Natalie Grams
Ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen
Springer Verlag 2017, 336 S., ISBN 978-3-662-54799-1, Print € 19,99, eBook € 14,99
Brauchen Skeptiker dieses Buch? Ja. Weil jeder von uns Bekannte, Freunde oder Verwandte hat, die ihre Entscheidungen auf „gefühlte Gesundheitswahrheiten“ stützen und sich von unseren faktenbasierten Einwänden nicht überzeugen lassen wollen. Genau diese Menschen spricht das Buch an: „Haben Sie Erfahrung mit besonderen Methoden innerhalb oder außerhalb der Medizin gemacht? (...) Sind Sie frustriert oder enttäuscht von der normalen Medizin und meinen, dass sie außer Chemie und Fortschrittswahn nichts zu bieten hat?“, fragt die Autorin einleitend.
Ihr gelingt das Kunststück, mit klarer Sprache und ihrer verständnisvollen, empathischen Haltung Leser und Leserinnen anzusprechen und für die Grundlagen guter Medizin zu interessieren: Der fließende Text zieht einen immer weiter. „Eigene Erfahrungen sind jedem unbenommen“, schreibt die Ärztin, die sich auch mit persönlichen Erfahrungen einbringt, „…[sie] sind jedoch (egal, wie überzeugend sie sich auch anfühlen) nicht geeignet, um über die allgemeine Wirksamkeit einer Therapie zu entscheiden.“
Heile Scheinwelt
Am Beginn stehen entsprechend die Kapitel Wissenschaft, Erfahrungswissen, Pseudowissenschaft, gefolgt vom Thema Evidenzbasierte Medizin. Bald wird klar, dass Wissenschaft kein Glaubenssystem ist – wie so oft argumentiert wird – sondern ein überprüfbares System, das auf mystisches Denken verzichten kann, das offen ist für neue Erkenntnisse. Und dass Pseudomedizin auf Behauptungen ohne Belege beruht.
Die Autorin entlastet Laien, die den feinen Unterschied nicht erkennen: „Das gelingt ja nicht einmal mir als Ärztin auf Anhieb!“. Sie zeigt, dass die Evidenzbasierte Medizin aussortiert, was nicht funktioniert, und verbessert, was nicht optimal ist: "Es geht um die Kombination von ärztlichem Wissen und ärztlicher Kunst.“ Einfach wird erklärt, was seriöse Studien auszeichnet, wie Werbetexte die Inhalte verzerren, wie Publikationsmüll entsteht, was Wissenschaft für das öffentliche Gesundheitswesen bedeutet und warum das Misstrauen nicht gerechtfertigt ist.
Demgegenüber wird die „heile Welt“ der Alternativen dargestellt, die Falschinformation und simple Erklärungen anbietet und mit Schlagworten und metaphorisch mit Wissenschaftsbegriffen jongliert, was allesamt Emotion anspricht. Warum „Besondere Therapieverfahren“ aus der Überprüfung ausgenommen sind, und warum sie ein besonders positives Image haben, wird deutlich gemacht. Es ist „die Macht der Behauptung“: Je öfter sie wiederholt wird, desto mehr wird sie „wahr“. Einige zusätzliche Methoden, wie TCM, Schüßler-Salze, Bach-Blüten, Orthomolekulare Medizin, Osteopathie und (nicht ganz einsichtig, weil seltener) Spagyrik – werden genauer besprochen.
Sehr gut das kritische Kapitel zur Krankheitssymbolik, deren Glaubensvorstellungen falsch sind und vielen doch glaubwürdig erscheinen, sowie zu Entspannungsmethoden und Yoga, die Patienten die wichtige Chance bieten, „selbst etwas tun zu können“. Ein Fazit fasst jeden Abschnitt kurz und bündig zusammen. Mit der Warnung vor Auswüchsen, wie der Neuen Germanischen Medizin oder MMS, dem Spezialthema Impfgegnerschaft und einer umfassenden Darstellung des Heilpraktiker-Unwesens endet dieser Teil über „Alternativen“. Er bietet sehr gute Argumente für Diskussionen, wenn auch nicht viele neue Informationen für Skeptiker.
Systemfehler der Pseudomedizin
Neu mag vielen der Blick über das Gesundheitswesen mit Zahlen und Fakten sein. Wer weiß schon, dass die Zahl der Behandlungsfälle in Deutschland jedes Jahr in die Milliarden geht, die Fehlerquote aber im Promillebereich liegt? Grams stellt Fehler, die einzelnen Ärzten anzulasten sind – und nicht „der Medizin“ – den Systemfehlern der Pseudomedizin gegenüber, vergleicht die lange Ausbildung, die Kontrollinstanzen und Qualitätssicherung in der Medizin mit dem laienhaften Heilpraktikerberuf und dem Patientenrisiko in der Alternativszene. An dieser Stelle findet die Autorin – wie so oft – ein gutes Bild für die Problemstellung: „Möchten Sie mit einem Piloten fliegen, der keine Ausbildung hat, der aber mindestens 25 Jahre alt ist, über den Hauptschulabschluss verfügt und keinen Eintrag bei der Polizei hat?“
Verbesserungsideen für die Medizin
Aber sie spart auch nicht mit Kritik am Medizinwesen: an mangelnder Ausbildung für und die mickrige Bezahlung von Arztgesprächen: Immerhin werden heute 80 Prozent der Patientenbeschwerden als somatoforme Beschwerdebilder eingestuft, bei denen das Gespräch Heileffekte hat. Sie lüftet den Vorhang der komplizierten Zusammenhänge in der Struktur des Gesundheitswesens, der Zulassung, Preisgestaltung und Sicherheit von Arzneimitteln, dem Marketing der Pharmaindustrie – von der Konsumenten einen besonderen „Altruismus“ fordern, der in keinem anderen Geschäftszweig zu erwarten ist. Sie nennt Krankenkassenprobleme und das Risiko, privat versichert zu sein, und vieles anderes mehr, das Patientenunzufriedenheit auslöst.
Sehr angenehm wirkt die immer realistische Haltung der Autorin, die auf Skandalisierung verzichtet, Schlagwörter zurechtrückt und immer die Balance zwischen berechtigter Kritik und legitimer Anerkennung hält. Das gilt auch für das Kapitel über Medikamente und ihre Nebenwirkungen: „Das eine ist nicht ohne das andere zu bekommen.“ Grams klärt über Studien auf, hinterfragt die Floskel „Natur gegen Chemie“; sie rückt den „tröstenden Effekt der Placebobehandlung“ ins rechte Licht, erklärt den natürlichen Selbstheilungseffekt, der „geschickt von der Alternativmedizin gekapert und kommerzialisiert“ worden ist, und zeigt mit eindrucksvollen Beispielen Möglichkeiten und Grenzen des Placebos, das ein „offenes Scheunentor für Fehldeutungen“ sei.
Sie kritisiert Marketingmethoden und Profitdenken im etablierten wie im grauen Medizinbereich. Erst dann, wenn die Zusammenhänge aufgedeckt sind, widmet sich die Autorin dem Thema Selbstverantwortung und Prävention: Ernährung und Bewegung, Genussmittel und Vorsorge, Stress und – Glück. Am Ende steht das Plädoyer für eine vernünftige Medizin. Für die Entscheidung einer Therapie sollte der Arzt rationale, überprüfbare, nachvollziehbare Argumente haben: Medizin ist „keine Seelsorge, keine Wellness.“ Aber die Autorin zieht aus ihrer Arbeit auch den Schluss, „dass wir den täglichen Medizinbetrieb und unser Gesundheitssystem dringend verbessern müssen, sodass Patienten sich gar nicht erst nach einer Alternative dazu umsehen müssen.“ Und damit auch keine „medizinische Parallelwelt entsteht“, bietet sie schließlich auch Verbesserungsideen an.
Jedes Kapitel ist mit einer eindrucksvollen Liste der Quellen ausgestattet, Abkürzungen werden erklärt, ein Stichwortverzeichnis erleichtert das Nachlesen. Worüber Leser korrekt informiert werden: dass das Buch in Teilen aus Blogbeiträgen entstanden ist, und auch in Artikeln des Informationsnetzwerkes Homöopathie erstveröffentlicht wurde, ist beim Lesen kaum zu merken – sie passen sich in den Duktus des Buches gut ein. Nur manchmal schlagen schwer verständliche fachspezifische Formulierungen durch, wie etwa im sehr breit geratenen Kapitel über naturwissenschaftliches Denken. Doch gleich darauf wird es mit anschaulichen Beispielen wieder allgemein verständlich: „Naturgesetze sind nicht verhandelbar (…) wir sind an sie gebunden (…) wir setzen uns nicht auf einen Teppich in der Hoffnung damit fliegen zu können“. Ist es die Wirkung des Buchs oder Nebenwirkung? Jedenfalls vertreibt diese Lektüre Illusionen.
Krista Federspiel