Warum MMS alles andere als ein Allheilmittel ist
Julia Offe
Chemikalienhändler müssen Natriumchlorit (NaClO2) mit dem Gefahrenhinweis "Giftig (T)" kennzeichnen und auf dem Sicherheitsdatenblatt (MSDS) eine Reihe von Hinweisen auf besondere Risiken sowie Sicherheitsratschlägen (R-und S-Sätze) vermerken. Der Stoff dient seit Jahrzehnten – wie andere Chlorverbindungen – zur Desinfektion von Wasser und um industriellen Bleichen von Papier. Für die meisten wohl Grund genug, das Zeug nicht in ihren Speiseplan aufzunehmen. Erstaunlich, dass manche Menschen Natriumchlorit dennoch trinken. Und geradezu bizarr mutet an, dass sie sich damit etwas Gutes tun wollen.
Unter dem Namen Miracle Mineral Supplement (MMS) vertreiben mehrere Anbieter eine 28-prozentige Lösung von NaClO2 in Wasser und preisen sie auf ihren Internetseiten als Allheilmittel an. Sie empfehlen das Zeug gegen verschiedene Krankheiten. So soll es gegen Infektionskrankheiten wie AIDS, Malaria und Tuberkulose wirken, Krebs und chronische Darmkrankheiten heilen und sogar die Erbkrankheit Mukoviszidose lindern.
Zu einer Unzahl von Krankheiten gibt es auf den Seiten Berichte über wundersame Genesungen. Das klingt vielversprechend. Und die Anwendung ist einfach. Einige Tropfen der Wunderlösung soll man mit ebenso vielen Tropfen einer Säure mischen. Ein Anbieter empfiehlt dazu Zitronen- oder Essigsäure, ein anderer schlicht Salzsäure. Dann soll sich die Mischung gelb-grünlich verfärben und beginnen, intensiv zu riechen. Das ist das entstehende Chlordioxid, ClO2. Eine deutschsprachige Seite empfiehlt wegen des Geruchs, die Flüssigkeit währenddessen abzudecken. Das MSDS zu Natriumchlorit enthält übrigens R 32: Entwickelt bei Berührung mit Säure sehr giftige Gase. Nach ein paar Minuten Wartezeit und dem Verdünnen mit etwas Wasser ist das Zeug fertig zum Genießen.
Ihnen wird schlecht? Umso besser!
Die Heilwirkung der Chlorverbindung entdeckt hat der Amerikaner Jim Humble. Auf einer Urwaldtour in Südamerika befiel ihn Malaria – hoch fiebernd trank er ein Wasserdesinfektionsmittel und wurde gesund. Nach seiner Rückkehr in die Zivilisation fing er dann an, das Wundermittel in alle Welt zu tragen.
Aber warum soll das Mittel für den Anwender selbst nicht giftig sein? "Der Grund dafür, dass das stark ätzende Chlordioxid praktisch nur pathogenen Erregern den Garaus macht, liegt darin, dass es nur Mikroben zerstört, deren pH-Wert unter 7 liegt, die also sauer und damit schädlich sind. Denn Übersäuerung ist der Nährboden für Krankheit." (1) Soso. Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft also entlang pH7. Wenn die Dinge so einfach liegen, sollte doch eine schnelle Besserung eintreten.
Genau das Gegenteil ist aber der Fall: es wird sogar empfohlen, die Dosis so weit zu erhöhen, bis die Übelkeit gerade noch auszuhalten ist. Denn: "Wenn Sie Durchfall bekommen oder sich sogar übergeben müssen, ist das kein schlechtes Zeichen. Der Körper scheidet einfach Gifte aus und reinigt sich selbst". ("If you notice diarrhea, or even vomiting, that is not a bad sign. The body is simply throwing off poisons and cleaning itself out.") (2)
Ähnlich argumentieren sonst nur die Homöopathen: Wenn es dem Patienten nach der Einnahme der Zuckerkügelchen besser geht, heißt es, dass das Mittel wirkt. Und wenn es ihm schlechter geht, auch! – dann ist es die "Erstverschlimmerung". Vielleicht gilt aber genau deswegen für NaClO2 auch R 22: Gesundheitsschädlich beim Verschlucken.
"Was Ihr Arzt Ihnen nie erzählen wird..."
Wer die Wirksamkeit des Mittels lieber anhand eines Bluttestes bestätigt haben will – kein Problem. Für schlappe 165 US-Dollar bekommt man ein Testkit zugeschickt, schickt einen Tropfen Blut ein und wartet das Ergebnis ab. Folgendes wird dann geprüft: "Es gibt etwas, was Ihr Arzt Ihnen nie erzählen wird. Einen medizinischen Krebstest, der seit mehr als 25 Jahren zu 99 % effektiv ist. Er ist effektiver, weniger gefährlich und günstiger als alle anderen medizinischen Krebstests. (...) Der Test misst spezifische Krebsantikörper" ("Here is something your doctor will never tell you, there has been a medical test for cancer that is 99 % effective for more than 25 years. It is more effective, less dangerous and cheaper than all other medical cancer tests. (...) The test is for specific cancer antibodies that will be present.) (3)
Und wer gerne den Erfolg bestätigt haben möchte, macht den Test nach der MMS-Kur einfach noch mal: "Man kann den Test machen, dann mehrere Wochen oder einen Monat lang MMS benutzen und dann einen zweiten Test machen, um zu sehen, um wie viel sich der Zustand verbessert hat oder ob überhaupt Besserung eingetreten ist.“ ("One can do a test, use the MMS for several weeks or a month and then do a second test to see how much improvement has taken place or to see if any improvement has happened at all.")
Auch äußerlich angewandt soll das Mittel Wunder wirken: "Zahlreiche Patienten überwanden ihren Hautkrebs, indem sie die betroffenen Stellen zweimal täglich mit 15 Tropfen MMS bestrichen. Diese trockneten aus und lösten sich innerhalb einer Woche von selbst ab. (4) Zumindest letzteres ist kein Wunder: laut MSDS gelten R 24: Giftig bei Berührung mit der Haut und R 34: Verursacht Verätzungen.
Offensichtlich hat sich das Wundermittel aber nicht durchgesetzt. Was nicht etwa an der fragwürdigen Rezeptur liegt, sondern an einer Verschwörung. So schätzt es zumindest die Internetseite zeitenwende2012.at ein:
Ist nun MMS das Allheilmittel auf das die Welt schon längst gewartet hat? Pharmakonzerne und Gesundheitsbehörden bekämpfen Humble und sein MMS bis aufs Blut. Und diese Lobby ist sehr mächtig. Selbst Zigtausende Berichte von Heilerfolgen aller Art können die Behörden nicht überzeugen, hier zählen nur wissenschaftliche Untersuchungen. (5) Eben. Aber genau die müsste man ja machen können. Schließlich sind laut zeitenschrift.com "... über 75000 Malaria-Fälle durch MMS überwunden worden.“ (6)
Verschiedene Internetseiten verweisen sogar auf eine richtige Studie: "Wissenschaftliche klinische Studien sind in einem Gefängnis in Malawi, Ostafrika, durchgeführt worden". ("Scientific clinical trials have been conducted in a prison in the country of Malawi, East Africa.") Dort ging aber nicht etwa darum, Trinkwasser zu desinfizieren. Das kann man mit Chlor sehr gut tun und das ist in Malawi auch eine sehr gute Idee. Nein, die "Studie" handelt von der Heilung von Malaria – deren Erreger sich nicht im Trinkwasser, sondern in Mückenspucke tummeln. Aber wir wollen nicht kleinlich sein.
Es spricht auch nichts gegen wissenschaftliche Studien, die in Gefängnissen von Drittweltländern gemacht werden. Bestimmt war die Untersuchung gut gemacht, die Probanden hatten ihr informed consent erklärt und die zuständige Ethikkommission war einverstanden.
Was aber dagegen spricht, ist Folgendes: Diese Studie ist in der Fachliteratur nirgends zu finden. Dadurch unterscheiden sich die Hersteller von MMS offensichtlich von der Pharmabranche: letztere veröffentlicht meistens die Studien, in denen ihre Mittel gut wegkommen.
Inzwischen gibt es eine Organisation, die MMS in afrikanischen Malariagebieten verbreitet (siehe www.malariasolution. org). Und jedes Wundermittel hält Menschen davon ab, sich bei ernsten Krankheiten echte medizinische Hilfe zu holen.
Ende Juli hat die amerikanische Arzneimittelbhörde FDA eine Warnung vor MMS herausgegeben. Besser als dort kann man den aktuellen Kenntnisstand über MMS nicht zusammenfassen: "Von MMS wird behauptet, dass es mehrere unabhängige Krankheiten heilen kann, unter anderem HIV, Hepatitis, das Grippevirus H1N1, Erkältungen, Akne, Krebs und andere Krankheiten. Der FDA sind keine Forschungsergebnisse bekannt, dass MMS bei der Behandlung einer dieser Krankheiten wirksam wäre." ("MMS claims to treat multiple unrelated diseases, including HIV, hepatitis, the H1N1 flu virus, common colds, acne, cancer, and other conditions. The FDA is not aware of any research that MMS is effective in treating any of these conditions.")
Und ungefährlich ist es auch nicht: "Hohe orale Dosen dieser Bleiche, wie sie auf der Packung angegeben werden, können Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Symptome ernster Dehydrierung auslösen." ("High oral doses of this bleach, such as those recommended in the labeling, can cause nausea, vomiting, diarrhea, and symptoms of severe dehydration".) Was folgt daraus? "Konsumenten, die MMS besitzen, sollten aufhören, es zu benutzen und es wegschmeißen”. ("Consumers who have MMS should stop using it immediately and throw it away.) Und wenn einen doch die Lust auf Chlorwasser überkommt – schwimmen gehen und kraulen üben. Das ist billiger und gesünder.
Anmerkungen:
(1) http://www.zeitenschrift.com/magazin/59_mms.ihtml, Zugriff am 30.09.2010.
(2) http://www.miraclemineral.org/importantinfo.php, Zugriff am 30.09.2010.
(3) http://www.miraclemineral.org/importantinfo.php, Zugriff am 30.09.2010.
(4) http://www.zeitenschrift.com/magazin/59_mms.ihtml, Zugriff am 08.10.2010.
(5) http://www.zeitenwende2012.at/2010/07/20/mms-der-durchbruch-gegen-aids-und-krebs/, Zugriff am 08.10.2010.
(6) http://www.zeitenschrift.com/magazin/59_mms.ihtml, Zugriff am 08.10.2010.
(7) http://www.fda.gov/NewsEvents/Newsroom/PressAnnouncements/ucm220747.htm, Zugriff am 08.10.2010.
Dr. Julia Offe
ist Diplom-Biologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Hamburg und freie Wissenschaftsjournalistin, die neue Formen der Wissenschaftskommunikation sucht und entwickelt. Sie hat den Science Slam in Deutschland populär gemacht. Julia Offe leitet die GWUP-Reginalgruppe Hamburg und bloggt unter http://www.scienceblogs.de/mutterwitz/. Skeptische Kommentare sind willkommen!
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