Sven Gottschling, Lars Amend
Wer heilt, hat Recht
Chancen und Grenzen der Alternativmedizin
Fischer Verlag 2019, ISBN: 978-3-596-70317-3, € 16,99
Das neue Buch „Wer heilt, hat Recht“ von Bestsellerautor und Arzt Prof. Sven Gottschling hat mir beim Lesen und Rezensieren echt Kopfschmerzen bereitet. Es erhebt den Anspruch, für Patienten zu zeigen, welche der vielfältigen Methoden und Mittel der sogenannten Alternativmedizin denn nun wirklich heilen – und diese von Geldmacherei und
Scharlatanerie zu trennen. Zum einen lehnt Gottschling viele Alternativmethoden radikal, ja fast schon brutal ab (Kinderärzten und Heilpraktikern, die Eigenblutbehandlung bei Kindern anbieten, möchte er gar eine Eigenbluttherapie mit einem Schienbeintritt angedeihen lassen) und begründet dies auch weitgehend gut und wissenschaftlich nachvollziehbar.
Andererseits – Nachtigall, Sie wissen schon – hört diese Skepsis wohl bei genau den Therapieverfahren auf, die er als Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie der Universitätsklinik des Saarlandes anbietet. Dies sind, soweit ich das nachvollziehen konnte, insbesondere ein anthroposophisches Medizinverständnis
(wobei er die anthroposophische Impf- und Fiebersenkungsablehnung wiederum partiell kritisiert) und die Akupunktur, sowie etwas ungewöhnlichere Methoden, wie die tiergestützte Therapie. Ich habe mich beim Lesen mehrfach gefragt, wieso.
Ich selbst weiß ja aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, liebgewonnene Verfahren wirklich auf die Probe zu stellen und eigene Voreingenommenheiten und Überzeugungen zu überwinden. Es fällt auf, dass sich Gottschling,der sich über komplementäre Behandlungsmethoden in der Kinderheilkunde habilitierte, an den Fortschritt der Medizin, wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und wissenschaftliche Methodik hält – bei von ihm entfernten Verfahren wie der Homöopathie. Hier lässt er Einzelfallerfahrungen nicht gelten, erklärt die Macht des Placebo-Effekts und verbreitete Denkfehler – um, so kam es mir leider vor, genau diese dann bei „seinen“ Methoden zu machen. Ich habe mir die von ihm im Buch zur Akupunktur zitierten Studien angesehen, denn anhand dieser begründet er seine Überzeugung. Es handelt sich um kleine Studien von 11 – 43 Kindern, die in seiner und anderen Kliniken (Multicenterstudien) und ohne Verblindung durchgeführt wurden.
In besonderer Weise ist Gottschling von der Laserakupunktur überzeugt, obwohl es für deren Wirkung oder gar Überlegenheit gegenüber konventioneller Akupunktur keine oder nur wenig überzeugende Belege gibt. Aus meiner Sicht eher ein Nachweis dafür, dass das Ritual, der „Akt des Nadelns“, viel wichtiger ist als die genaue Methode.
Akupunktur-Studien
Eine der wohlklingenden Studien im Buch umfasst nur 11 Kinder mit Übelkeit bei Chemotherapie. Sie be-kamen zusätzlich zur konventionellen Anti-Übelkeitsmedikation Akupunktur am ersten Tag und immer, wenn sie es wollten – ohne Verblindung. Übelkeit reagiert generell sehr gut auf Placeboeffekt, sodass ich die starken Aussagen ohne Einschränkung („Wirkung konnte sehr eindrucksvoll belegt werden“) nicht nachvollziehen kann. Eine weitere zitierte Studie umfasst 23 Teilnehmer. Es wurden hier etwas andere Endpunkte als in der vorgenannten Studie gewählt, und zwar die zusätzliche Bedarfsmedikation sowie die Häufigkeit des Übergebens. Aber warum? Und warum blieb es – wenn die Ergebnisse so überzeugend waren (wieder „eindrucksvoll belegt“) – nur bei einer Pilotstudie? Warum macht man nach dem Ergebnis nicht gleich eine richtig große Studie mit gutem Design, sodass ein Bias besser ausgeschlossen werden kann?
Und warum spricht der Autor hier in den höchsten Tönen von einer eindrucksvollen Wirksamkeit – wo er bei ähnlich mauer Beleglage andere Verfahren deutlich ablehnt? Eine Studie mit 43 Patienten wird auch erwähnt – 22 Kinder davon mit Migräne, 21 mit Spannungskopfschmerz, in der Laser-Akupunktur („hochindividualisiert nach den Prinzipien der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)“) und Placebo-Akupunktur miteinander verglichen wurden. Zu dieser Studie mussten Patienten sich selbst melden, über die Hälfte wurde ausgeschlossen, 25 wollten nicht mehr mitmachen, nachdem sie erfahren hatten, worum es geht. Aber hat der Selektionsbias hier gestört bei der Aussage „Wirklich beeindruckende Ergebnisse“? Leider nein. Es lag die Vermutung nahe, dass solche und ähnliche methodische Schwächen bei der Homöopathie für ihn zu einem anderen
Urteil geführt haben könnten.
Blinde Flecken
Gottschling erwähnt zwar richtig,dass der Gemeinsame Bundesausschuss eine Erstattung für Akupunktur für zwei chronische Schmerzdiagnosen zugelassen hat. Die damalige Begründung, die nichts mit einer generellen Wirkanerkennung der Akupunktur oder gar der Prinzipien der TCM zu tun hatte, bleibt jedoch zu unerwähnt. Auch, dass in großen Studien zur Akupunktur kein Unterschied zwischen „richtiger“ und „Fake-Akupunktur“ gemacht werden konnte, bleibt nicht genug beachtet. Das Akupunkturkapitel endet mit der
relativierenden Aussage, dass er wisse, wie groß die Macht der Erwartung sei: „Denn wenn ich als Professor mit sehr viel innerer Überzeugung diese mystische und Jahrtausende alte Therapieverfahren anbiete, ist natürlich unbestritten auch der Placebo- und Erwartungseffekt entsprechend groß.“
Insgesamt weiß ich nicht, ob ich das Buch empfehlen soll. Der fast unterhaltend-joviale Ton macht es leicht zu lesen. Für Nicht-Berufsskeptiker wird viel Neues und Lernenswertes
darin stehen. Auch nehme ich dem Autor das ehrliche Bemühen um eine gute und umfassende Behandlung seiner kleinen, oft schwerst betroffenen Patienten ab. Gerade in der (Kinder-)Schmerztherapie und Palliativmedizin, wo auch der Placebo-Effekt eine besonders wichtige Rolle spielt, darf alles versucht werden, was Linderung verspricht – doch ein „anything goes“ darf daraus nicht werden. Und das ist der springende Punkt. Denn genau das propagiert Gottschling nicht – im Gegensatz zu vielen Berufskollegen. Das ist ihm hoch anzurechnen! Doch um ganzheitliche Aufklärung geht es nach meiner Einschätzung nur dort, wo es für ihn persönlich halbwegs angenehm ist. Die übrigbleibenden blinden Flecken entwerten das Werk aus meiner Sicht leider. Im entscheidenden Moment wird doch wieder auf viel zu kleine, methodisch fragwürdige Studien und Einzelfallberichte („Hier habe ich noch eine Patientengeschichte für Sie“) zurückgegriffen. Das Festhalten am Leitspruch „Altes ist Bewährtes – und es bereichert doch so ungemein“ findet sich zwischen den Zeilen überall. Und das, obwohl der ausgebildete Kinderarzt an anderen Stellen im Buch schreibt, dass glückliche Einzelschicksale nicht gegen eine gute, kontrollierte klinische Studie ankommen, so eindrücklich sie auch sein mögen.
Solche Inkonsequenzen haben mich skeptisch gemacht, wie sehr man Gottschlings Einschätzungen trauen kann, selbst dort, wo sie meinen eigenen entsprachen. Ich habe tatsächlich vieles noch einmal überprüft, um sicher zu sein, dass nicht ich mich irre, denn offenbar ist es sehr schwer, eigene Überzeugungen durch neues Wissen zu ersetzen. Zumal, wenn man sich durch sein tägliches Tun in der Praxis ja bestätigt fühlt – und dort doch nicht trennen kann, ob nicht letztlich nur die eigene Persönlichkeit als „Droge Arzt“, die Hoffnung und Kontexteffekte eine Rolle gespielt haben.
Das Buch streift in kurzer leicht verständlicher Form auch viele andere Alternativ-Verfahren. Eine kleine Auswahl:
- Phytotherapie (im Wesentlichen solide dargestellt mit Indikationen, für die eine Wirkung zumindest nicht abwegig ist)
- Cannabis-Therapie (besser als ihr „Kiffer-Ruf“, Gottschling schildert zwei Patienten, denen es geholfen hat; darf aber nicht als Abzocke bei Krebs verwendet werden),
- Methadon (viel Medienrummel, weniger Belege als bei Cannabis/ Cannabinoiden, vor allem in Bezug auf Krebs kritisch zu sehen, Einsatz muss genau abgewogen werden),
- Vitamin B17 („Finger weg!“)
- Schüßler-Salze (= Placebo)
- Bach-Blüten (= Placebo)
- Bioresonanz (= Placebo plus Scientology)
- Colon-Hydro-Therapie („mit außerordentlicher Phantasie an den Haaren herbeigezogen“)
- tiergestützte Therapie (Stichwort Lebensqualität, gerade bei Kindern in palliativer Situation vertretbar und durch neue Erkenntnisse gesichert)
- Kunsttherapie (hilft vor allem Schwerstkranken, ihre Gefühle, die mit der Krankheit verbunden sind, auszudrücken)
- Musiktherapie (Musik erregt Gefühle und das kann heilen helfen).
Viele, vor allem auch aktuelle Themen werden abgedeckt und mit einem oft sehr klaren Urteil versehen. Gottschlings Worte gegen Heilpraktiker sind regelrecht vernichtend
„ (...) die abstruseste Methoden, Techniken und Glaubenssysteme predigen, die im günstigsten Fall Menschen viel Geld aus der Tasche ziehen, im schlimmsten Fall Patienten nachhaltig schädigen oder sogar zu Todesfällen führen“), aber am Ende bleibt das Fazit insgesamt unlogisch. Er schreibt selbst, dass sein erklärtes Ziel sei, Patienten und ihren Angehörigen eine eigene Meinungsbildung zu ermöglichen und sie vor teuren und womöglich gefährlichen oder lebensverkürzenden „Therapien“ zu bewahren. Das gelingt in vielen Teilen sicherlich und auch aufrichtig – wenn auch nicht mit letzter Konsequenz. Es tut mir leid um die teil-verpasste Chance der Aufklärung, aber auch für den Autoren selbst – er wird sich so zu niemandes „Freund“ machen. Für Alternativheiler wird das Buch wohl insgesamt zu ablehnend, für Skeptiker zu inkonsequent sein. Und so wird das 300-Seiten Werk in bereits veröffentlichen Rezensionen entweder als „GWUP-gesteuertes Propagandawerk“ (obwohl der Autor nicht einmal Mitglied in der GWUP ist oder irgendein Austausch bestand) oder als „mau, voller Banalitäten und eigener Erfahrung“ verrissen.
Natalie Grams
Die Rezension erschien erstmals in Skeptiker 2/2019.