Das Papier der S4F Germany "Kernenergie und Klima“
Ist die Kernenergie eine Klimaschutztechnologie? Die Scientists for Future Germany beantworten diese Frage mit einem eindeutigen Nein – und verstricken sich dabei in Interessenpolitik und Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis. Unsere Autorin hat das Papier für die GWUP begutachtet. Das ausführliche Gutachten finden Sie hier.
Anna Veronika Wendland
Ende Oktober legte eine Autorengruppe von Scientists for Future Germany (S4F) ein 100-seitiges Papier über „Kernenergie und Klima“ vor, das der Klimabewegung Fridays for Future wissenschaftliche Argumentationshilfe in der neuerdings aufgeflammten Atomdebatte an die Hand geben sollte. S4F ist der deutsche Zweig einer vorwiegend auf die deutschsprachigen Länder konzentrierten Wissenschaftler-Initiative zur Unterstützung der Klimaschutzbewegung Fridays for Future. Die Organisation beansprucht, als Stimme der Wissenschaft in der Klimadebatte zu sprechen. Ihr Ziel ist die schnellstmögliche Ersetzung "fossiler Energieträger durch klimaneutrale Energiequellen“.
Ausweislich dieses Ziels wäre erwartbar, dass die S4F sich die Position des Weltklimarats zu eigen machen, der in seinen Sachstandsberichten die Kernenergie in der Reihe der Instrumentarien zur Reduzierung des Treibhausgasausstoßes nennt. Ihre CO2-Bilanz ist laut IPCC mit 12 g CO2/kWh (median) so gut wie jene der Windkraft und rund viermal besser als die der Photovoltaik (41-48 g/kWh).
Doch die S4F positionieren sich in ihrem Papier dezidiert gegen jedwede Kernenergienutzung. Kernenergie sei keine Klimaschutztechnologie, denn sie
- sei mit Blick auf mögliche Unfälle zu gefährlich,
- sei mit Blick auf ihre Wirtschaftlichkeit zu teuer,
- sei mit Blick auf die Bauzeit neu gebauter Kernkraftwerke "in den für die Bekämpfung der Klimakrise relevanten
Zeiträumen“ zu langsam verfügbar, - blockiere den Weg zu einem "gesellschaftlich gestützten … klimaneutralen Energiesystem“, das ausschließlich auf Erneuerbaren Energien aufbauen solle.
Argumentation ohne Schutzziel
Es wird, anders als von S4F angekündigt, also gar nicht die Frage beantwortet, welche die gesellschaftliche Debatte beschäftigt, nämlich ob man die Kernenergie als Beitrag zum Klimaschutz klassifizieren und folglich im System lassen solle, sondern es wird die Kompatibilität der Kernenergie mit einer von den Autoren ewünschten Systemtransformation diskutiert. In dieser wiederum wird die Kernenergie a priori für unerwünscht erklärt, da das gewünschte System zu 100 % auf Erneuerbaren Energien basieren soll. Dies aber ist nicht aus einer mangelnden Klimaschutzqualität der Kernenergie oder einer in jedem Falle überlegenen Klimaschutzqualität der EE ableitbar. Wir haben es vielmehr mit einem auf Werturteilen basierenden Argument zu tun.
"Gefährlich, teuer, langsam“
Dieses Werturteil wird legitimiert durch das Argument der "Gefährlichkeit“ und der "Unwirtschaftlichkeit“ sowie der nicht rechtzeitigen Verfügbarkeit von KKW-Neubauten für die Bekämpfung des Klimawandels. Doch diese Argumentation kommt über weite Strecken des Papiers mit unzulässigen Methoden zustande. Dazu gehören eine hoch selektive Betrachtung von Daten und Fachliteratur, Strohmann-Argumente und Doppelstandards.
So behaupten die Autoren, die Atomindustrie prognostiziere mit probabilistischen Sicherheitsanalysen (PSA) eine sichere Atomzukunft, obwohl die Realität sie mit immer wieder auftretenden Atomunfällen Lügen strafe. Hier wird weder der Forschungsstand zur Technikrisikoforschung beachtet noch die kerntechnische Fachliteratur über Gegenstandsbereich und Funktion solcher Analysen. PSA dienen nicht der Prognose eines globalen Gesamtrisikos der Kernenergienutzung, sondern vor allem der Quantifizierung des Beitrags einzelner Systeme eines KKW zu seinem Kernschmelzrisiko. Hinzu tritt die Suggestion einer latent vor dem nächsten Super-GAU stehenden Kerntechnik, der vor allem durch das Cherrypicking von ungünstigen und unkontextualisierten Befunden und das Auslassen von günstigen Befunden erreicht wird. Zu solchen günstigen, aber nicht diskutierten Befunden gehört etwa die Robustheit der deutschen Kernkraftwerke, auf die Unfallabläufe wie in Fukushima oder Tschernobyl nicht übertragbar sind. (siehe hierzu auch Skeptiker 1/2021 1/2021, S. 4 – 10).
Eine Konzentration auf Extremwerte von Schäden und Opfern aus hypothetischen Versicherungs-Diskussionen ersetzt die weniger dramatische Empirie der realen Atomunfälle. Ein Vergleich mit den um Größenordnungen schädlicheren Auswirkungen der Kohlekraft und anderer Industrien fehlt. Auch die Diskussion um die Kosten und Bauzeiten von Kernkraftwerken wird mit einer solchen Bezugnahme auf Extremzahlen geführt. Bei der Frage nach der Verfügbarkeit neuer KKW für Klimaschutzmaßnahmen wird auf die langen Bauzeiten rekurriert, aber nicht zur Kenntnis genommen, dass die Errichtungszeiten CO2-neutraler EE-Systeme weit über die Errichtungszeiten und -kosten von EE-Einzelanlagen und auch von KKW hinausgehen.
Prinzipiell werden in diesem Papier, das beständig Kernenergie mit EE vergleicht, ungünstige Befunde im Bereich der EE ausgeblendet. Dazu gehört ihr enormer material footprint, ihre Flächen-Extensivität, die bislang ungelöste Speicherfrage, und die von ihnen erzeugten (auch ökologischen) Kosten für Speicher und Backup-Kraftwerke – in Zukunft vor allem Gaskraftwerke.
Schließlich wird in einer Doppelstandard-Argumentation den Kernkraftwerken Verwundbarkeit durch Extremwetterlagen wie Hitze und Schneesturm bescheinigt, aber verschwiegen, dass wetterabhängige EE in solchen Situationen weit gravierendere Produktionseinbußen erleiden; die technischen Möglichkeiten der Anpassung von KKW an Hitze- und Niedrigwasserkonditionen bleiben hingegen unerwähnt.
Selbstwidersprüche
Die Situationsbeschreibung der Autoren, die "verbleibende Zeit“, in der noch Maßnahmen zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels erreicht werden könnten, sei knapp, steht im Widerspruch zu ihrer Forderung nach der raschen Vollendung von weltweiten Atomausstiegen. Die Autoren ignorieren die Bedeutung der existierenden Kernenergie, die nach der Wasserkraft den weltweit zweitgrößten Beitrag zur CO2-armen Stromproduktion leistet. Nichts wäre angesichts der Klimakrise schädlicher, als sie abzubauen, nur um sie unter großen Anstrengungen und Ungewissheiten durch EE zu ersetzen. In diesem Lichte erscheint insbesondere der deutsche Atomausstieg als kontraproduktiv, denn er resultiert ja gerade im kritischen Zeitraum, nämlich der Zeit ab 2022, in einem Mehr-, nicht einem Minderausstoß von CO2. Deutschland wird in dieser Zeit 60 TWh pro Jahr Atomstromproduktion verlieren. Für Deutschland und Japan nach 2011 ist der Zusammenhang von Atomausstiegen und Rekarbonisierung nachgewiesen worden (siehe Skeptiker 1/2021, S. 4 – 10). Diese Befunde ignorieren die Autoren.
Das Narrativ von der Blockade
Von besonderer Bedeutung für die S4F-Autoren ist das Argument der "Blockade“ wünschenswerter Energiesystementwicklungen bzw. Gesellschaftsentwicklungen durch die Kernenergie. Dieses Argument wird von den Autoren in drei Teilaspekte unterteilt: die Kernenergie als angebliche historische Innovationsblockade und Antagonistin der EE, als Transformationsblockade sozialer Systeme sowie als technische Blockade der EE in Stromnetzen, wo sie wegen ihrer Unflexibilität die Entfaltung der EE behindere. Keines dieser drei Argumente konnte bei der Begutachtung einer Überprüfung standhalten. Weder kann man mit Blick auf die 1970er und 1980er Jahre behaupten, die Kernenergie – die damals beträchtliche Dekarbonisierungserfolge erzielte – habe Förder-und Investitionsmittel von den EE abgezogen. Die EE-Frage stellte sich damals noch nicht, denn es fehlten auch technische Voraussetzungen für den in den 2000er Jahren dann herbeisubventionierten Kickoff. Auch sind Kernenergie und EE in Stromverbünden kompatibel. Die Behauptung, dies sei nicht so, beruht auf einer selektiven Auswahl von Informationen und einer Ignorierung realer Fahrweisen und Potenziale von Kernkraftwerken. So wird die Lastwechselfähigkeit von Kernkraftwerken gegen den Befund von Fachliteratur und Betriebserfahrungen verneint. Ironischerweise zeigen gerade die deutschen Kernkraftwerke, die seit der Einführung der EE immer häufiger Lastfolge fahren, das gegenteilige Bild. Das Argument, KKW behinderten gesellschaftliche Transformationen, beruht vor allem auf romantisierenden Technik-Images der EE (sanft, demokratisch und dezentral) und dramatisierenden Images der Kernenergie (gefährlich, antidemokratisch und zentralistisch).
Ein Herz für die Perspektive der EE-Betreiber
Die Autoren schreiben in den Schlussfolgerungen ihres Papiers Folgendes:
Energiepolitische Maßnahmen wie … der massive Ausbau der EE und Stromsparprogramme, die die Rentabilität von nuklearer Grundlast in Frage stellen könnten, sind daher aus KKW-Betreiberperspektive unerwünscht.
Doch im gesamten Papier zeigt sich deutlich, dass die S4F-Autoren, statt ihr Material kritisch zu evaluieren, eigentlich genau das tun, was sie kritisieren: sie machen sich die EE-Betreiber-Perspektive zu eigen, der zufolge die Kernenergie als Konkurrentin unerwünscht sei. Doch angesichts der Lastfolgefähigkeit von KKW erscheint das Grundlast-Argument überholt, da KKW-Betreiber in einer Stromwirtschaft, in der CO2-arme gesicherte Leistung und Regelleistung honoriert wird, sehr gut verdienen können. Überdies können KKW den Speicherbedarf der im selben System betriebenen volatilen EE erheblich verringern.
Bezeichnenderweise sind die von den Autoren genutzten Szenarien im Wesentlichen 100-%-EE-Szenarien, in denen die Kernenergie gar keinen Platz hat; konsequent komparativ wurde nicht gearbeitet, weil Studien unter Einschluss der Kernenergie nicht behandelt wurden. Dass die gewählten 100-%-EE-Szenarien zu dem Schluss kommen, dass "eine möglichst rasche Markteinführung erneuerbarer Stromerzeugung“ der beste Weg zur Dekarbonisierung sei, liegt auf der Hand. Eine "CO2-freie Elektrifizierung des Verkehrs und Gebäudesektors“ hängt jedoch nicht vom Erzeuger des CO2-armen Stroms ab; im Gegenteil könnten angesichts der beträchtlichen Steigerung unserer Strombedarfe durch E-Mobilität und Elektrifizierung des Wärmemarktes gerade Kernkraftwerke als kompakte, leistungsstarke Erzeuger ihre Stärken ausspielen, etwa bei der Versorgung der Industrie.
Zweifel an der Unabhängigkeit
Während bei der Begutachtung nur die wissenschaftliche Qualität der Argumente betrachtet wurde und nicht die Person der Verfasser, ist nach einem derart offensichtlichen Bias-Befund die Frage berechtigt, wie es dazu kommen konnte. Eine Durchsicht der Forschungsprofile und institutionellen Zuordnung der Autoren gibt Hinweise: 16 von 16 Autoren haben ihre Forschungsarbeiten und Projekte mit der Energiewende-Ökonomie bzw. mit Institutionen im Umfeld atomkritischer Umweltbewegungen verbunden, sei es als Forscher:innen, als Berater:innen und Auftragnehmer: innen von Bundesregierung und grünen NGOs, oder als atomkritische Gutachter:innen; ein Autor ist Mitinhaber eines Software-Unternehmens, das seine Kunden im Feld des Ökostromvertriebs hat. Diese Autorengruppe war also weder unabhängig noch unvoreingenommen: sie hat ein Interesse an der Ausschließung der Kernenergie aus deutschen und europäischen Klimaschutzstrategien, ob nun aus Überzeugung oder aus professioneller Zugehörigkeit zum Unternehmen Energiewende, oder aus beiden Gründen.
Man stelle sich nur einen Augenblick vor, S4F hätte 16 Autoren beauftragt, ein Gutachten über die Eignung von Erneuerbaren Energien für den Klimaschutz zu verfassen, und 16 von 16 Autoren widmeten sich in ihrem Arbeitsleben vor allem der Simulierung und Optimierung von Kernenergiesystemen, der Beratung von kernenergienutzenden Regierungen und der Verfassung von Gutachten gegen Windparks. Das hätte zu Recht einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Warum der ausgeprägte Bias des Papiers selbst, seines Literaturkorpus, aber auch seiner Verfassergruppe bei S4F durchgewinkt wurde, hat wohl auch mit einer mangelnden Qualitätssicherung in dieser Organisation zu tun. Weder wurde das Papier unabhängig begutachtet, noch kam es zu einem organisationsöffentlichen Diskussionsprozess. Von mir befragte S4F-Mitglieder erinnerten sich an keine öffentlich kommunizierten Arbeitsstände oder Möglichkeiten der Kommentierung. Anfragen an die Pressestelle der S4F sowie an die drei als Ansprechpartner benannten Verfasser:innen blieben unbeantwortet.
Fazit: Nullsummenspiele
Aus Sicht eines Klimaschutzziels ist irrelevant, welche Stromerzeuger profitieren oder „gebremst“ werden, sondern einzig, ob sie ein klimafreundliches Resultat liefern, nämlich eine Kilowattstunde mit minimaler CO2-Last und maximaler Verfügbarkeit und möglichst hoher Umweltverträglichkeit. Ob diese Sicherheit und Klimafreundlichkeit per planbarer Stromproduktion hergestellt wird wie bei einem KKW oder durch die Errichtung einer Speicher-Infrastruktur für volatile EE, das ist eine politische Entscheidung. Sie ist aber nicht aus der Technologie selbst begründbar. Das Wohlergehen einer bestimmten Energiebranche ist keine notwendige Voraussetzung für die Erreichung von Klimaschutzzielen. Die von den Scientists for Future praktizierten, offensichtlich interessengeleiteten Nullsummenspiele können dem Klimaziel sogar schaden, wie das Beispiel des deutschen Atomausstiegs vor Kohleausstieg zeigt.
Das vollständige Gutachten über das S4F-Papier „Kernenergie und Klima“ ist hier nachzulesen.
Dr. Anna Veronika Wendland, geb.1966, ist Osteuropa- und Technikhistorikerin. Studium in Köln und Kiew, Promotion in Köln, berufliche Stationen in Leipzig, München und Marburg. Sie ist Projektleiterin am Sonderforschungsbereich SFB-TRR 138 „Dynamiken der Sicherheit“ (Marburg / Gießen). Für ihre Habilitationsschrift „Kerntechnische Moderne. Atomstädte, nukleare Arbeitswelten und Reaktorsicherheit in Ost- und Westeuropa 1966-2020“ hat sie über mehrere Jahre hinweg als Langzeit-Beobachterin in Kernkraftwerken geforscht. Im Juli 2020 publizierte sie gemeinsam mit dem Nuklearforscher Rainer Moormann ein Memorandum über die Bedeutung der verbliebenen deutschen Kernkraftwerke für eine alternative Klimastrategie.