Die Narrheit sei nun zum Modeartikel geworden, urteilten schon im 19. Jahrhundert Ärzte über die Homöopathie. Der Streit zwischen Allopathen und Alternativheilern führte 1835 gar zum "Nürnberger Kochsalzversuch" – dem ersten Doppelblindtest der Medizingeschichte.
Bernd Harder
Ungeheuerliches geschieht um das Jahr 1830 im Königreich Bayern: Berichte über spektakuläre Heilerfolge mit einer neuen Behandlungsmethode machen die Runde. So vermeldet etwa der Bayerische Landbote: "I. Durchl. die Frau Fürstin von Thurn und Taxis, welche angeblich an einem Skirr (Verhärtung) des Magens leidet, und in Folge dessen schon so weit herabgekommen war, daß Sie von 4 Aerzten aufgegeben wurde, sich deßwegen nach Nürnberg verfügte, um von dem dortigen homöopatischen Arzt Dr. Reiter sich homöopathisch behandeln zu lassen, ist indessen in kaum zu erwartender Besserung so weit vorgerückt, daß Sie nun bereits seit 14 Tagen von allem Erbrechen, welches Sie vorher unaufhörlich quälte, befreit ist und schon eines blühenden Aussehens, trotz der fortgeführten magersten Diät, sich erfreut."
Besagter "Dr. Reiter" heißt eigentlich Reuter, Johann Jakob mit Vornamen, und praktiziert in der wohlhabenden fränkischen Handelsmetropole als einer von zwei ortansässigen Homöopathen. Auswärtige Patienten von hohem Rang gehen bei ihm ein und aus, darunter die Adlige Caroline Freifrau von Lindenfels, die sich wegen der anhaltenden Kopfschmerzen ihrer Tochter Louise entschließt, den Herrn Doctor Reuter zu konsultieren. Ihrem Tagebuch (1) vertraut sie an: "Das Benehmen des Doctors hat mir sehr wohl gefallen; er fragte so gründlich, seine Ansichten und Urtheile waren so richtig, daß er mir recht viel Zutrauen einflößte. Überdies sieht er selbst sehr gesund und heiter aus und zeigte sich über Tisch als einen sehr jovialen Mann."
Unverstand und Leichtgläubigkeit
Eingetrübt wird Reuters Heiterkeit indes durch beständige Polemiken gegen seine Methode, welche auf der Behauptung des Arztes Samuel Hahnemann (2) gründet, man könne die Wirkkraft von Arzneimitteln durch extrem starke Verdünnung steigern, indem so das eigentliche, immaterielle Wirkprinzip freigesetzt werde. Scharfe Repliken lassen nicht lange auf sich warten, und unter den Gegnern der Homöopathie tut sich besonders der Nürnberger Medizinalrat Friedrich Wilhelm von Hoven hervor.
Unter dem – leicht durchschaubaren – Pseudonym "Dr. Ernst Friederich Wahrhold" bringt er 1834 die Schrift "Auch Etwas über die Homöopathi" (3) in Stellung und ergeht sich in Ressentiments gegen Hahnemanns Lehre, die "auf den Unverstand und die Leichtgläubigkeit der Menschen berechnet" sei. Reuter reagiert erwartungsgemäß, indem er seinem Kritiker völlige Unkenntnis vorwirft: Die Wirksamkeit der homöopathischen Behandlung sei durch die Erfahrung vielfach belegt, selbst bei Tieren, Kindern und Irren.
"Macht’s nach, aber genau!"
Verlassen wir an dieser Stelle vorerst das Nürnberg des 19. Jahrhunderts und machen einen Zeitsprung nach Ingolstadt, im Sommer 2010. "Der Streit um die Homöopathie" ist eine Veranstaltung des Deutschen Medizinhistorischen Museums (4) überschrieben, in deren Verlauf der Erlanger Medizinhistoriker Dr. Fritz Dross (5) in die Rolle des Medizinalrats von Hoven/Wahrhold schlüpft und Museumsdirektorin PD Dr. Marion Maria Ruisinger (6) den Part des Johann Jakob Reuter übernimmt.
In einer szenischen Lesung dokumentieren sie den historischen Schlagabtausch, der vor allem eins deutlich macht: "Dass es in 200 Jahren nicht gelungen ist, neue Argumente gegen die Homöopathie zu finden", wie Dross nach dem Dialogstück feststellt.
In der Tat, denn die Repliken des Streitgesprächs klingen ziemlich heutig und seien im Folgenden auszugsweise wiedergegeben:
Wahrhold: Was gegen sie (die Homöopathie; Anm. d. Autors) zu sagen ist, ist längst gesagt. Sie ist wissenschaftlich geprüft, sieist scherzhaft und satyrisch behandelt worden; ich könnte nichts thun, als das bereits Gesagte wiederholen, und ohne Zweifel würde ich eben so wenig dadurch ausrichten, als meine Vorgänger … Eine Lehre, die weder auf wissenschaftlichen Gründen beruht, noch auf sichere und richtig gedeutete Erfahrungen sich stützt, kann auch nicht wissenschaftlich widerlegt werden; man muß sie ihrem Schicksal überlassen, und so hätte man es nach meiner Ansicht auch mit der Homöopathie halten sollen, denn opinionum commenta delet dies.
Daß ihr Sturz nicht schon jetzt erfolgt ist, kommt lediglich daher, dass ihr Urheber nicht nur weit mehr versprochen hat, als die Urheber früherer Systeme, sondern auch besser, als jeder andere, die Leichtgläubigkeit der Menschen zu benutzen verstanden hat. Er ist nicht, wie seine Vorgänger, bloß als Reformator alter Heilkunde, sondern als Schöpfer einer ganz neuen, und einer solchen aufgetreten, die ganz dazu gemacht ist, die Leichtgläubigkeit der Menschen zu berücken. Sich nicht begnügend, bloß die Mängel der eingeführten Heilkunde aufzudecken und zu verbessern, warf er sie ganz über den Haufen. Alles bisherige Wissen erklärte er für unnützen gelehrten Quark.
Reuter: Und was hat der Homöopathie in neuerer Zeit so viele Aerzte zugeführt? Der Probirstein der Medizin, die Noth der Cholera. Während die Allöopathie unendlich viel Hypothesen aufstellte und noch mehr Mittel dagegen empfahl und nur das Heilen vergaß, hat sich die Homöopathie herrlich bewährt.
Wahrhold: Sie ist eigentlich gar keine Heilart, denn welcher vernünftige Mensch kann glauben, dass der millionste oder gar der decillionste Theil eines Arzeneystoffes noch etwas bewirken könne?
Reuter: Keine Sylbe höre ich davon, daß jede homöopathische Arznei ein specificum gegen eine bestimmte Krankheitsform sey. Kann der Blinde fordern, daß man seinem Urtheile über die Farben glaube? Und in der That, Herr Doctor, Schriften von Homöopathen scheinen in ein nicht viel näheres Verhältniß zu Ihnen gekommen zu seyn, als die Farben zum Blinden …
Wahrhold: Also noch einmal: die Homöopathen geben eigentlich gar keine Arzeneyen. Sie überlassen die Heilung ihrer Kranken lediglich der Natur … Daß eine so unsinnige, den ersten Grundsätzen der Physik, und selbst dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufende Lehre by Layen und Aerzten Beyfall fand, ist leicht zu begreifen. Sie ist auf die Unwissenschaft und Aberglauben berechnet, und was vermag bey den meisten Menschen mehr, als das Wunderbare, Unbegreifliche, Unsinnige?
Reuter: Daß die Grundsätze der Physik auf lebende Körper nicht passen, ist schon von den Allöopathen ganz klar ausgemittelt und braucht von mir nur angeführt zu werden. Es ist daher kein Vorwurf für die Homöopathie, daß sie den Gesetzen der Schwere, der Optik entgegen ist. Es giebt noch viele Kräfte in der Natur, die wir bisher nicht ahneten. Wollen wir eine neuentdeckte Kraft deswegen wegleugnen, weil sie in unsern Erkenntnißkreis nicht paßt?
Wahrhold: Der Glaube thut Wunder, sagt man, und solche Wunder tut auch der Glaube an die Homöopathie … Ihre Tröpfchen, Pülverchen und Kügelchen nützen nichts, weil sie nichts nützen können. Helfen sie etwas, so geschieht es, weil die Kranken an ihre Wirksamkeit glauben. Diesen Glaubendem Publikum beyzubringen, ist die große Kunst der Homöopathen.
Reuter: Der nähere Grund, warum Sie unbeweglich bei dem Vorurteile beharren, ist kein anderer, als weil Sie die Homöopathie nicht praktisch und nach den Vorschriften der Homöopathen selbst geprüft haben. Wie oft sollen die Homöopathen ihren Gegnern noch zurufen: "Machts nach, aber machts genau nach!" So werdet ihr dieselben Resultate gewinnen.
Wahrhold: Wie viele Charlatans auch zu allen Zeiten aufgetreten sind, keiner, weder ein religiöser noch ein medicinischer, hat eine so große Rolle gespielt wie Hahnemann, kein Paracelsus, kein Cagliostro, kein Meßmer, kein Gaßner, kein Hohenlohe. Das waren nur Charlatans gewöhnlicher Art, er ist ein Charlatan in der höheren Potenz.
"There ist nothing in it"
Schließlich beschwört Reuter seine Gegner, nicht alles nach Gewicht und Maß zu beurteilen und die neue Heilmethode nicht voreingenommen theoretisch, sondern praktisch zu überprüfen. Und tatsächlich kommt es daraufhin zu einem Experiment, das durchaus vergleichbar ist etwa mit der Kampagne "10^23 – Homeopathy: there‘s nothing in it" (7) britischer Skeptiker von 2010.
Mehr noch: Der "Nürnberger Kochsalzversuch" gilt als erster Doppelblindtest der Medizingeschichte. "Erst die Auseinandersetzung mit neuen, alternativen Heilverfahren wie dem Mesmerismus und der Homöopathie führte schließlich dazu, dass man Versuchsanordnungen ersann, die es in nie dagewesener Weise erlaubten, verfälschende Einflüsse auszuschalten, um so die Wirksamkeit der Medikamente beweisen oder widerlegen zu können", schreibt der Würzburger Medizinhistoriker Prof. Michael Stolberg (8) in einem Aufsatz (9) im Katalog zur Homöopathie-Ausstellung im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt.
Detailliert schildert Stolberg (10) darin das Experiment von 1835, das nichts weniger "als eine kleine wissenschaftsgeschichtliche Sensation" birgt. Schauplatz ist der Gasthof "Zum Rothen Hahn" in der Königstraße.
Dort versammeln sich am 19. Februar 1835 rund 130 Personen. 55 von ihnen nehmen aktiv an dem Versuch teil. Auch die Allgemeine Zeitung von und für Bayern ist vor Ort und berichtet engagiert über das groß angekündigte Event, das die "Nullität" der Homöopathie beweisen soll. Die Probanden sollen nach dem Vorschlag Reuters einige Tropfen einer dreißigfach "potenzierten" Kochsalzlösung auf nüchternen Magen einnehmen. Ein homöopathisches Standardwerk jener Zeit behauptet eine "15 bis 20 Tage anhaltende Wirkung". Und auch Johann Jakob Reuter verspricht den Teilnehmern, dass sie "etwas Ungewöhnliches darauf fühlen werden, auch ohne Glauben".
Wirkung "auch ohne Glauben"?
Aber wie kann er definitiv ausgeschlossen werden, der Anteil des "Glaubens" an der Wirkung des Arzneimittels? Es gilt, "alles zu vermeiden, was die einzelnen Versuchspersonen den Empfang bestimmt homöopathisch arzneilicher oder bestimmt unarzneilicher Versuchsgaben vermuthen laßen könnte", erklärt ein leitender Redakteur der Allgemeine Zeitung namens George Löhner seinen Lesern. Löhner fungiert zugleich auch als Versuchsleiter – und ersinnt zusammen mit dem Stadtgerichtsarzt Solbrig einen doppelt "verblindeten" Ablauf des Experiments.
"100 gereinigte Gläser wurden mit fortlaufenden Nummern von 1 bis 100 versehen, gut durchmischt und je zur Hälfte auf zwei Tische gestellt", hat Michael Stolberg recherchiert. "Die Hälfte der Gläser wurde mit der potenzierten Kochsalzlösung, die andere mit reinem destilliertem Schneewasser gefüllt. Löhner fertigte ein Verzeichnis der Gläschennummern mit der Angabe des jeweiligen Inhalts an, das sofort von der Kommission versiegelt wurde. Sämtliche 100 Gläser wurden nun nochmals gründlich durchmischt und der Kommission zur Verteilung an die Versuchspersonen übergeben. Weder die Kommission noch die Versuchspersonen hatten somit Kenntnis des jeweiligen Gläscheninhalts …"
Alle Teilnehmer werden eingeladen, mündlich am 12. März im "Rothen Hahn" oder zuvor schriftlich über ihre Erfahrungen zu berichten. Erst nach Protokollierung der Berichte wird das versiegelte Verzeichnis geöffnet, das Auskunft darüber gibt, wer von den Probanden die Kochsalzlösung eingenommen hat und wer das reine Wasser.
Gesundes Misstrauen
Und wie ist er nun ausgegangen, der erste "Homeopathic Challenge" anno 1835? Ernüchternd – für Johann Jakob Reuter. Die große Mehrheit der Versuchsteilnehmer (42) gibt an, nichts Ungewöhnliches in ihrem Befinden bemerkt zu haben – von ihnen hatten 19 das homöopathische Arzneimittel und 23 das Schneewasser eingenommen. "Die übrigen acht berichteten vor allem von leichten Unterleibsbeschwerden oder Erkältungen", schreibt Stolberg. "Fünf von ihnen hatten potenziertes Kochsalz und drei reines Wasser erhalten."
Und doch: Das Ziel, die Öffentlichkeit von der Nichtigkeit der Homöopathie zu überzeugen und dem homöopathischen Treiben im Königreich und in Nürnberg selbst den Garaus zu machen, erreichen die Gegner nicht. Reuter avanciert nach Eigendarstellung gar zum "beschäftigtsten Arzt der Welt" und protzt mit "täglich hundert Patienten". Das zeitgenössisch Publikum wiederum sieht sich "einmal mehr in der Überzeugung bestätigt, dass man ärztlichen Versprechungen gleich welcher Art am besten grundsätzlich mit gesundem Misstrauen begegnete".
Und so kann die Medizinhistorikerin Prof. Renate Wittern-Sterzel (Erlangen) die Ingolstädter Veranstaltung am Ende in einem Satz zusammenfassen: "Die Diskussion um die Homöopathie wird weitergehen."
Anmerkungen:
(1) Spies, B. (2009): Das Tagebuch der Caroline von Lindenfels, geb. von Flotow (1774–1850). Leben und Erleben einer oberfränkischen Adligen am Ende der ständischen Gesellschaft. Waxmann, Münster.
(2) * 10. April 1755 in Meißen; † 2. Juli 1843 in Paris.
(3) Das Original ist als pdf verfügbar unter http://epub.ub.uni-muenchen.de/2796/1/Reising.a.850.pdf.
(4) Im Rahmen der Ausstellung "Homöopathie – 200 Jahre Organon" vom 13. Mai bis 17. Oktober 2010.
(5) Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
(6) Medizinhistorikerin und Fachärztin für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren.
(7) http://www.1023.org.uk.
(8) Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg.
(9) Michael Stolberg: „Der Nürnberger Kochsalzversuch“ in: Ruisinger, M. M. (2010): Homöopathie – 200 Jahre Organon“, Katalog zur Ausstellung im Deutschen Medizinhistorischen Museum, Seite 33 bis 41.
(10) Siehe auch http://hpathy.com/homeopathy-scientific-research/inventing-the-randomized-double-blind-trial-the-nuremberg-salt-testof-1835/.