Teil 1
Udo Endruscheit
Der Titel bedarf vorab einer Erklärung. Die grundlegendste Parallele zwischen Homöopathie und Akupunktur liegt darin, dass beiden einerseits eine Plausibilität der Methoden fehlt, sie andererseits in eine Aura wissenschaftlicher Anmutung gehüllt werden, die als Rechtfertigung für den ständig erhobenen Anspruch auf medizinische Relevanz und eine Rolle im Gesundheitssystem dienen soll und den Methoden eine erstaunliche Reputation verschafft hat. Nun ist Homöopathie zwar nach wie vor präsent, aber auf dem Rückzug. „Wirkt nicht über den Placeboeffekt hinaus“ ist zum geflügelten Wort geworden. Akupunktur dagegen scheint einen Aufschwung zu erleben, der Dr. Harriet Hall („SkepDoc“) vor einiger Zeit zu einem Artikel veranlasst hat. Der Titel: „Is Acupuncture Winning?".
Nun ist es bei der Homöopathie auf der empirischen Seite recht klar. Sie versteht sich als spezifische Arzneimitteltherapie und will ihrerseits von psychotropen Effekten wie Placebo absolut nichts wissen. Nun, daran muss sie sich messen lassen. Ob eine physiologische Wirkung eines Arzneimittels über Kontexteffekte hinaus spezifisch
und reproduzierbar vorliegt, kann mit dem statistischen Messinstrument guter klinischer Studien mit hinreichender Sicherheit belegt werden, vor allem, wenn diese auch in Arbeiten der höchsten Evidenzklasse (Reviews und Metaanalysen) kritisch bewertet wurden.
Dies ist bei der Homöopathie der Fall. Dass sie damit über Jahrzehnte gescheitert ist, leugnen nur noch ihre Verteidiger. Anders stellt sich die Ausgangslage bei der Akupunktur dar. Sie ist ja keine Pille, die man schluckt und relativ schnell vergisst, sondern immerhin eine invasive Intervention, die physiologisch spürbar ist (manchmal deutlich), für die man sich einem umfangreichen Setting unterzieht und die durch all das schon von vornherein eine erhebliche Erwartungshaltung hervoruft. Das Flair des Exotischen, der „Weisheit des Ostens“, tut das Seine.
Einerseits wirken diese Faktoren auf empirische Beweisversuche begünstigend, weil es eine Vielzahl von Ursachen geben kann, die eventuell zu einer gefühlten und dann scheinbar gemessenen „Wirkung“ beitragen. Andererseits relativieren sie die Empirie stark, weil die Vielzahl von Ursachen nicht zwangsläufig etwas mit einer spezifischen – intrinsischen – Wirkung der Akupunktur zu tun haben muss. Eine Gemengelage. Und: Nebenwirkungsfrei ist die Akupunktur keineswegs (der Autor hat einen nicht folgenlosen Fall eines akupunkturinduzierten Pneumothorax aus nächster Nähe miterlebt), auch insofern hat sie physiologische Relevanz.
Es soll hier der Versuch unternommen werden, einen umfassenden skeptischen Blick auf die Akupunktur zu werfen, auf die Historie, die Rezeption, auf Plausibilität und Kohärenz der Grundlagen und auch die Empirie. Am Schluss sollte auf dieser Basis ein gesichertes Fazit möglich sein, auch ohne den Gesamtbestand der empirischen Literatur en détail aufgearbeitet zu haben. Der vorliegende erste Teil widmet sich der Historie und der Rezeption, während der zweite Teil auf Plausibilität, Kohärenz und Empirie eingehen wird.
Alt ist – eben alt
Akupunktur trägt das Etikett des „alten Wissens“, dem per se Glaubwürdigkeit zukommen soll. Die Geschichte der Akupunktur und ihre Rezeption im Westen sind aber Musterbeispiele dafür, wie wenig stichhaltig eine Berufung auf „altes Wissen“ ist. Das fängt schon damit an, dass die Vorstellung einer kontinuierlichen, lange zurückreichenden Tradition nicht zutrifft. Der Ursprung dieser Lehren, ihre ursprüngliche Intention und ihre Veränderung im Laufe der Zeit – bei der Akupunktur Jahrtausende – sind nicht mehr wirklich feststellbar und vor allem nicht valide bewertbar. Man scheitert bereits an der Zuordnung der Behandlungen zu ausreichend bestimmten Krankheitsbildern, da diese in früheren Zeiten nur sehr unklar definiert wurden, sofern überhaupt brauchbare Aufzeichnungen existieren.
Schon vor Beginn unserer Zeitrechnung wurde die Akupunktur in Japan und Korea adaptiert – und natürlich auch variiert, vor allem in Japan, wo sich eine eigene Schule etablierte. Zur Verklärung der Überlieferung gehört auch, dass vom „alten Wissen“ stets nur solche Elemente adaptiert werden, die hier und heute soziokulturell akzeptabel erscheinen, während allerlei Unappetitlichkeiten, die systemisch ebenso zum „alten Wissen“ gehören, ausgeblendet werden. Die Beispiele sind zahlreich. Auch dies zeigt, dass soziokulturelle Faktoren bis heute mehr zur Adaption von TCM / Akupunktur im Westen beitrugen als die wissenschaftliche Beleglage.1 Dass die Versuche, eine solche zu etablieren, in der Ära der evidenzbasierten Medizin stark zugenommen haben, ist zwangsläufig und dem Verlangen zuzuschreiben, für die eigene Methode wissenschaftliche Reputation zu erlangen.
Eine weitere klare Parallele zur Homöopathie. Praktiziert wurde die Akupunktur ursprünglich von Heilern, die ihre Kenntnisse innerhalb von Familienverbünden weitergaben und schon vor zweitausend Jahren begannen, ihre jeweils eigenen Lehren zu pflegen. Selbst das, was wir aus uns näher liegenden Zeiten nachzeichnen können, ist nicht konsistent widerspruchsfrei oder gar eindeutig zuzuordnen. Dies ist ein Grund, weshalb heute von einer Überlieferung gar keine Rede sein kann, zwei weitere spezielle Gründe werde ich unten erläutern.
Eklektizismus
Die heutige Akupunktur ist ein ausgesprochen eklektizistisches System, wozu ihre Rezeption im Westen wie auch der Umgang mit ihr im China der Mao-Zeit erheblich beigetragen haben. 1929 erschien das Buch Die Chinesische Medizin zu Anfang des XX. Jahrhunderts und ihr historischer Entwicklungsgang von Franz Hübotter, der
sich zur Aufgabe gemacht hatte, möglichst viele Quellen, Varianten und Deutungen der Akupunktur zu sammeln. Vermutlich wollte er damit für die Akupunktur werben und Handreichungen bieten. Ein Beleg für Konsistenz der Methode ist das natürlich nicht. Vielmehr können, wie Otto Prokop (1979) anmerkt, „die modernen Akupunkturärzte darin genügend Hinweise finden, welche ihnen Entschuldigungen beim Versagen der Nadeltherapie liefern“. In der Tat, Vielfalt in Form von Beliebigkeit beeindruckt viele, erklärt manches und entschuldigt alles, ein Prinzip in der Pseudomedizin.
Folgerichtig war der Weg der (erneuten) Rezeption im Westen des 20. Jahrhunderts nicht etwa eine Klärung der Spezifika der Akupunktur und deren Validität, sondern ein weiteres Ausufern der Varianten. Das brachte solche Kuriositäten hervor wie die sogenannte Aurikulotherapie (Ohr-Akupunktur), die erst im 20. Jahrhundert in Europa erfunden wurde und heute selbst in China von manchen für Traditionelle Chinesische Medizin gehalten wird. Der Begründer dieser Lehre, der französische Arzt und Professor für physikalische Medizin Paul Nogier (1908 – 1996), begründet seine Idee der Ohr-Akupunktur damit, dass er in der Form des Ohres einen kopfstehenden menschlichen Embryo erkenne, von dem er die organwirksamen Punkte nur abzulesen brauche (Nogier 1978). Wobei das Erfordernis höchster Präzision eindringlich beschworen wird (Wirz-Ridolfi 2019). Alte fernöstliche Weisheit, ah ja. Jedenfalls eine Idee, die sich dem mystischen Analogiedenken früherer Zeiten würdig beigesellt.
Nogiers Methode hindert allerdings zahlreiche Akupunkteure, die am Ohr arbeiten, natürlich nicht daran, diese zu ignorieren und gänzlich andere Punkte und Organverbindungen anzunehmen. Nogiers Modell wird auch variiert, manche Akupunkteure glauben, im Ohr „je nach Bedarf“ ein Abbild einzelner Körperteile zu erkennen.Zu nennen wäre als Derivat der Akupunktur noch das „Baunscheidtieren“, die sogenannte „deutsche Akupunktur“, auch wenn deren Schöpfer zeitlebens auf der Einzigartigkeit seiner Methode bestand und diese durchaus nicht als entfernte Cousine der Akupunktur verstanden wissen wollte. Eine eher abstruse Methode, die nach dem Motto „Viel hilft viel“ mit einem ganzen „Stechapparat“ namens „Lebenswecker“ hantierte. Selbst diese Wunderlichkeit löste einen Hype aus und wurde eine Zeitlang sogar international bekannt. Bis heute hat das Baunscheidtieren als Methode von Heilpraktikern überlebt – und auch so manche scheinwissenschaftliche Deutung erfahren.
Ein weiteres Beispielist die sogenannte Master-Tung-Akupunktur, die angeblich in einer Familie auf einigermaßen legendäre Art und Weise aus grauer Vorzeit getreulich bis ins 20. Jahrhundert überliefert wurde und wozu sogar schriftliche Aufzeichnungen vorhanden gewesen sein sollen. Leider ist all das aufgrund unglücklicher Umstände verlorengegangen oder nicht mehr nachvollziehbar, sehr bedauerlich. Der letzte zum Akupunkteur berufene, „Master Tung“ genannte, Familienangehörige soll abervor seinem Tod im Jahre 1975 noch etliche Akupunkteure in seiner Lehre ausgebildet haben. Diese Variante erfreut sich im Westen einiger Aufmerksamkeit und zeichnet sich durch außerordentlich viele recht komplexe Spezifika aus, was sich nicht so recht mit ursprünglichen Überlieferungen vereinbaren lässt.Beispielsweise beinhaltet sie auch das sogenannte „blutige Nadeln“, womit auf drastische Weise ein Blutabfluss an den Akupunkturpunkten erzeugt wird, da Tung irgendwie den Blutfluss und das Fließen der imaginären Lebensenergie Qi verbunden sah.2
„Meridiane“ auf der Körperoberfläche sind, ebenso wenig wie die dort aufzusuchenden „spezifischen Akupunkturpunkte“, jemals nachgewiesen worden, trotz zahlreicher Unternehmungen mit verschiedenen Ansätzen. Auch kein sonst irgendwie geartetes Agens, das vielleicht nicht anatomisch direkt, aber durch reproduzierbare Vergleiche über seine Wirkungen indirekt belegbar wäre. Es gibt ja auch keine verbindlichen Festlegungen, was bei der geschilderten Historie der Methode kaum verwunderlich ist. In einigen Lehren sollen die Akupunkturpunkte supergenau lokalisierbar sein, anderen zufolge je nach individueller Anatomie innerhalb von „Zonen“ erst gefunden werden. Die Zahl der verfügbaren unterschiedlichen „Akupunkturkarten“ (kompiliert ohne Vollständigkeitsanspruch bei Hübotter) lässt eigentlich nur den Schluss zu, der ganze Körper müsse mehr oder weniger lückenlos mit Meridianen und Akupunkturpunkten bedeckt sein.
Vorgänger der Meridiane waren die wohl dreidimensional imaginierten „Kanäle“, in denen das Qi als ein regelrechtes Substrat zirkulieren sollte. Die zweidimensional vorgestellten Meridiane mit ihren Punkten sind insofern eine Art Sublimierung dieser alten Vorstellungen, nachdem das Substrat nicht gefunden werden konnte. Man darf sich diese Sublimierung vielleicht ganz ähnlich vorstellen wie die Entwicklung der „Potenzierung“ in Samuel Hahnemanns Homöopathie, wo er aufgrund der Toxizität von „allopathischen“ Dosen zur Verdünnung überging und meinte, auf diese Weise bessere Erfolge erzielen zu können. Woraufhin er jede materielle Vorstellung von seinen
Heilsubstanzen über Bord warf und die „geistige Arzneikraft“ kreierte – auch ein esoterisch fundiertes Sublimat der nicht haltbaren Ursprungsvorstellung.
Heutige Lehr- und Praxisinhalte, die mit einer gewissen Absolutheit eine konkrete Meridian- und Punktegeografie vertreten, dienen wohl eher dem eigenen Wunsch nach einem „festen Grund“ für die Praxis, also einer gewissen Selbstrechtfertigung. Wieder sehen wir eine Analogie zur Homöopathie: Auch dort ist man mit dem Unbestimmten“ der Mittelfindung nicht so recht zufrieden, sucht nach einer „verlässlichen Basis“, was zahlreiche Ansätze zu einer Scheinobjektivierung hervorgebracht hat. Was man unter diesen Umständen von dem oft gehörten Ratschlag halten soll, man möge sich nur an „erfahrene und gut ausgebildete“ Akupunkteure wenden,
mag man im Lichte des Vorstehenden betrachten.
Zu Zeiten der „heroischen Medizin“ des 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit ihren schmerzhaften Behandlungsmethoden nahm man die Sache mit der Akupunktur im aufgeklärten Westen durchaus drastisch in Angriff, die „Durchbohrung“ kompletter Körperteile war nicht ungewöhnlich (was auch in China zeitweilig gang und gäbe war). Dass Gesundheit „sanft und natürlich“ zu haben sei, ist erst zur – dann allerdings durchwirkenden – Sichtweise geworden, als Samuel Hahnemann damit seine Homöopathie als Alternative zur heroischen Medizin vorstellte. Vorher war es eine gewisse Selbstverständlichkeit, dass, wer gesund werden wollte, leiden müsse. Dieser Gedanke findet sich übrigens in der „Begleitphilosophie“ zur bereits erwähnten Master-Tung-Akupunktur wieder.
Den denkbar größten Gegensatz liefern auf der einen Seite „traditionelle“ chinesische Meridianskizzen, die meist gänzlich unregelmäßige, physiologisch nicht deutbare Verläufe zeigen, und andererseits heutige Ideen, die die Meridianverteilung gar als „regelmäßiges Netz von Koordinaten, entsprechend den Linien radiästhetischer Felder auf der Erdkugel“ (nach Prokop, Dotzauer a. a. O.) verstehen wollen. Dies wirft einen bezeichnenden Blick auf die soziokulturelle Adaption der Methode, denn es verdeutlicht den Unterschied zwischen intuitiv gewonnenem Erfahrungswissen im östlichen und dem Hang zu Systematisierung und logischer Grundlegung im estlichen Kulturraum.
Erstaunen ruft hervor, wie selbst Veröffentlichungen mit wissenschaftlichem Anspruch leichthin über diese Zerstückelung der Überlieferung hinweggehen. Man liest einfach, die lange Überlieferung sei eben der Grund für die vielen Meridian- und Punktelehren. Punktum! Sollte daraus nicht eigentlich eine kritische Schlussfolgerung resultieren? Auch der schon erwähnte Hübotter hatte offenbar kein Problem mit der gebrochenen Überlieferung, bezeichnete er doch die Akupunktur ausgerechnet als – Ordnungslehre.
Anthropologen und Medizinhistoriker haben den Ursprung des Modells vom „Netzwerk“ auf dem menschlichen Körper aufgedeckt und dabei festgestellt, dass die Vorstellungen im alten China durchaus nicht weit entfernt sind von denen, die im Nahostraum und dem frühen Europa (vor allem Griechenland) dazu herrschten (Unschuld 1995). Damit relativiert sich die Vorstellung von einer exklusiven „östlichen Weisheit“, ein für viele der Akupunktur anhängende Menschen mitbestimmender Faktor. Der Ursprung sind jeweils „magische“ Projektionen astronomischer Beobachtungen auf irdische, menschliche Proportionen und deren Verbindung mit dem Blutkreislauf – das berühmte „Wie oben, so unten“ des mythischen Hermes Trismegistos, des Urvaters der esoterischen Lehren. Selbst zur Nadelungstechnik existieren gänzlich unterschiedliche „Lehrmeinungen“.
Auch hier ist zu beobachten, dass moderne Schulen im Westen dazu neigen, das Thema zu scheinrationalisieren. Welche Nadeln wie tief eingeführt werden sollen, wie lange sie zu verbleiben haben und ob gleichzeitig eine Erhitzung oder eine lokale Behandlung mit z. B. Homöopathika (!) angezeigt ist, wird säuberlich kategorisiert. Nach Erkrankung, Typologie der Patienten und auch anderen Dingen. Nur nicht nach objektiven wirkungsbezogenen Kriterien. Selbst die Anzahl der Nadeln und ihre Materialbeschaffenheit sind beständiger Gegenstand von Methodenstreitigkeiten bei den Anwendern der Akupunktur.
So etwas gab es wohl in der „alten Lehre“ nicht. Einigermaßen sicher ist, dass die ursprüngliche (älteste) traditionelle Akupunktur nur mit minimalen Einstichen geringer Tiefe arbeitete. Es gibt aber Akupunkteure, die mit Nadeln von 10, gar 20 cm Länge arbeiten, die auch durchaus bis zu mehreren Zentimetern Tiefe eingestochen werden. Dies hatte bereits dokumentierte Todesfälle zur Folge. Was direkt zum Thema Nebenwirkungen führt – nebenwirkungsfrei ist die Akupunktur nicht. Auch die „mitteltiefe“ Akupunktur reicht unter unglücklichen Umständen schnell für einen Lungenkollaps (Pneumothorax) aus. Auch das Infektionsrisiko ist nur unter strengen hygienischen Praxisbedingungen akzeptabel gering. Es gilt als gesichert, dass Hepatitis B / C dort häufiger auftritt, wo Akupunktur viel praktiziert wird (Ernst, Sherman 2003).
Ein letztes Problem von vielen sei an dieser Stelle genannt: Wie soll die Nadelung ganz spezifisch auf ein bestimmtes Organ oder einen pathogenen Schmerzauslöser in einer anderen Körperregion wirken, obgleich es keinen Nachweis eines physiologischen Zusammenhangs gibt? Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines solchen Systems wäre doch logischerweise ein einheitlicher, widerspruchsfreier Katalog von Meridianen und Akupunkturpunkten. Allein, den gibt es nicht. Und was, wenn der Fluss des Qi durch das Treffen eines falschen Punktes falsch adressiert wird? Einmal mehr analog zur Homöopathie, wo nach der Lehre Hahnemanns keine Mittelgabe folgenlos ist, also eine falsche Mittelauswahl nicht kurativ wirken würde, sondern zum ungewollten Auslöser zum Teil schwerster Symptomatiken werden müsste.3
Akupunktur – was soll sie bewirken?
Die traditionelle Lehre geht von der Regulierung einer ominösen Lebenskraft aus, die auch in anderen Zusammenhängen als der Medizin in der chinesischen Kultur verwurzelt ist. Heute bezeichnet man diese Lebenskraft auch im Westen oft als Qi, früher sprach man in Europa verwissenschaftlicht von der „Theorie des Pneumas“ (die Ähnlichkeit mit dem heute gern in der pseudomedizinischen Sphäre verwendeten Begriff der „Feinstofflichkeit“ liegt auf der Hand). Die Verwandtschaft mit esoterisch-vitalistischen Ideen wie der „geistigen Lebenskraft“ der Homöopathie ist offenkundig, weltweit sind viele Heilslehren irgendwann einmal von solchen Vorstellungen bestimmt gewesen.
Die Nadelung sollte eine Regulierung des Gleichgewichts im Fluss dieses Qi bewirken, das sich angeblich im Körper stauen, verlieren und falsch ausrichten könne. Der „Normalzustand“, das Gleichgewicht, das durch die Akupunktur wiederherzustellen sei, hat dabei Gesetzmäßigkeiten wie Himmelsrichtungen, Jahreszeitenwechsel oder dem Yin-Yang-Prinzip (der Ausgeglichenheit zwischen Gegensätzen) zu entsprechen. Vorstellungen in der alten Volksmedizin sprachen vom „Ablassen“ eines „bösen Geistes“ an der schmerzenden Einstichstelle. Nicht zu trennen von diesen Ideen ist das differenzierte Klassifizierungs- und Diagnosesystem der TCM. Die Akupunktur als Teil der TCM rekurriert natürlich auch auf deren Postulate zur Krankheitsentstehung.
Ähnlich wie die Homöopathie ist die Krankheitslehre der TCM eine Phänomenologie, sie macht ihren Krankheitsbegriff also an den sichtbaren Symptomen fest. Diese werden dann zu Naturvorgängen in Beziehung gesetzt. So gibt es in der TCM eine grobe Unterscheidung zwischen äußeren, inneren und sonstigen krankheitsverursachenden Faktoren. Zu den äußeren gehören etwa Wind, Hitze, Feuchtigkeit, Trockenheit, Kälte, Verletzungen, zu den inneren Gemütsbewegungen wie Zorn, Freude, Sorge, Trauer, Angst, Überanstrengung, schlechter Schlaf, falsche Lebensführung. Dem entsprechen TCM-spezifische Anamnese- und Diagnosekriterien. Dies bringt Probleme mit sich: In der Literatur6 wird durchaus eingeräumt, dass es eigentlich nicht statthaft ist, eine Methode wie die Akupunktur ihres ätiologisch-diagnostischen „Unterbaus“ zu berauben und sie auf „westliche“ Krankheitsbegriffe und Diagnosen aufzupfropfen. In der Tat. Das wäre eine Art Versatzstück- oder Baukastenmedizin. Merkt das eigentlich keiner?
Frühe Rezeption
Eine solche mystisch-esoterische Anmutung war schon in den Anfängen der Rezeption im Westen nicht leicht zu verdauen. Diese Anfänge lagen erstaunlich früh. Nach derzeitigem Forschungsstand stammte die erste Dokumentation zur Akupunktur von dem „batavischen“ (in Niederländisch-Indien, heute Indonesien, tätigen) Arzt Wilhelm ten Rhyne (oder: Rhijne). 1683 veröffentlichte er bei Chiswell in London ein Buch mit dem Titel Dissertatio de Arthritide – Mantissa Schematica de Acupunctura (also ein Werk, das sich mit der Behandlung der Arthritis befasst). 1690 erschien dieses Werk auch in Deutsch, es wurde bei Gleditsch in Leipzig bei einem Buch eines Dr. Stephen Blancard über die Behandlung der Podagra (Gicht) angehängt.4 Die soziokulturelle Anpassung begann mit einer „Verwissenschaftlichung“, die im Grunde bis heute anhält. Dabei war man zu Zeiten des Vitalismus geneigt, das Qi in die „Lebenskraftidee“ umzudeuten, was ja durchaus nicht fernlag. Dies allerdings geschah auf unterschiedliche Weise. Berlioz (1816) meint, den Nerven „wird ein Elementarstoff zugeführt,welchen der Schmerz demselben entzogen hat“ (Defizittheorie). Cloquet (1840) hält dagegen: Entzug von Nervenfluidum, das die Nerven durchrinnt und die schmerzhaften Organe belästigt (Überschusstheorie).
Schönlein (1845) kommt modern daher: „Haut hält die tierische Elektrizität zurück, die durch die Nadeln abgeleitet wird“. Und was es dergleichen noch gab (nach Prokop, Wimmer 2006). Es scheint, dass zu dieser Zeit der damalige chinesische Kaiser derjenige mit dem richtigen Durchblick war: Er verkündete nämlich 1822, Akupunktur sei ein Hemmschuh für die Ausbreitung moderner Medizin, und verfügte, sie deshalb aus dem Lehrangebot der Kaiserlichen Medizinischen Akademie zu entfernen.
Auf einen wichtigen Aspekt wies Paul Unschuld hin: Zu Zeiten, in denen die westliche Medizin im Wesentlichen noch Galens Humoralpathologie (Säftelehre) folgte und damit sehr unbefriedigende Ergebnisse (einschließlich des Todes der Patienten mittels der Kur) erzielte, gab es keinen vernünftigen Grund, gegenüber komplett anderen Medizinkonzepten nicht weitgehend offen zu sein. Viele Ärzte der damaligen Zeit waren sich der Unzulänglichkeit ihrer Methoden wohl bewusst (zu ihnen gehörte auch Samuel Hahnemann, der seine Homöopathie gezielt als Gegenpol zur „Allopathie“5 seiner Ära entwickelte). Die frühe Rezeption der Akupunktur in einer Epoche, als Plausibilitätsüberlegungen und strenge Empirie mangels naturwissenschaftlicher Kenntnisse noch keine echte Option waren, muss man unter diesem Gesichtspunkt betrachten, was aber das Erfordernis einer Beurteilung der Methode nach dem heutigen Erkenntnisstand natürlich nicht relativiert. In welchem Maße die Popularität von Offerten „alternativer“ Therapien noch heute von Unzufriedenheit mit dem gültigen Medizinsystem bestimmt wird, wurde schon oft betont.
Das 20. Jahrhundert
Wir kommen hier auf die bereits erwähnten zwei speziellen Gesichtspunkte zurück, die der ohnehin geringen Glaubwürdigkeit einer „traditionellen Überlieferung“ der Akupunktur weitere Tiefschläge versetzen. Zum einen sind dies die Schriften („L’Acopuncture Chinoise“) des Hochstaplers und Geschichtenerzählers George Soulié de Morant (Lehmann 2010), der mit allerlei Fantastereien über sein angebliches authentisches Akupunktur-Wissen gegen Ende der 1930er Jahre der „westlichen Akupunktur“ zu einem Popularitätsschub und einer bis heute nachwirkenden falschen Prägung verholfen hat. Zum anderen ist es das Kunstprodukt einer Traditionellen Chinesischen Medizin einschließlich der Akupunktur aus der Mao-Ära.
Was hat es damit auf sich? Die TCM hatte Anfang des 20. Jahrhunderts in China gar kein standing mehr (wir erinnern uns daran, dass schon 1822 der damalige Kaiser von ihr nichts mehr wissen wollte). Es gab erheblichen Druck, die westliche wissenschaftsgeprägte Medizin zu übernehmen. Man sah die Lücke zwischen der Entwicklung des globalen Westens und der eigenen Region und führte sie vor allem auf die eigene Verhaftung in traditionellen Denkweisen zurück. Mit Maos Gründung der Volksrepublik China und dem Anspruch einer zukunftsgerichteten modernen Staatsform wurde der Fokus hierauf noch intensiver und stark ideologisch unterfüttert. Bekanntermaßen war Mao selbst in Sachen Gesundheit Rationalist. Er und seine Führungsmannschaft befanden, ihr Land könne nur konkurrenzfähig werden, wenn man sich an westliche Standards in Naturwissenschaft, Technik und Medizin anschließe.
Einem rigorosen Cut standen jedoch Hindernisse im Weg, u. a., dass damals noch viele Chinesen Lohn und Brot in der Praktizierung traditioneller Methoden fanden und diese umherziehenden „Barfußdoktoren“ für eine basale Gesundheitsversorgung der Bevölkerung als noch unverzichtbar galten. So reduzierte man die Überlieferung auf eine Art Derivat aus dem Traditionskanon, das noch so eben staatsideologisch tragbar war, gab es den Barfußdoktoren anstelle sinnvoller Ausrüstung als Grundausstattung mit und deklarierte es fortan nach außen als „Traditionelle Chinesische Medizin“. Und dies, vermischt mit anderen Einflüssen (z. B. aus Überbleibseln früherer Rezeptionen im Westen und durch die Fantastereien des Soulié de Morant) wird heute im Westen als „alte fernöstliche Weisheit“ wahrgenommen.
Einschließlich der Akupunktur. Gegenwärtig betreibt die chinesische Regierung ungeachtet der Brüchigkeit des eigenen TCM-Konzepts einen regelrechten Export der „Marke TCM“ mit dem erklärten Ziel, eine Verankerung in den westlichen Gesundheitssystemen zu erreichen – ganz zu schweigen von den Ländern Afrikas, in denen China als Investor engagiert ist und die TCM dabei mitbringt. Man wird hier eher andere Gründe suchen müssen als das Anliegen, zu einer evidenzbasierten Medizin beizutragen. Die Popularität vor allem der Akupunktur in westlich geprägten Ländern (Australien ausdrücklich einbezogen) und das Bemühen, ihr einen wissenschaftlichen Unterbau zu verschaffen, zeigt den Erfolg einer solchen Strategie. Die WHO mit ihrem notorischen Hang zu „traditionellen Medizinformen“ ist dabei behilflich – im internationalen diagnostischen Manual ICD-11, das seit dem 01.01.2022 in Kraft ist, steht inzwischen ein ganzer Hauptabschnitt zu TCM-Diagnostiken, was erhebliche Kritik von evidenzorientierten Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Organisationen erfuhr6. Auch für Akupunktur/TCM gilt: Schiere Präsenz darf nicht über fehlende Validität und Evidenz hinwegtäuschen.
Von Wirkungen, Suggestion und Hypnotik
Eine so heterogene, von historischen Brüchen erschütterte Methode steht natürlich in starkem Verdacht, zwar eine Wirkung auslösen zu können, aber eben nicht „spezifisch“, also allein auf die Methode und ihre Annahmen selbst zurückzuführen. Das Besondere: Bei der Akupunktur spielt wesentlich mehr eine Rolle als der reine Placebo-Effekt. Auch hierzu bedarf es eines Blicks in die Historie. Die gegenwärtige aktuelle Akupunktur-Welle wurde ausgelöst vom Bericht des Journalisten James Reston, der den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon Anfang der 1970er Jahre auf seiner China-Reise begleitete und der dort nachoperativ (nach einer Blinddarmentfernung) mit Akupunktur behandelt wurde. Davon war er so angetan, dass er dies als eine Art Wunder in der Presse publik machte. In der New-Age-Stimmung der damaligen Zeit löste dies tatsächlich einen Pilgerzug von Ärzten und Journalisten nach China aus. Selbst der damalige Präsidenten-Leibarzt, ein gewisser Dr. Tkach, verbreitete nach seiner Rückkehr aus China 1972 entsprechende Wunderberichte und kommentierte interessanterweise, trotz der Widersprüche zur medizinischen Logik „glaube“ er an die Methode. Eine öffentlich dokumentierte kognitive Dissonanz, immerhin bemerkenswert.
Es folgte dann auch die Beschäftigung der empirischen Wissenschaft mit dem fernöstlichen Nadelstechen. Das war die „erste Phase“ der empirischen Forschung zur Akupunktur im 20. Jahrhundert, auf die späteren kommen wir zurück. Verwundert es, dass im Schlepptau dieser einigermaßen spektakulären Vorgeschichte die Forschung in einem ersten Zugriff durchweg Ergebnisse pro Akupunktur hervorbrachte? Das kann nur den erstaunen, der die Macht eines entstehenden Hypes auch im Bereich der Wissenschaft unterschätzt. Es kam zu einem regelrechten Bandwagoning, einem Aufspringen auf den losfahrenden Zug, ein Phänomen, das seit jeher auch in der Medizin seine Wirkungsmacht entfaltet (Cohen, Rothschild 1979) und schon für manchen Hype verantwortlich war. Prokop und Dotzauer (a. a. O.) charakterisieren Akupunktur in dieser Phase als „ein Gebiet (…) dessen sich Laien sowie Presse, Funk und Fernsehen bemächtigt haben. So wurde schließlich ein herausforderndes Klima geschaffen, in dem die naturwissenschaftliche Methode verhöhnt wird.“ Klare Worte – Prokop eben.
Fast jeder mag schon einmal vom Einsatz der Akupunktur als Anästhetikum bei operativen Eingriffen gehört haben. Diese Erzählung, die der Methode gewaltigen Rückenwind verschaffte, ist noch gar nicht so alt. Fraglos war die vorgebliche Wunderwirkung der Akupunktur als Anästhetikum der damalige Point of Interest, die Initialzündung für den Hype im Westen der 1970er Jahre. Viele werden vielleicht schon einmal Bilder oder gar ein Video gesehen haben, bei denen freundlich lächelnde hellwache Patienten mit geöffneter Körperhöhle operiert wurden und angeblich die Akupunktur Wunderdinge bei der Anästhesie bewirkt habe. Nun ist viel möglich, beispielsweise ist das viszerale Organgewebe selbst schmerzunempfindlich und theoretisch ist eine Operation im Bauchraum unter lokaler Betäubung des Bauchfells bei vorsichtigem Vorgehen und ohne ruckartige Bewegungen durchaus möglich (ob es wünschenswert ist, das darf man sicher in Frage stellen). Auch neurochirurgische Eingriffe werden bekanntlich unter örtlicher Betäubung der Stelle durchgeführt, an der die Schädelplatte eröffnet wird – das Gehirn ist schmerzunempfindlich.
Letztlich bemerkten auch eingeladene westliche Beobachter, dass bei Demonstrationen in der späten Mao-Zeit, die stets offensichtlichen „Vorführcharakter“ besaßen und in großen, gut ausgestatteten Kliniken stattfanden, ein guter Teil Täuschung mitspielte (Bericht von Prof. Dr. John J. Bonica, Chief Department for Anesthesiology, University of Washington, 1974). Auch im deutschen Fernsehen wurde einmal ein Fall gezeigt, bei dem das vollständige Video offenbarte, wie der angeblich nur mit Akupunktur behandelten Patientin eine anästhesierende Dauerinfusion zugeführt wurde. Prokop zieht daraus das Fazit, die Medienberichte seien „ebenso suggestiv gewesen wie die Akupunktur selbst“.
Auch der vormalige Bundespräsident Walter Scheel und seine Ehefrau Mildred, von Beruf Röntgenfachärztin, erlagen dem Trend und gingen auf Erkundungstour – und empfahlen anschließend, man möge sich in derwestlichen Medizin dieser Dinge docheinmal annehmen. Vermutlich war dem Ehepaar Scheel nicht bekannt, dass Narkosen durch Akupunktur bereits um 1830 auf Weisung des preußischen „Ministeriums der Geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“ an der Berliner Charité erprobt wurden – und wegen nicht hinnehmbarer Versagensquoten ein sehr schnelles Ende fanden (Arnold 1974). Und ganz offensichtlich hat sich die Methode in den Operationssälen der Welt auch bislang nicht als Standard oder wenigstens als Außenseitermethode durchgesetzt, was seine Gründe wohl kaum in einer machtvollen Grundsatzopposition gegen „fernöstliche Weisheit“ haben dürfte. In den Zeiten von Dr. Tkach und des Ehepaares Scheel, mitten in der New-Age-Ära, fiel die erneuerte Botschaft jedenfalls auf fruchtbaren Boden und wirkte eben auch in die wissenschaftliche Medizin hinein.
Tatsächlich stellte sich später heraus, dass Akupunktur als OP-Anästhesie in China erst 1958 eingesetzt wurde – schrecklicherweise als unethischer Menschenversuch zum Lob und Ruhme der chinesischen Revolutionsideologie (Spiegel 1980). Es blieb nicht bei einzelnen Versuchen, für Militär- und Zivilkliniken wurde Akupunktur für längere Zeit als Standard-Anästhesiemethode vorgeschrieben. Die Folge war, dass die Menschen voller Angst vor operativen Eingriffen solche um jeden Preis zu vermeiden suchten. Wäre nicht nach dem Tode Mao Zedongs eine Entmystifizierung seiner Person offiziell eingeleitet worden, wären diese Dinge möglicherweise nicht zutage gekommen.Tragisch, dass gerade dieser Fake zur Entfachung des Akupunktur-Hypes Anfang der 1970er Jahre beitrug.
Akupunktur, Suggestion und Mesmerismus Dass die Akupunktur insbesondere im Schmerzbereich (Analgesie) durchaus Wirkungen erzielen kann, ist nicht neu. Es drängt sich der Vergleich mit dem „Mesmerismus“ auf, der Methode des Franz Anton Mesmer (1734 – 1815), die auf der Wirkung eines „Magnetismus“ beruhen sollte und der Ende des 18. Jahrhunderts in ganz Europa schon mehr als ein Hype war. Natürlich wirkte bei Mesmer kein „Magnetismus“ als vermeintliches Agens, mit dem auch er eine imaginäre „Lebenskraft“ beeinflussen wollte. Mesmer gilt heute als der Erste, der das Phänomen der Suggestion, der psychotropen Fremd- und Selbstbeeinflussung, systematisch nutzte. Suggestion kann große Kräfte freisetzen (und ist nicht dem Mesmerismus vorbehalten), physiologisch ursächlich heilen kann sie allerdings ebenso wenig wie der Placeboeffekt. Mesmers „magnetische Sitzungen“ waren ein Musterbeispiel für suggestive Situationen, die sich aus dem Geheimnisvollen, einer starken Heilerpersönlichkeit,höchsten Erwartungen an den berühmten Mann und einem mehr oder weniger eintretenden suggestionsaffinen Trancezustand ergaben.
Dass er größte Erfolge bei psychosomatischen Affekten erzielte, lag auf der Hand. Einer seiner berühmtesten „Fälle“ war der einer jungen Dame, die angeblich von ihrer Blindheit geheilt wurde. Die Suggestion muss so stark gewesen sein, dass diese unmittelbar nach der Sitzung mit Mesmer die Rückkehr ihrer Sehkraft bestätigte. Das war aber kein nachhaltiger Effekt, kurz danach war die Besserung verschwunden. Vermutlich handelte es sich um eine durch die Suggestion hervorgerufene Unterbrechung eines hysterischen Zustandes (hysterische oder psychogene Amaurose), die suggestiver Beeinflussung vorübergehend zugänglich war.7
Auch heute noch werden solche Amaurosen mit suggestiven Techniken behandelt. Die moderne Psychosomatik ist durchaus interessiert an den umfangreichen Berichten über Mesmers Tätigkeit. Übrigens gab es auch eine „mesmerische Anästhesie“, mit der z. B. ein Dr. Esdaile im schottischen Perth 300 schmerzlose Operationen durchgeführt haben will (1853, nach Prokop, Dotzauer a. a. O.). Die Parallelen zu den Effekten der Akupunktur sind offenkundig.
Außer Frage steht, dass bei allen Behandlungen suggestive Aspekte als Teil der sogenannten Kontexteffekte eine mehr oder weniger starke Wirkung auf den Patienten ausüben. Das weiß jeder gute Arzt und erst recht jeder ausgebildete Psychosomatiker und Psychotherapeut. Nur die Pseudomediziner zeichnen sich stets dadurch aus, dass sie solche Effekte ableugnen und auf der „spezifischen“ Wirkung ihrer jeweiligen Methode bestehen, seien es nun Homöopathen oder Akupunkteure. Denn sie wissen genau: Eine Methode ohne spezifische, nicht nurkontextuale Wirkungen ist keine.
Man wird festhalten müssen, dass bei der gefühlten Wirkung von Akupunktur mehr im Spiel ist als der klassische Placeboeffekt, wie eingangs bereits angedeutet wurde. Es tritt eine stark suggestive Komponente in den Vordergrund. Gerade Schmerzen sind suggestiven Einflüssen gegenüber empfänglich. Schmerzen haben zwei Erscheinungsformen (Agentien): die objektive Reizung und den Affekt als Bedeutungswahrnehmung (Kuhnke 1974). Die letztgenannte Komponente kann ein starkes Regulativ für die erstere darstellen, was auch der Kernpunkt psychotherapeutischer Schmerzbewältigungstherapien ist (Affektabwehr). Hinzu kommt, dass der Arzt vor allem die Patienten mit eher „unspezifischen“ Schmerzzuständen der Akupunktur zuführen wird, also solche, bei denen mit großer Wahrscheinlichkeit eine sychosomatische Komponente vorhanden ist, wenn nicht überwiegt. Dazu reicht bereits das Erlebnis länger anhaltender Beschwerden oder gar einer Chronifizierung aus. Typisches Beispiel sind die „Lendenwirbelsäulenbeschwerden“, der berühmte „Rücken“, im Englischen lower back pain genannt – nicht zufällig ist das eine der beiden Indikationen, bei denen der Gemeinsame Bundesausschuss 2006 eine Kassenerstattung für Akupunktur freigegeben hat8, ausdrücklich, ohne damit die Akupunktur als solche anzuerkennen.
Hier ist in Rechnung zu stellen, dass das Setting einer Akupunktur nicht nur einen dezidierten eigenen Entschluss und dann Aufwand bedeutet, es findet ja auch ein massives Ritual statt, das zudem mit der Inkaufnahme von Schmerzen verbunden ist. Und da gibt es bei manchen Therapeuten, je nach individueller Methode, schon
so einiges auszuhalten. Dieser Aufwand und seine Begleiterscheinungen wirken auf den ansonsten an eine Medikamenteneinnahme, allenfalls gelegentlich eine Spritze oder eine Bestrahlung gewöhnten Patienten sehr suggestiv, auch im Kontext der Zeitdauer einer Behandlung und des realen Kontaktes zum Therapeuten.
Der zweite Teil dieses Beitrages befasst sich vor allem mit einer Gesamtschau auf die klinische Evidenz.
Erstmals erschienen in: Skeptiker 4/2022, Seite 148 - 157.
Udo Endruscheit unterstützt das Informationsnetzwerk Homöopathie (INH) seit 2016 und ist einer seiner Sprecher. Als Autor klärt er in verschiedenen Blogs und
Publikationen über Homöopathie und andere Pseudomedizin auf.
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1 Hall, Is Acupuncture winning?
2 https://www.akupunktur.de/patienten/akupunktur-methoden/master-tung.html
3 https://netzwerk-homoeopathie.info/ist-homoeopathie-deshalb-kein-placebo-weil-oft-nichtdas-erste-gegebene-mittel-wirkt
4 Accurate Abhandlung von dem Podagra und der lauffenden Gicht, worinnen deren wahre Ursachen und gewisse Cur gründlich vorgestellet, auch die herrlichen Kräfften der Milch ... durch Steph. Blancard ... nebst des Herrn Wilhelm ten Rhyne ... Beschreibung, wie die Chinesen und Japaner vermittelst des Moxa-Brennens ... alle Kranckheiten ... curiren. Aus der Niederteutschen in die Hochteutsche Sprache übersetzet – bei Joh. Friedr. Gleditsch, 1690.
5 Informationsetzwerk Homöopathie: Was ist eigentich Allopathie?
6 Traditional Chinese Medicine: A Statement by EASAC and FEAM (2019).
7 Der Fall der Maria Theresia Paradis (1759-1824) – Zur Behandlung einer (hysterischen?) Amaurose bei einer Musikerin mit Musik und Suggestion. Klin Monbl Augenheilkd 1991; 199(8): 122-127.
8 Akupunktur zur Behandlung von Rücken- und Knieschmerzen wird Kassenleistung. Presseerklärung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 18.04.2006.