Spricht die Muttergottes sie direkt an? „Nein, sie spricht zu allen Menschen." Die Justizangestellte Judith Hiber gilt als glühende Marienverehrerin. Sie könne Maria nicht sehen, „übersetze" aber das, was sie sage.
Marienerscheinungen haben in Marpingen eine lange Tradition. Am 3. 7. 1876 wollen drei junge Mädchen beim Beerensammeln im Härtelwald am Dorfrand eine weiß gekleidete Frau gesehen haben. Sie sei die „unbefleckt Empfangene" und rufe die Menschen auf, fromm zu beten und nicht zu sündigen, sagen die drei Achtjährigen damals aus. Eine Kapelle wird gebaut, Berichte von Wunderheilungen an der sogenannten Gnadenquelle machen die Runde. Am 3. 9. 1877 verabschiedet sich die Erscheinung bei den Mädchen mit den Worten: „Ich komme wieder in schwer bedrängter Zeit." „Ist die Gottesmutter nach 123 Jahren in den Marpinger Härtelwald zurückgekehrt?", titelt nun die Lokalpresse angesichts der jüngsten Ereignisse.
„Sie trägt einen großen Mantel! Strahlen gehen von ihrer Hand in die ganze Gegend, überallhin und in alle Richtungen!" ruft die Seherin Christine aus. „Sie lächelt die ganze Zeit auf alle Leute! Sie hält die Hände auf, die sie über die Menschen hält!" Während sie die Erscheinung den 8000 Pilgern weiter als „ganz schlicht in ein weißes Gewand" gekleidet beschreibt, hält Judith Hiber ihr ein Diktiergerät vor den Mund und versucht, jedes Wort der 24-Jährigen aufzunehmen. „Die weiße Taube ist auch wieder da ... Sie schwebt über die Menschenmenge und lässt Blütenblätter fallen", redet Christine weiter. Geräuschvoll klicken immer wieder Fotoapparate. Irgendwo in der Menge klingelt ein Handy. „Ich komme heute hier oben an die Quelle, um euch daran zu erinnern, dass diese Quelle schon vor mehr als 100 Jahren von Gott geschenkt wurde, um Kranke zu heilen", gibt die Seherin, ohne ins Stocken zu geraten, die Worte wieder, die sie angeblich von der Erscheinung hört. Heftiges Schluchzen schneidet durch die Stille. „Oh Mutter! Oh Maria!" ruft eine Frau immer wieder aus, bis ihr Flehen in einem Weinkrampf erstickt. Auch Marion Guttmann kann Maria mittlerweile sehen und spricht ihre Wahrnehmungen auf Band. Ein Mitglied des Marpinger Kapellenvereins nähert sich dem Trio mit einem Mikrofon und wird von Judith barsch zurechtgewiesen: „Jetzt nicht über die Lautsprecheranlage! Das wird später gemacht."
Sind die drei Seherinnen Opfer einer intensiven religiösen Fantasie, die sie sehen lässt, wovon sie zutiefst überzeugt sind? Oder schauen sie tatsächlich die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit? Sehen Christine, Marion und Judith überhaupt etwas? Oder wird in Marpingen geschummelt, manipuliert, suggeriert, fantasiert? Von einem Trance-Zustand der Frauen kann jedenfalls keine Rede sein. Nicht einmal von einer Gleichzeitigkeit des Erlebens. Judith Hilbert hat offenkundig keinerlei Sorge, etwas Wichtiges von den „Botschaften" zu verpassen, als sie während der Erscheinung den lästigen Mikrofon-Mann abwimmelt. Nur einer der drei Frauen ist eine gewisse Verzückung anzusehen. Zugleich krampfen sich Marion Guttmanns Finger derart um den Rosenkranz in ihrer Hand, dass das Blut unter der Haut deutlich hervortritt. Wie nach einem Drehbuch spielen sich die Seherinnen gegenseitig die Bälle zu, nehmen sich gegenseitig die Worte aus dem Mund. Ein Beweis gegen die Echtheit? „Nein", schüttelt der bekannte katholische Psychotherapeut und Pallottiner-Pater Jörg Müller, der das Geschehen fast hautnah verfolgt, den Kopf. Das Gegenteil sei der Fall: „Wenn das Ganze abgesprochen und inszeniert wäre, würde es niemals so perfekt ablaufen." Der zuständige Ortsbischof, der Trierer Oberhirte Hermann Josef Spital, erklärt den Fall Härtelwald zunächst zur „Chefsache".
Jede Art von Erklärung, ob pro oder contra Marienerscheinungen, fördere nur das Anliegen des Marpinger Kapellenvereins „Betende Familie e. V.", der das Bistum offenbar zur offiziellen Anerkennung der Vorkommnisse drängen wolle, lässt sein Sekretär Ulrich Graf von Plettenberg gegenüber der Presse verlauten. Nach seiner Rückkehr aus dem Sommerurlaub untersagt Spital in einer offiziellen Stellungnahme den „kirchlichen Verkündigern, in ihren Predigten von Marienerscheinungen im Härtelwald und Seherinnen zu sprechen". Außerdem kündigt der Bischof eine „sachliche und gründliche Prüfung" an, welche „Elemente und Strömungen zu den heutigen Vorgängen geführt haben". Spital wörtlich: „Der Härtelwald in Marpingen hat seine Geschichte, die auch sozialpolitisch und kulturgeschichtlich untersucht wurde. Obwohl die Kirche mehrfach eindeutig negativ zu den Ereignissen Stellung genommen hat und ihnen keine übernatürlichen Ursachen zuschreiben konnte, haben sich über viele Jahrzehnte hin Hoffnungen und unausgesprochene Erwartungen mit diesem Ort verbunden ... Ich werde deshalb als Bischof von Trier eine Prüfung veranlassen, die vor allem auch das geschichtliche und gegenwärtige Umfeld in den Blick nimmt." 1998 hatte sich der Harvard-Historiker David Blackbourn in seinem 700-Seiten-Buch „Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei" ausführlich mit Marpingen beschäftigt und dabei die Erscheinungen von 1876 in einen Zusammenhang mit dem preußischen Kulturkampf und den sozialen Verwerfungen jener Zeit gestellt. Seine Studie wurde allgemein hoch gelobt und fand in den deutschen Medien ein breites Echo.
Hans Neusius vom Referat für Weltanschauungsfragen im bischöflichen Generalvikariat kann sich kaum vorstellen, dass die vermeintlichen Marienerscheinungen unter Bischof Spital eine Chance hätten, jemals anerkannt zu werden. Persönlich sieht Neusius die Aktivitäten des Marpinger Kapellenvereins im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Millenniumswechsel. Dieser rufe bei vielen Menschen Endzeitvisionen hervor und werde daher von unterschiedlichsten Gruppen für ihre weltanschaulichen Zwecke eingesetzt: „Subtile Lebensängste von Menschen werden ausgenutzt, indem man ihnen einen Blick in den Himmel gönnt. Die sind dann unter den Auserwählten und wissen mehr." Für empfindsame und labile Menschen sei das sehr verführerisch. Auch der Marpinger Ortspfarrer Leo Hoffmann hat beobachtet: „Nach allem, was an Schrifttum im Umlauf war, ist es sicher so, dass hier apokalyptische Vorstellungen und Erwartungen mit einfließen." Die Leute, die zur Kapelle pilgern, sind seiner Einschätzung nach nicht der Durchschnitt des Kirchenvolkes, sondern „eine ganz bestimmte Auslese". Hoffmann könne und wolle der bischöflichen Untersuchung nicht vorgreifen, aber seiner Einschätzung nach handele es sich hier „um eine Inszenierung".
Der prominente Kirchenkritiker und Psychotherapeut Eugen Drewermann erstellt ohne eigene Anschauung Ferndiagnosen, die das Erleben der drei Frauen weitgehend auf die wahnhaften Folgen verdrängter Sexualität innerhalb der katholischen Kirche reduzieren: Die drei Frauen seien gefangen in ihrem katholischen Milieu, hin- und hergerissen zwischen ihren Bedürfnissen und den allgegenwärtigen Verboten, so dass ihre „innere Not in Form der Erscheinungen" aus ihnen gleichsam herausquelle. Kleiner Schönheitsfehler: Die „Seherinnen" von Marpingen sind keine pubertierenden Mädchen, sondern erwachsene Frauen und verheiratet. Pallottiner-Pater und Autor Jörg Müller („Warum erscheint Maria so oft?") spricht sich für psychologische und neurologische Tests ähnlich wie im bosnischen Erscheinungsort Medjugorje aus. Sie sollen klären, ob bei den Seherinnen etwa Simulation, Einbildung, Betrug oder Halluzinationen vorliegen. Aus seiner Sicht seien die Phänomene (welche?) in Marpingen „psychologisch nicht zu erklären"...
Die Lokalpresse amüsiert sich derweil über die Tatsache, dass die Gottesmutter „ihr Kommen in bester deutscher Tradition immer auf Tag und (fast) Stunde festlegt. Kenner der Heilsgeschichte bestreiten allerdings, dass sich himmlische Boten je an menschliche Stundenpläne gehalten haben". An den „Botschaften" falle zudem auf, dass diese inhaltlich wie ein bemühter Versuch klingen, die nicht anerkannte, inoffizielle Marpinger Pilgerstätte mit der Amtskirche zu versöhnen.
Bei den 8000 Pilgern hingegen ist die Frage nach der Glaubwürdigkeit der drei „sehenden" Frauen kein Thema: „Ich bin ein mariengläubiger Mann, und ich mag diese Stätte", sagt nach der 15-minütigen „Erscheinung" ein Besucher aus Neustadt. „Wenn die Frauen mir nicht geheuer wären oder wenn hier etwas nicht stimmte, würde das nichts an meinem Glauben an Maria ändern." Ein anderer meint lapidar: „Beten ist nie verkehrt." Per Lautsprecher wird das Tonband aus Judiths Diktiergerät abgespielt: „Benutzt das Gnadenwasser!" hallen die Botschaften der Gottesmutter mit Judith Hibers Stimme nun für alle Anwesenden weithin hörbar durch den Härtelwald. Am Ende diktiert Maria einen neuen Erscheinungstermin: „Ich komme wieder!" Außerdem werden in Kürze sogenannte „autorisierte Videokassetten und Tonbänder" zum Kauf angeboten. Die Seherinnen entschwinden eilends über einen der Rettungswege. Zahllose Hände strecken sich ihnen entgegen. Eine Frau drückt die immer noch lächelnde Marion an sich und küsst sie. Ein Strom von Pilgern ergießt sich in Richtung der etwa 500 Meter entfernten Gnadenquelle, Kanister und leere Flaschen in der Hand. Später wird in einer Frauenzeitschrift zu lesen sein, dass der international bekannte Tenor Mario Andretti durch das Marpinger Quellwasser von einer schweren Viruserkrankung geheilt worden sein will.
Wenige Tage danach: Bei einer Bürgerversammlung im Rathaus der 5200-Seelen-Gemeinde schlagen die Wogen hoch. Viele Marpinger gehen auf Distanz zu den Vorgängen um die Kapelle. Keine der drei „Seherinnen" stammt aus dem Ort; alle drei sollen unter dem Einfluss ihres 81 Jahre alten Beichtvaters stehen, der als deutsches Oberhaupt der rechtskonservativen „Marianischen Priesterbewegung" gilt. Der pensionierte Priester aus Saarwellingen-Reisbach bestimme angeblich das Verhalten der drei Frauen rund um die Erscheinungen wesentlich mit. Die detaillierten Anweisungen, zum Beispiel das Schellenzeichen bei der Ankunft der Muttergottes, seien von ihm erlassen worden. Außerdem soll der Geistliche seit langen Jahren ein Interesse daran haben, für Marpingen eine Anerkennung als Marienerscheinungsstätte zu erwirken.
Auch die Infrastruktur des Dorfes ist mit dem Pilgeransturm völlig überfordert. Jedesmal müssen Sonder-Parkplätze, Shuttle-Busse, Ordnungsdienste und Toilettenwagen organisiert werden. Die unmittelbaren Anwohner des Härtelwalds sind nach der zehnten „Erscheinung" ohnehin mit ihrer Geduld am Ende. „Ich hatte Angst, als die vielen Menschen hier waren", gibt einer zu Protokoll. Andere kritisieren den Lautstärkepegel der Pilger und das immense Verkehrsaufkommen um die kleine Kapelle am Ende der Wohnstraße. Auch die Einsatzfreude der Hilfskräfte sei nach fünf aufeinanderfolgenden, heißen Wochenende mit bis zu zehn Stunden Dienst rapide gesunken, fügt SPD-Bürgermeister Werner Laub an die Adresse des Kapellenvereins hinzu. An der Gnadenquelle hat die Gemeinde in der Zwischenzeit ein Warnschild „Kein Trinkwasser!" aufstellen lassen. Nach einer Analyse des Gesundheitsamtes St. Wendel entspricht das Quellwasser aus dem Härtelwald nicht den Vorgaben der Trinkwasserverordnung. Die festgestellten Erreger der Art Proteus vulgaris könnten Harnwegsinfektionen oder Durchfall verursachen.
Vehement lehnt Gottfried Schreiner, der Vorsitzende des 60-köpfigen Marpinger Kapellenvereins, eine Übernahme der Kosten für den Organisationsaufwand der Gemeinde ab. Auf DM 8000 bis 10 000 beläuft sich allein der Aufwand für die Beschilderungen, um den Autoverkehr in geordnete Bahnen lenken zu können. Schreiner sieht den Verein nicht als Veranstalter, denn die Erscheinungen seien seinem Glauben nach übernatürliche Phänomene. Gleichwohl dies für ihn bereits festzustehen scheint und er laut von einem „deutschen Lourdes" träumt, fordert er von den Skeptikern: „Bitte bilden Sie sich erst nach dem Ende der Erscheinungen ein Urteil." Diese sind von der Muttergottes von vornherein auf 13 begrenzt worden.
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 4/1999.