Martin Lambeck
Die Bücher des wohl bekanntesten New-Age-Propagandisten Fritjof Capra erreichen Massenauflagen. Seine Theorien werden selbst von einigen Wissenschaftlern wohlwollend behandelt. Wenige von ihnen haben aber die Werke so sorgfältig gelesen und bis auf ihre Substanz analysiert wie der Autor des folgenden Artikels. Das Ergebnis zeigt die fachliche Qualifikation und das Vorgehen Capras in einem ganz neuen Licht.
1 . Die Quantendebatte
Die klassische Physik ist nach dem Muster des Billardspiels aufgebaut: Kennen wir also die Lage und Geschwindigkeiten zweier Billardkugeln, so können wir genau vorausberechnen, welchen Weg beide Kugeln nach dem Zusammenstoß nehmen werden und ebenso können wir eine ruhende Kugel im Prinzip beliebig genau stoßen. Diese Annahme der prinzipiellen Berechenbarkeit der Zukunft aus der Kenntnis der Gegenwart bezeichnet man als das Kausalprinzip der klassischen Physik.
Hier hat Heisenberg eine grundlegende Wandlung eingeführt. Er sagt mit Bezug auf die Vorgänge im atomaren Bereich, insbesondere die Beobachtung der Bahn der Elektronen: (Hier und im folgenden sind die Hervorhebungen durch Kursivschrift gleich denen im Original, während die Hervorhebungen durch Großbuchstaben von mir vorgenommen wurden.)
1.1 „Die 'Bahn' entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten. ... an der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes 'Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen' ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen. Deshalb ist alles Wahrnehmen eine Auswahl aus einer Fülle von Möglichkeiten und eine Beschränkung des zukünftig Möglichen. Da nun der statistische Charakter der Quantentheorie so eng an die Ungenauigkeit aller Wahrnehmung geknüpft ist, könnte man zu der Vermutung verleitet werden, daß sich hinter der wahrgenommenen statistischen Welt noch eine 'wirkliche' Welt verberge, in der das Kausalgesetz gilt. Aber solche Spekulationen scheinen uns, das betonen wir ausdrücklich, unfruchtbar und sinnlos.“ (8, S. 22, 34). Die prinzipielle Unmöglichkeit, die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken zu kennen, findet ihren quantitativen Ausdruck in der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation. Diese von Bohr und Heisenberg vertretene Darstellung wird als „Kopenhagener Deutung“ bezeichnet.
Um dies im Bilde des Billards zu verdeutlichen: Wir können auch im atomaren Bereich Billard spielen, z. B. Elektronen auf Elektronen, Photonen auf Elektronen usw. schießen, aber die Objekte verhalten sich nicht wie die kugelrunden Billardbälle, sondern eher wie Golfbälle. Diese haben keine glatte, sondern eine genarbte Oberfläche. Also wird der Verlauf des Stoßes zwischen zwei Objekten davon abhängen, ob wir die Kugelfläche oder eine narbige Vertiefung treffen. Daher ist der Lauf der Bälle nach dem Stoß nicht genau vorhersehbar, sondern auch vom Zufall abhängig. Somit wird das klassische Kausalgesetz durch eine Zufallsaussage ersetzt.
Der entscheidende Punkt in der Debatte um die Quantenphysik ist, daß Einstein, Schrödinger und einige andere prominente Physiker diese von Heisenberg und Bohr vorgetragene Einschränkung des Kausalprinzips nie akzeptiert haben. Nach ihrer Meinung müsse die Kausalität durch weitergehende Forschungen wiederherstellbar sein (im obigen Beispiel: Es müsse möglich sein, die Bewegung der atomaren „Billardkugeln“ wieder vorhersehbar zu machen). Kernpunkt der Heisenbergschen Aussage ist die Behauptung, daß man im atomaren Bereich nicht sowohl die Lage als auch die Geschwindigkeit eines Teilchens genau kennen könne. Kennt man die Lage genau, dann ist die Geschwindigkeit (und damit die zukünftige Lage) des Teilchens ungenau bestimmt und umgekehrt (Unbestimmtheitsrelation). Einstein und seine Anhänger haben mit immer wieder neuen Argumenten versucht, diese Aussage zu erschüttern und damit die klassische Kausalität wiederherzustellen. Das berühmteste Gedankenexperiment dieser Art wurde von Einstein, Podolsky und Rosen vorgetragen und wird daher als EPR-Paradoxon bezeichnet.
EPR betrachten ein System, das in zwei einzelne Teilchen A und B zerfällt bzw. zwei Teilchen, die vorher genügend lange miteinander in Wechselwirkung gestanden haben. Wenn - wie als selbstverständlich vorausgesetzt wird Erhaltungssätze gelten (siehe 11), schafft diese Situation die Möglichkeit, am Teilchen A eine Messung vorzunehmen und dann auf die Eigenschaften des Teilchens 8 zu schließen. Wird nun am Teilchen A eine Messung vorgenommen, so müßten - so glauben EPR die Quantentheorie interpretieren zu können - im gleichen Moment auch dem Teilchen B bestimmte Eigenschaften zukommen und daher bekannt sein. Dies sollte gelten, obwohl die Teilchen durch riesige Entfernungen voneinander getrennt sind.
Eine derartige Informationsübertragung, die ohne zeitliche Verzögerung über beliebige Entfernung hinweg ohne eine Veränderung im Zwischenraum stattfindet, bezeichnet man in der Physik als „Fernwirkung“. Nach der heutigen Kenntnis der Physik gibt es keine derartige Fernwirkung, vielmehr können Informationen immer nur durch eine Veränderung im Zwischenraum (z. B. durch Ausbreitung von Licht) und niemals sofort, sondern höchstens mit Lichtgeschwindigkeit erfolgen (Nahwirkung). Da für EPR selbstverständlich Fernwirkung unakzeptabel ist, müßte nach ihrer Meinung die von Bohr und Heisenberg vertretene Quantentheorie falsch oder zumindest unvollständig sein. (11, S.224).
Man beachte, daß das EPR-Argument die Form einer „reductio ad absurdurn“ (Zurückführung auf einen Widerspruch) hat: EPR sagen, die Quantenphysik müsse unvollständig sein, denn wenn sie vollständig wäre, gäbe es Fernwirkung. Bohr, für den Fernwirkung ebenfalls absurd war, argumentierte daher, die Quantentheorie sei vollständig, aber das EPR-Argument sei nicht gültig, da aus der Vollständigkeit der Quantenphysik nicht zwingend auf Fernwirkung geschlossen werden könne.
Die Debatte dauert auch gegenwärtig an und hat zu Hunderten von Arbeiten geführt. Sie bildet den physikalischen Kern des Briefwechsels zwischen Einstein und Born (5). Mehrere Bücher (1, 2,12) geben zusammenfassende, ausgewogene Darstellungen über den Stand der Diskussion; die Zeitschrift „Foundations of Physics“ beschäftigt sich intensiv mit diesen Fragen.
2. Quantensplitter
Im Interesse einer unmißverständlichen Diskussion präge ich hier für die beiden Teilchen, die im EPR-Paradoxon betrachtet werden, den Begriff „Quantensplitter“, um zwei Eigenschaften deutlich zu machen:
a) Es handelt sich hier ausschließlich um ein Quantenphänomen, nicht um ein Experiment, das man mit makroskopischen Gegenständen wie Fußbällen vergleichen könnte.
b) Das Wort „Splitter“ soll an die bekannte Erfahrung erinnern, daß z. B. eine Sylvesterrakete im höchsten Punkt ihrer Bahn in mehrere leuchtende Splitter zerfällt. Man hat noch nie gesehen, daß alle diese Splitter nach einer Seite fliegen. Vielmehr ist, wenn ein Splitter nach links geflogen ist, der andere nicht mehr frei, sondern muß nach rechts fliegen (Fachsprache: Impulserhaltungssatz). Diesem Erhaltungssatz unterliegen auch die Quantensplitter auf ihrer Reise; andernfalls könnte von ihrem Verhalten gar nicht sinnvoll gesprochen werden.
3. Zitate zur Quantendebatte
Diese Debatte um die Deutung der Quantenphysik wurde von Fritjof Capra ausführlich zur Stützung seiner weltanschaulichen Aussagen verwendet. Durch zahlreiche Zitate von Autoritäten wie Bohr und Heisenberg versucht er den Eindruck zu erwecken, seine Deutung im Sinne der östlichen Mystik stehe im vollen Einklang mit den Aussagen dieser prominenten Physiker. Tatsächlich sind alle von Capra verwendeten Zitate rein wörtlich betrachtet korrekt. Über die sinngerechte Verwendung der Zitate möge der Leser selbst urteilen.
Auf dem Gebiete der Physik macht Capra folgende wesentliche Aussagen:
- Es gibt Fernwirkung und Verbindung zum Universum.
- Die Eigenschaften eines Elektrons hängen vom Bewußtsein eines individuellen menschlichen Beobachters ab.
- Die Physik hat eine Beziehung zur östlichen Mystik.
3.1 Fernwirkung, Verbindung zum Universum
3.1.1 Capra: Art der Quantentheorie hängt die Tatsache, daß atomare Erscheinungen durch ihre Beziehungen zum Ganzen bestimmt werden, eng mit der fundamentalen Rolle der Wahrscheinlichkeit zusammen. In der klassischen Physik wendet man den Begriff der Wahrscheinlichkeit immer dann an, wenn die mit einem Geschehen verbundenen mechanischen Einzelheiten unbekannt sind. Werfen wir zum Beispiel einen Würfel, dann könnten wir - im Prinzip - den Ausgang voraussagen, wenn wir nur um alle Einzelheiten der dabei mitwirkenden Objekte wüßten: Die genaue Zusammensetzung des Würfels, die der Oberfläche, auf die er fällt, und so fort. Diese Einzelheiten nennt man die lokalen Variablen, weil sie innerhalb der maßgebenden Objekte vorhanden sind. Solche lokalen Variablen sind auch in der atomaren und subatomaren Physik von Bedeutung. Hier stehen sie für die Verbindung von räumlich getrennten Ereignissen durch Signale - Teilchen und Netzwerke von Teilchen -, welche den gewöhnlichen Gesetzen räumlicher Trennung unterliegen. So kann beispielsweise kein Signal schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden. Aber jenseits dieser lokalen Zusammenhänge gibt es andere, nichtlokale, die augenblicklich und unmittelbar sind und die - wenigstens heute noch - nicht mit mathematischer Präzision vorhergesagt werden können. Diese nichtlokalen Zusammenhänge sind das Wesentliche der Quantenwirklichkeit. jedes Ereignis wird vom gesamten Universum beeinflußt, und obwohl wir diesen Einfluß nicht in Einzelheiten beschreiben können, erkennen wir doch eine Ordnung, die in statistischen Gesetzen ausgedrückt werden kann ... Während die verborgenen lokalen Variablen in der klassischen Physik lokale Mechanismen sind, handelt es sich bei denen in der Quantenphysik um nichtlokale, unmittelbare Beziehungen zum Universum als Ganzem“ (4, S.84,85).
3.1.2 Capra: „Für Einstein wir, da sich kein Signal schneller als mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen kann, es unmöglich, daß die an einem Teilchen vorgenommene Messung im selben Augenblick die Richtung des Spins des anderen, Tausende von Kilometern entfernten Teilchens bestimmen kann. Nach Bohr ist das Zwei-Teilchen-System ein unteilbares Ganzes, selbst wenn die Teilchen durch riesige Entfernungen voneinander getrennt sind. Ein solches System kann man nicht unter dem Aspekt unabhängiger Teile analysieren. Anders ausgedrückt: Die kartesianische Anschauung von der Wirklichkeit ist auf die beiden Elektronen nicht anwendbar. Obwohl im Raum weit voneinander getrennt, sind sie durch unmittelbare, nichtlokale Zusammenhänge miteinander verbunden. Diese Zusammenhänge sind keine Signale im Einsteinschen Sinne; sie transzendieren unsere konventionelle Vorstellung von Informationsübermittlung“ (4, S. 88, 89).
3.1.3 Capra faßt seine Auffassung von der Natur schließlich in dem Satz zusammen: „jeder Teil des Universums ist zugleich das Ganze, und das Ganze ist zugleich jeder Teil - alles Sein durchdringt sich gegenseitig“ (3, Klappentext).
3.2 Die Elektronen und das Bewußtsein
3.2.1 Capra: „Das entscheidende Kennzeichen der Quantentheorie ist, daß der Beobachter nicht nur notwendig ist, um die Eigenschaften eines atomaren Geschehens zu beobachten, sondern sogar notwendig, um diese Eigenschaften hervorzurufen. Meine bewußte Entscheidung, wie ich beispielsweise ein Elektron beobachten will, wird bis zu einem gewissen Maße die Eigenschaften des Elektrons bestimmen. Stelle ich ihm eine Teilchen-Frage, wird es mir eine Teilchen-Antwort geben; stelle ich ihm eine Wellen-Frage, wird es mir eine Wellen-Antwort geben. Das Elektron besitzt keine von meinem Bewußtsein unabhängigen Eigenschaften. In der Atomphysik kann die scharfe kartesianische Unterscheidung zwischen Geist und Materie, zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten, nicht länger aufrechterhalten werden“ (4 S.90,91).
3.2.2 Capra: „Die Quantentheorie hat gezeigt, daß subatomare Teilchen nicht einzelne Körnchen von Materie sind, sondern Wahrscheinlichkeitsstrukturen, Zusammenhänge in einem unteilbaren kosmischen Gewebe, welches den menschlichen Beobachter und sein Bewußtsein einbezieht. Die Relativitätstheorie hat dieses kosmische Gewebe zum Leben erweckt, indem sie gewissermaßen dessen ureigensten dynamischen Charakter enthüllt und gezeigt hat, daß seine Aktivität sein eigentliches Wesen ist. Die moderne Physik verwandelte das Bild vom Universum als einer Maschine in die Vision eines unteilbaren dynamischen Ganzen, dessen Teile grundsätzlich in Wechselbeziehungen zueinander stehen und nur als Muster eines kosmischen Prozesses verstanden werden können“ (4, S. 97).
3.3 Physik und östliche Mystik, Gegenzitate
3.3.1 Capra zitiert Bohr: „Um zur Lehre der Atomtheorie eine Parallele zu finden, ... müssen wir uns den erkenntnistheoretischen Problemen zuwenden, mit denen sich bereits Denker wie Buddha und Lao-tzu auseinandersetzten, wenn wir einen Ausgleich schaffen wollen zwischen unserer Position als Zuschauer und Akteure im großen Drama des Daseins“ (3, S. 14; 2, S. 18).
Tatsächlich setzt Bohr diese Aussage jedoch so fort:
3.3.2 Bohr: „Die Erkenntnis einer solchen Analogie des rein begrifflichen Charakters der Probleme, welchen wir auf so verschiedenen Forschungsgebieten (Physik, Psychologie und Philosophie) begegnen, darf jedoch keineswegs mit der Einführung irgendeines dem wahren Geist der Wissenschaft FREMDEN MYSTIZISMUS verwechselt werden. Ganz im Gegenteil regt uns diese
Erkenntnis dazu an, zu untersuchen, wie weit eine logische Lösung der unerwarteten Paradoxien, denen wir bei der Anwendung unserer einfachsten atomphysikalischen Begriffe begegnen, dazu beitragen könnten, begriffliche Schwierigkeiten auch in anderen Forschungsbereichen zu überwinden“ (2,S.19).
3.3.3 Heisenberg: „Natürlich darf man die Einführung des Beobachters NICHT dahin mißverstehen, daß etwa subjektivistische Züge in die Naturbeschreibung gebracht werden sollten. Der Beobachter hat vielmehr nur die Funktion, Entscheidungen, d. h. Vorgänge in Raum und Zeit zu registrieren, wobei es NICHT darauf ankommt, ob der Beobachter ein Apparat oder ein Lebewesen ist; aber die Registrierung, d.h. der Übergang vom Möglichen zum Faktischen ist hier unbedingt erforderlich und kann aus der Deutung der Quantentheorie nicht weggelassen werden“ (7, S. 128).
3.3.4 Heisenberg: „Sicher enthält die Quantentheorie KEINE eigentlich subjektiven Züge, sie führt NICHT den Geist oder das Bewußtsein des Physikers als einen Teil des Atomvorgangs ein“ (7, S.39).
3.3.5 Ebenso betont C. F. v. Weizsäcker: „Er (der Beobachter) wird in der Beschreibung der Experimente nicht mitbeschrieben. Er ist vielmehr derjenige, der es beschreibt. Dabei kommt es aber auf ihn als diese individuelle Person gerade nicht an“ (13, S. 530).
3.3.6 Auch aus dem Gesamtwerk Heisenbergs läßt sich eine wirkliche Verbindung von Quantenphysik und östlicher Mystik kaum ableiten. Neben sehr wenigen eher anekdotenhaften Hinweisen auf die chinesische Philosophie steht eine weit über
wiegende Zahl von Argumenten, die Heisenbergs Auseinandersetzung mit der antiken griechischen Philosophie, insbesondere den Dialogen Platons, zeigen und so beweisen, daß Heisenbergs Denken vornehmlich um die Ideen der griechischen Philosophie kreiste. Ein Blick in das Register (10) zeigt mindestens 37 Seiten mit Platon-Zitaten. Auch in (9) beschäftigt sich Heisenberg vornehmlich mit griechischer und kantischer Philosophie; selbst die Kapitel über die Beziehungen der Physik zur Biologie, Religion und Metaphysik (9, S. 116, 144, 279) handeln überwiegend von Christentum, Calvinismus, Pragmatismus, Positivismus' nicht jedoch von östlicher Mystik. In 3.3.2 wird Mystizismus ausdrücklich abgelehnt; ferner ist glaubhaft überliefert, daß Bohr und Heisenberg nicht sicher sagen konnten, was das Wort „Tao“ eigentlich bedeutet (9, S. 189).
4. Bewertung der Zitate
Capras Aussage (3.1.1) „So kann beispielsweise kein Signal schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden. Aber jenseits ... „ hat - sofern man sie überhaupt verstehen kann - die Form: „Kein Elefant kann fliegen. Aber jenseits dieser trampelnden Elefanten gibt es fliegende Elefanten.“ Ebenso irreführend ist (3.1.2) seine Formulierung: „Nach Bohr ist das Zwei-Teilchen-System ein unteilbares Ganzes ... „ Der Leser muß daraus schließen, Bohr sei im Gegensatz zu Einstein ein Vertreter der Fernwirkung gewesen. Das Gegenteil ist richtig.
Capras Behauptung „Das Elektron besitzt keine von meinem Bewußtsein unabhängigen Eigenschaften“ (3.2.1) wird nach Auflösung der darin enthaltenen doppelten Verneinung besonders deutlich. Dann heißt der Satz: „Alle Eigenschaften des Elektrons hängen von meinem Bewußtsein ab.“ Es kommt bei ihm also auf eine bestimmte Person und deren individuelles Bewußtsein an. Tatsächlich sprechen jedoch die Zitate der Autoritäten (3.3.3 - 3.3.5) eindeutig dagegen. Es ist auch später niemals beobachtet worden.
Konsequenterweise dürfte nun der Leser erwarten, Capra würde mitteilen, er selbst habe schon einmal eine Eigenschaft eines Elektrons beeinflußt. Auf diese Mitteilung wartet der Leser jedoch vergebens. Weder Capra noch irgendein anderer Mensch hat bisher eine Eigenschaft eines Elektrons (Ladung, Ruhemasse, Drehimpuls) beeinflußt, weder mit Hilfe seines Bewußtseins noch auf irgendeine andere Weise. Der Leser wird jedoch durch Capras Darstellung zu dem Schluß verleitet, er selbst könne mit Hilfe seines Bewußtseins übernatürliche Wirkungen ausüben.
Seit der Quantendebatte in den dreißiger Jahren ist eine große Zahl immer weiter verfeinerter Experimente mit Photonen (Licht), Elektronen und Neutronen durchgeführt worden. Bisher haben alle derartigen Experimente eine Bestätigung der Lehrbuchphysik (d. h. der Richtung Bohr-Heisenberg) ergeben. Hätte irgendeiner der zahlreichen an diesen Experimenten beteiligten Forscher eine Abweichung von der Lehrbuch-Quantenphysik im Sinne von Capras Aussagen (Beeinflussung von Ereignissen durch das Universum, Beeinflussung von Elementarteilchen durch ein menschliches Bewußtsein) festgestellt, so hätte er zweifellos nicht geschwiegen, sondern die Ergebnisse auf dem schnellsten Wege veröffentlicht, da eine experimentell bewiesene Abweichung von der Lehrbuch-Quantenphysik im höchsten Maße nobelpreiswürdig ist.
Capra nimmt durch Formulierungen wie „bewußtseinsabhängige Eigenschaften der Elektronen“, „nichtlokale, unmittelbare Zusammenhänge und Beziehungen zum Universum als Ganzem“, „Das Ganze ist zugleich jeder Teil“, „Beeinflussung jedes Ereignisses durch das gesamte Universum“, „transzendierte Vorstellung von Informationsübermittlung“, „Einbeziehung des menschlichen Beobachters und seines Bewußtseins in ein unteilbares kosmisches Gewebe“ zumindest billigend in Kauf, daß Laien (an die sich seine Bücher wenden), ihn dahingehend mißverstehen, aus der Quantenphysik folge, ein Mensch könne allein mit Hilfe seines Bewußtseins, also seiner Willensentscheidung, ohne Einsatz von Energie Botschaften empfangen und senden sowie entfernte Ereignisse beeinflussen und so Telepathie, Telekinese und außersinnliche Wahrnehmungen durchführen.
5. Ferguson
Beispiele derartiger Mißverständnisse finden sich in Marilyn Fergusons Buch „Die sanfte Verschwörung“.
„Damit gelangen wir zu Bells verblüffendem Theorem. Experimente zeigen, daß, wenn paarweise angeordnete Teilchen (die bezüglich ihrer Polarität identische Zwillinge sind) sich voneinander wegbewegen und die Polarität des einen Teilchens durch einen Experimentator verändert wird, sich das andere Teilchen augenblicklich ebenfalls verändert. Sie bleiben auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden.
Bernard d'Espagnet, ein Physiker an der Universität von Paris, schrieb 1979: 'Der Bruch mit Einsteins Annahmen scheint zu implizieren, daß all diese Objekte in gewissem Sinne ein unteilbares Ganzes bilden'. Dieser Effekt wird wahrscheinlich nicht durch eine Übermittlung von Informationen
verursacht, meint der Physiker Nick Herbert, zumindest nicht im üblichen Sinne. Vielmehr ist es 'eine einfache Konsequenz der Einheit aller scheinbar voneinander getrennten Objekte ... ein quantenmechanisches Schlupfloch, durch das die Physik nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit jener unitären Sicht der Mystiker anerkennt: Wir sind alle eins.'„ (6, S. 200)
„Die Tatsache des indirekten Sehens (das Sehen über eine große Entfernung hinweg, von altersher bekannt als Hellsehen), der Telepathie (Übermittlung von Gedanken), der Präkognition (Kenntnis von in der Zukunft liegenden Ereignissen), der Psychokinese (Interaktion von Geist und Materie) und der Synchronizität (bedeutungsvolle Übereinstimmungen, eine Mischung der anderen Phänomene) .... Es konnte nachgewiesen werden, daß der menschliche Wille über gewisse Entfernungen auf Materie einwirkt, auf die Teilchen in einer Nebelkammer, auf Teilchen eines Kristalls und auf radioaktive Zerfallsraten“ (6, S. 203).
Fergusons Aussagen entsprechen genau Capras Darstellung der Physik. Die erste Aussage von der augenblicklichen Wechselwirkung behauptet Fernwirkung aus dem EPR-Gedankenexperiment, also dem Verhalten der Quantensplitter, die Aussage von der „unteilbaren Einheit“ entspricht der Behauptung des Zusammenhangs mit dem Universum; daraus wird ein Zusammenhang zwischen Quantenphysik und Mystik konstruiert und schließlich wird die Behauptung aufgestellt, ein Mensch könne mit Hilfe seines Willens unter anderem den radioaktiven Zerfall beeinflussen.
Für Capra hätte es demnach zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder er hält Fergusons Behauptungen für unwahr, dann hätte er als Physiker der Autorin raten sollen, diese Passagen zu streichen, oder er hält diese Behauptungen für wahr, dann hätte er den Meldungen nachgehen können, um die betreffende Person, die dieses Kunststück fertiggebracht haben soll, kennenzulernen und vielleicht selbst eine Erklärung für dieses lehrbuchsprengende Experiment zu finden. Es hätte dann gute Aussicht bestanden, daß diese Person oder Capra oder beide gemeinsam den Nobelpreis erhalten hätten. Stattdessen ist offenbar beides nicht geschehen, sondern die Behauptungen stehen ohne weiteren Kommentar in Fergusons Buch, zu dem Capra ein freundliches Vorwort geschrieben hat.
6. Zusammenfassung
Capras Deutung der Quantenphysik geht somit in folgenden Punkten fehl:
a) Heisenbergs Satz: „Die 'Bahn' ...“ (1.1) hat in der Vergangenheit bei mehreren Autoren eine Gedankenkette von Mißverständnissen ausgelöst, die durch Capra auf die Spitze getrieben wurden.
Heisenberg: Durch eine Beobachtung wird die Bewegung eines Elektrons geändert
Durch eine Beobachtung werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert
Durch einen Beobachter werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert
Durch einen menschlichen Beobachter werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert
Durch das Bewußtsein eines menschlichen Beobachters werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert
Durch mein Bewußtsein werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert
Capra: Alle Eigenschaften eines Elektrons hängen von meinem Bewußtsein ab.
b) Er verkehrt die Bohr-Einstein-Debatte in ihr Gegenteil: Bohr und Einstein waren sich darin einig und setzten als selbstverständlich voraus, daß es keine Fernwirkung gibt. Die Diskussion ging darum, ob - bei vorausgesetzter Nichtexistenz der Fernwirkung - aus dem EPR-Gedankenexperiment geschlossen werden dürfte, die Quantenphysik sei unvollständig (wie Einstein behauptete) oder nicht (wie Bohr behauptete). Das von EPR zum Zwecke der Argumentation angenommene Absurdum wird von Capra in eine positive Aussage verwandelt und in unklarer Weise mit der Rolle der Wahrscheinlichkeit in der Quantenphysik vermischt.
c) Für die von Capra behauptete Wechselwirkung von Quantenprozessen mit dem gesamten Universum gibt es weder einen Hinweis aus den Zitaten der Autoritäten noch irgendeinen experimentellen Beweis.
d) Das gleiche gilt für die von Capra behauptete Verbindung von Physik und östlicher Mystik.
Prof. Dr. Martin Lambeck, geb. 1934 in Berlin. Studium des Wirtschaftsingenieurwesens und der Physik in Berlin. 1959 Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Physik. 1964 Promotion zum Dr.-Ing. 1969 Habilitation für Physik (Habilitationsschrift als Buch "Barkhausen-Effekt und Nachwirkung in Ferromagnetika". de Greer, Berlin 1971). Seit 1970 Professor am Fachbereich Physik der TU Berlin. Veröffentlichungen auf den Gebieten Optik, Magnetismus, zerstörungsfreie Werkstoffprüfung, Physik-Didaktik, Zusammenhang der Physik mit dern geistesgeschichtlichen Umfeld, Übersetzungen aus dem Englischen. Anschrift: Fachbereich Physik, Technische Universität, D-1000 Berlin 12
Literatur
- Baumann, K., Sexl, R.U.: Die Deutungen der Quantentheorie. Vieweg (Braunschweig/Wiesbaden) 1986
- Bohr, N.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Vieweg (Braunschweig/Wiesbaden) 1985.
- Capra, F.: Der kosmische Reigen. Scherz (Bern/München/Wien) 7. 1977
- Capra, F.: Wendezeit. Scherz (Bern/München/Wien) 13. 1986
- Einstein, A., Born, H., Born, M.: Briefwechsel. Nymphenburger Verlagsbuchhandlung (München) 1969, S. 204
- Ferguson, M.: Die sanfte Verschwörung - Persönliche und gesellschaftliche Transformation im Zeitalter des Wassermanns. Sphinx (Basel) 3. 1983
- Heisenberg, W.: Physik und Philosophie. Hirzel (Stuttgart) 1959
- Heisenberg, W., Bohr, N.: Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie. Battenberg (Stuttgart) 1963
- Heisenberg, W.: Der Teil und das Ganze. Piper (München)1969
- Heisenberg, W.: Schritte über Grenzen. Piper (München) 1971
- Hoffmann, B., Dukas, H.: Einstein - Schöpfer und Rebell. Fischer Taschenbuch Nr. 2022. Fischer (Frankfurt/Main) 1979
- Meyenn, K.v., Stolzenburg, K., Sexl, R.U. (Hrsg.): Niels Bohr 1885-1962. Der Kopenhagener Geist in der Physik. Vieweg (Braunschweig/Wiesbaden) 1985
- Weizsäcker, C.F.v.: Aufbau der Physik. Hanser (München)1985,S.530
Dieser Beitrag erschien im "Skeptiker" 03/1989.