Verbraucherschutz ist für die EU eine Priorität. Die Richtlinie 2005/29/EC definiert und verurteilt unfaire Verkaufspraktiken jedweder Art, irreführende Werbung und aggressive Verkaufsmethoden. Auch die Gesundheit ist eine Priorität, was zur Schaffung der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz geführt hat, welche die Aufgabe hat, „dazu beizutragen, die Gesundheit und Sicherheit sowie das Verbrauchervertrauen der europäischen Bürger zu stärken; Gesetze zur Sicherheit von Nahrungsmitteln und anderer Produkte zu erlassen; und zu prüfen, ob die Regularien von den Mitgliedsstaaten ordnungsgemäß angewandt werden“.
Diese EU-Richtlinie ist klar: Jede Behauptung zur Behandlung oder Heilung einer Krankheit oder Missbildung wird als unfair oder irreführend angesehen [1], wenn das Produkt nicht als Arzneimittel registriert ist und keine hinreichenden Belege für seine Wirksamkeit und andere Behauptungen vorgelegt und von der EU oder nationalen pharmazeutischen Behörden anerkannt sind.
Hersteller von Lebens- und Nahrungsergänzungsmitteln dürfen behaupten, dass die Mittel der Gesundheit förderlich sind oder das Krankheitsrisiko vermindern, jedoch nur wenn die Formulierungen belegt sind und der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) vorgelegt und von ihr zugelassen wurden. Hunderte solcher Behauptungen sind bislang als unbegründet oder irreführend abgelehnt worden [2]. Bei korrekter Umsetzung der Richtlinie sollten alle Falschbehauptungen bis 2011 eliminiert sein.
Arzneimittel werden schon seit viel längerer Zeit reguliert. Die erste strenge EU-Regulierung stammt von 1965 (Richtlinien 65/65/EEC, 75/319/EEC, 89/341/EEC). Ein Arzneimittel kann auf nationaler oder EU-Ebene bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) registriert werden. Alle Mitgliedsstaaten müssen medizinische Produkte, die in anderen Ländern zugelassen sind, ebenfalls zulassen. Seit 1965 muss jede Behauptung zur Heilung oder Linderung von Symptomen oder Krankheiten solide belegt sein, was zur Folge hatte, dass tausende „traditioneller“ Produkte aufgrund fehlender Wirksamkeit und Sicherheit aus europäischen Apotheken verschwunden sind. Dieses System hat lange Jahre ganz gut funktioniert, auch wenn es immer noch verbesserungsfähig ist.
Doch im Jahre 1992 votierte das EU-Parlament für eine kuriose Ausnahme beim Schutz vor falschen Behauptungen. In der EU-Richtlinie 92/73/EEC wurde die Anforderung der nachgewiesenen Wirksamkeit für eine spezielle Produktgruppe aufgehoben: homöopathische und anthroposophische Heilmittel. Zitat:
„Art.7, §4. Die Kriterien und Regeln des Verfahrens nach den Artikeln 5 bis 12 der Richtlinie 65/65/EWG sind mit Ausnahme des Nachweises der therapeutischen Wirksamkeit auf das besondere vereinfachte Registrierungsverfahren für homöopathische Arzneimittel entsprechend anwendbar.“
Eines der in der Richtlinie genannten Motive für diese Entscheidung lautete: „Angesichts der Besonderheiten dieser Arzneimittel, wie etwa ihrer sehr geringen Wirkstoffkonzentration, und der Schwierigkeit der Anwendung der herkömmlichen statistischen Methoden [3] bei klinischen Versuchen…“. Ein allgemeines Argument in der Debatte war, dass „die homöopathische Behandlung so stark individualisiert ist, dass es unmöglich ist, ein Produkt mit einer bestimmten Krankheit in Verbindung zu bringen.“ [4]
Die Konsequenzen dieser Richtlinie sind, dass homöopathische medizinische Produkte (HMP) von den Mitgliedsstaaten registriert werden müssen, selbst wenn sie nichts weiter als Zucker oder Wasser enthalten. Sie müssen nicht einmal Angaben zu Gewicht oder Volumen des Inhalts machen. Angaben zum ersten Tropfen der Urtinktur und die Zahl der Verschüttelungen und Verdünnungen genügen.
Da solche HMPs durch die Arzneimittelgesetzgebung reguliert werden, unterliegen sie nicht den Regeln für Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel, vielleicht entgehen sie sogar den Gesetzen gegen unlauteren Handel.
In der Originalfassung der Richtlinie von 1992 unterlagen HMPs einigen strengen Auflagen: Es war nicht gestattet, Krankheiten oder Markennamen zu nennen. Es war erforderlich, dass der Inhalt stark verdünnt und ein Warnhinweis angebracht war, der besagte: „Produkt ohne wissenschaftlich belegte Indikation“. Diese Auflagen wurden von der homöopathischen Industrie schnell umgangen. Es wurde ihr gestattet, Komplexmittel auf den Markt zu bringen, d.h. eine Mischung aus verschiedenen HMPs, mit Markennamen, die doch auf bestimmte Krankheiten Bezug nehmen. Auch dürfen Werbeprospekte mit medizinischer Indikation verteilt werden. Nichts davon erfordert einen Wirksamkeitsnachweis.
Das Argument, welches die Ausnahme in der Regulierung überhaupt erst ermöglicht hatte, nämlich dass Homöopathie eine stark individualisierte Medikation erfordere, wurde völlig vergessen, aber es hatte seinen Zweck erfüllt.
Weitere Ergänzungen der Richtlinie öffneten noch mehr Hintertüren: spezielle Registrierungen, die „nationale Traditionen“ berücksichtigen; die Schaffung einer „speziellen Kategorie von Homöopathika mit Indikation“, die aber immer noch keinen Wirksamkeitsnachweis vorweisen müssen. Dieses Gesetz wurde in den Niederlanden „im Interesse der homöopathischen Exportindustrie“ erlassen. Konzentrierte Urtinkturen, von denen einige sehr gefährlich sind, werden als homöopathische Arznei ausgegeben und verkauft.
Dadurch und durch die Richtlinie 2004/27/EEC wurde der Verbraucherschutz noch weiter ausgehöhlt. Die Verkäufer von HMPs dürfen nun sogar Krankheiten oder Symptome nennen, wenn es dafür eine „traditionelle“ homöopathische Anwendung gibt. „Angemessene Literaturangaben“ genügen als Beleg, ohne dass klar wäre, was genau das heißt. Seit 2004 sind alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, spezielle pharmazeutische Komitees zur Registrierung solcher HMPs einzurichten. Echte Pharmakologen müssen dort mit Homöopathen zusammensitzen und sind verpflichtet, „Arzneien“ zu registrieren, die nichts als Wasser, Alkohol oder Zucker enthalten, und sie müssen die „traditionelle Anwendung“ als medizinische Indikation registrieren. Verschiedene wissenschaftliche Organisationen und nationale Wissenschafts- oder Medizinakademien haben gegen derartige Absurditäten protestiert. Die Behörden verweisen jedoch auf das Gesetz, selbst wenn damit Pseudowissenschaft und eine potentielle, teils schwere, Schädigung der Patienten legalisiert wird. Des Kaisers neue Kleider werden nun per antiwissenschaftlichem Gesetz definiert.
Des Weiteren verpflichtet die Richtlinie dazu, dass die EU-Arzneibücher ein eigenes Kapitel über Homöopathie enthalten. Dort lesen wir, dass ein Unterschied zwischen dem Lösungsmittel und dem HMP mittels der Analysemethoden der Allopathie nicht festgestellt werden kann!
Dabei wird vergessen, dass dieser Unterschied bei Hochpotenzhomöopathika [5] von niemandem festgestellt werden kann: weder von Homöopathen noch von Hellsehern noch durch andere Methoden. Die Behauptungen der Homöopathieanhänger, dass Wasser, Alkohol oder Zucker ein Gedächtnis habe, ist wissenschaftlich immer noch unbelegt. Die Belgischen Skeptiker haben einen Preis von 10.000 Euro für den Nachweis eines Wassergedächtnisses ausgelobt, und auch die 1-Million-Dollar-Challenge der James Randi Educational Foundation steht dazu zur Verfügung. Vor einigen Jahren wurde im Rahmen einer Kampagne von Homöopathen behauptet, sie wären in der Lage, Lösungsmittel und HMP zu unterscheiden. Diese Behauptung wurde von dem BBC-Programm Horizon getestet. Im Erfolgsfalle hätten sie den 1-Million-Dollar-Preis gewonnen, doch sie scheiterten.
Es ist nicht meine Absicht, denen ihr Lieblingsheilmittel wegzunehmen, die an magisches Wasser glauben. Wir fordern aber die Mitglieder des Europäischen Parlaments auf, darüber nachzudenken, ob es ethisch vertretbar ist, Produkte als Arzneien zu verkaufen, die durch keine Methode vom reinen Lösungsmittel, sei es Wasser oder Alkohol, oder von Zucker als Trägersubstanz zu unterscheiden ist. Auch im Hinblick darauf, dass niemand überhaupt zwei verschiedene homöopathische Hochpotenzen unterscheiden kann [6], fordern wir alle auf zu überlegen, ob es akzeptabel ist, solche Produkte unter verschiedenen Namen und für verschiedene Indikationen zu verkaufen.
Wir fordern also unsere Europaabgeordneten auf, sich auf ihre Verantwortung zu besinnen, die Bürger zu schützen, indem sie diese inakzeptablen Lücken im Verbraucherschutzgesetz schließen, welche es ermöglichen, die Regeln für Lebensmittel und Ergänzungsmittel und für medizinische Produkte zu umgehen. Wir brauchen einheitliche Regeln zum Schutz von Verbrauchern und Patienten, keine Sonderregeln zum Schutz bestimmter Industrien.
- Wenn HMPs Arzneien sind, sollten sie denselben Bestimmungen unterliegen wie alle anderen Arzneien.
- Wenn HMP als Lebensmittel oder Lebensmittelzusätze betrachtet werden, was wir empfehlen, dann müssen auch hier alle Regeln für diese Kategorie zur Anwendung kommen: Jede Behauptung muss zuerst von der EFSA anerkannt werden.
Ob als Lebensmittel oder Arznei: auf dem Etikett müssen alle Inhaltsstoffe mit ihrem anerkannten chemischen oder biologischen Namen aufgeführt sein, angegeben in verifizierbaren Gewichts- oder Volumeneinheiten. Der homöopathische Name des Ausgangsstoffs, die Zahl der Verdünnungen und Verschüttelungen können auch angegeben werden, vorausgesetzt sie führen den Verbraucher nicht in die Irre.
Die Angabe, dass das Produkt irgendwann einmal von irgendjemandem für eine spezifische Indikation verwendet wurde, kann als Wirksamkeitsnachweis nicht akzeptiert werden. Dies könnte als Präzedenzfall für andere antike oder Volksheilmittel dienen, wodurch man beliebigen anderen Wünschen Tür und Tor öffnet.
Prof. Dr. Willem Betz (Freie Universität Brüssel; Belgische Skeptiker SKEPP, 07.01.2011)
Übersetzung: Dr. Martin Mahner
Anmerkungen
[1] Anhang I der Richtlinie umfasst eine Liste kommerzieller Praktiken, die unter allen Umständen als unfair betrachtet werden: Nr.17 – Fälschlicherweise behaupten, dass ein Produkt eine Krankheit, Dysfunktion oder Missbildungen heilen kann.
[2] Listen mit abgelehnten Behauptungen findet man HIER.
[3] Die Aussage, dass „herkömmliche statistische Methoden“ nicht auf die Homöopathie anwendbar sind, erscheint absurd. Was hindert sie daran, zu zählen, wie viele Patienten durch eine homöopathische Behandlung Besserung erfahren haben (oder nicht) im Vergleich zu den Patienten in einer Kontrollgruppe, denen es besser ging (oder nicht)? Die gleiche unsinnige Formulierung findet sich in verschiedenen EU-Dokumenten über die Homöopathie, auch in den Arzneibüchern.
[4] Der letzte Satz ist eine Zusammenfassung des Autors, kein Originalzitat.
[5] Das heißt, bei Verdünnungen über D24 oder C12. Viele Produkte sind jedoch praktisch unendlich verdünnter.
[6] wenn sie mit demselben Lösungsmittel oder denselben Globuli hergestellt wurden.
Lesen Sie zum selben Thema bei den Skeptikern:
- Homöopathie - nichts drin, nichts dran! Die 10:23-Aktion
- Stichworte "Homöopathie" und "Komplementär- und Alternativmedizin (CAM)" im Weblexikon
- Fragen und Antworten zur Homöopathie
- Homöopathie - Der Ursprung (Samuel Hahnemann)
- Homöopathie - Eine Revolution der Physik? (Skeptiker 3/2001)
- Homöopathieforschung an der Universität Leipzig (Skeptiker 3/2005)
- Ist Homöopathie mehr als Placebo? Die fehlende Beweiskraft einer sogenannten Meta-Analyse (Skeptiker 1+2/1999)