Im Jahr 2005 erschien die fünfte Auflage des erstmals 1991 erschienen Handbuchs „Die Andere Medizin". Der Band richtet sich in erster Linie an medizinische Laien. Während viele der darin bewerteten Verfahren in den Unterhaltungsmedien oft völlig unkritisch oder bewusst positiv gefärbt dargestellt wer den, spricht das Buch Klartext. Dafür wurden die Stiftung und die Autorinnen von den Anhängern der umstrittenen Verfahren heftig kritisiert. Der Skeptiker sprach mit einer der beiden Autorinnen, Dr. Krista Federspiel.
Interview mit Autorin Krista Federspiel |
Skeptiker: Frau Federspiel, vor 14 Jahren erschien "Die Andere Medizin" in erster Auflage. 2005 präsentierte die Stiftung Warentest eine komplett neu überarbeitete Auflage. Warum war das notwendig?
In der Blütezeit der „Alternativmedizin" war es damals das erste Buch mit einer neutralen Darstellung unkonventioneller medizinischer Angebote. Die journalistische Recherche war damals sehr schwierig, denn es gab noch sehr wenig wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den so genannten „Alternativ"-Verfahren. Einerseits vertraten viele Anbieter die Ansicht, diese Art von Medizin sei so individuell, dass sie nicht nach den üblichen Methoden untersucht werden könne; andererseits konnten Wissenschafter, die sich diesen Themen widmeten, keinen Ruhm ernten. Allerdings hatten einige Mediziner begonnen, sich dafür zu interessieren, weil sie
immer wieder mit überzogenen Versprechungen von „Alternativ"-Heilern und deren Folgen konfrontiert wurden. Frau Prof. Irmgard Oepen, Medizinerin, Mitbegründerin und erste Präsidentin der GWUP, hat hier wichtige Pionierarbeit geleistet. Wir waren damals also auf die Expertise mehrerer Experten angewiesen. Inzwischen hat sich die Situation geändert: Gepuscht von den Unterhaltungsmedien haben sich Außenseiterverfahren im Gesundheitsmarkt so weit etabliert, dass man um die Auseinandersetzung nicht mehr herumkommt. Und manche Vertreter der unkonventionellen Medizin haben verstanden, dass ihre Methode im Medizinbetrieb nur dann
Anerkennung bekommen kann, wenn die Wirksamkeit seriös nachgewiesen ist, und von sich aus Untersuchungen angeregt. So liegen heute über die meisten unkonventionellen Angebote Studien zur Anwendung bei bestimmten Störungen und Krankheiten vor. Das bedeutet, man kann heute differenziertere Aussagen darüber machen, bei welchen Beschwerden eine Methode hilfreich ist, kaum oder nicht wirkt.
Skeptiker: Die Kritiker sehen das anders. Ihnen und Ihrer Koautorin, der Apothekerin Vera Herbst, wird Inkompetenz vorgeworfen. Sie seien überhaupt nicht in der Lage, 50 Verfahren der alternativen Medizin zu bewerten, heißt es. Sie haben weder Erfahrungen in der Praxis noch in der Forschung zu alternativen Medizin verfahren. Haben Sie sich mit den Ansprüchen des Buches vielleicht übernommen?
Unsinn. Muss ein Journalist in einen Unfall verwickelt sein, um darüber berichten zu können? Die Bewertung war nie unsere Aufgabe. Uns oblag es, zu recherchieren, welche Verfahren in Deutschland und Österreich etabliert und wie sie organisiert sind; ihr spezielles Konzept von Gesundheit und Krank werden herauszuarbeiten; auf Widersprüche zur Logik, zu Naturgesetzen und zu medizinischen Erkenntnissen hinzuweisen und darzustellen, was Klienten erwartet. Das sind Aufgaben, die erfahrene Journalisten durch Erkunden der Szene, Durchsicht der Broschüren, Artikel und Publikationen der Anbieter sowie wissenschaftlicher Literatur durchaus lösen können. Hinzu kommt, dass wir dieses Buch ja in der fünften Auflage herausbringen und sowohl die Stiftung Warentest, als auch wir Autorinnen über jahrelange Erfahrungen im Fachjournalismusbereich verfügen.
Skeptiker: Wenn nicht Sie und Ihre Koautorin die Bewertung vorgenommen haben, wer hat dies dann übernommen?
Für die Erstausgabe mussten wir die Informationen noch mühsam sammeln und waren auf das Wissen verschiedener Experten angewiesen: Kaum jemand - bis auf Prof. Oepen - hatte einen Überblick über die Palette der vielfältigen Angebote. Inzwischen gibt es das Institut für Komplementärmedizin an der Universität von Exeter, dessen Leiter Prof. Edzard Ernst mit seinem Team aus 20 Wissenschaftern die weltweit durchgeführten Studien zu Methoden der „Alternativ- und Komplementärmedizin" sammelt, sichtet, nach ihrer Qualität überprüft und ihre Aussagen analysiert. Auch eigene Untersuchungen zu verschiedenen Alternativ-Themen werden von den Mitarbeitern durchgeführt. Was lag für die Stiftung Warentest näher, als Prof. Ernst als Gutachter einzusetzen?
Skeptiker: Hatte es bereits bei früheren Auflagen so heftige Reaktionen gegeben?
Nun, auch die erste Ausgabe war ein Schock für die Szene: Noch nie hatte ein Buch für Verbraucher die unkonventionellen Angebote unter die Lupe genommen. Die Zeitungen hatten bis dahin meist die Werbelyrik der Anbieter abgedruckt, die Yellow Press begeisterte Reportagen gebracht, Unterhaltungssendungen den geschäftstüchtigen Anbietern viel Sendezeit gewidmet. Bei Heilpraktikern und ihren Kunden brach nun ein Sturm der Entrüstung aus. Die Zuschriften haben einige Ordner gefüllt. Dass nun massive Kritik von Ärzten kommt, wundert nicht, denn heute bessern viel mehr Ärzte ihre Einkünfte mit solchen „Sonderleistungen" auf.
Skeptiker: Ein weiterer Vorwurf lautet, das methodische Vorgehen sei nicht transparent. Die Anhänger der alternativen Medizin befürchten, dass die Studienauswahl zu ihren Ungunsten selektiv war und wichtige Teilergebnisse aus Studien nicht berücksichtigt wurden.
Der Vorwurf geht ins Leere: das Buch selbst informiert im einleitenden Kapitel, Seite 52 ff., über die genaue Vorgangsweise: Die Lehrinstitute und Organisationen im deutschen Sprachraum wurden von der Stiftung Warentest nach Unterlagen und klinischen Studien befragt; ebenso Hersteller von Geräten und Medikamenten. Das eingegangene Material wurde gesichtet und entsprechend den definierten Einschlusskriterien für die Begutachtung ausgewählt. Auf elektronischem Weg wurden Recherchen in den medizinischen Datenbanken Medline, Embase und CISCOM unternommen, Fachzeitschriften mit der international verfügbaren Literatur gesichtet und durch Recherchen auf dem Gesundheitsmarkt ergänzt. So weit systematische Reviews und Metaanalysen vorlagen, wurden diese als Bewertungsgrundlage herangezogen, wobei die Qualität der Studien getrennt berücksichtigt wurde. Lagen mehrere solche Arbeiten vor, wurden die jüngsten berücksichtigt. Wo keine zu finden waren, wurden Einzelstudien ausgewertet, sofern es sich um kontrollierte Studien handelte. Auch hier wurde die Qualität der Arbeiten in der Bewertung berücksichtigt. Die Wirksamkeit wurde gemäß den Standards der Evidenz-basierten Medizin (EBM) beurteilt. Die Literaturliste mit den ausgewählten Studien kann über die Stiftung Warentest bezogen werden.
Skeptiker: Sie erwähnen das Stichwort EBM. Worum handelt es sich bei der so genannten Evidenz-basierten Medizin, und kann man ihre Prinzipien tatsächlich auch auf Verfahren der alternativen Medizin anwenden?
Der Begriff EBM meint beweisgesicherte Medizin im Gegensatz zu glaubensbasierter Vorgehens weise. In der Praxis bedeutet das, der Arzt trifft seine Entscheidung über die Behandlung eines individuellen Patienten nicht nur aufgrund seiner Erfahrung, sondern auch auf der Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten (Evidenz) aus systematischer Forschung. Die Erfahrung allein genügt nicht, sie kann häufig in die Irre führen. EBM fordert vom Arzt, dass er sich die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen aneignet und sie berücksichtigt. Dazu gehört auch, dass er Patienten über mögliche Nutzen und Risiken informiert. Im Bereich der Komplementärmedizin ist das genauso möglich wie in der etablierten Klinik, soweit es gute Studien zu ihren Angeboten gibt.
Skeptiker: Müssten nicht bei Anwendung dieser Maßstäbe auf die Verfahren der konventionellen Medizin auch eine Reihe von dort üblichen Verfahren als nicht wirksam eingestuft werden?
Selbstverständlich! Die Geschichte der Medizin ist eine der Irrtümer. Man hat sich schon oft von verzichtbaren Therapien verabschiedet. EBM hat sich ja in der etablierten Medizin entwickelt. Hier wie dort gelten die gleichen Maßstäbe. Das bietet den Vorteil, verschiedene Methoden oder Arzneimittel mit einander zu vergleichen. Bei vielen Indikationen ist das bereits geschehen. So hat zum Beispiel das internationale Netzwerk zur Wirksamkeit, die Cochrane-Library - die übrigens nach dem Begründer der EBM, dem britischen Epidemiologen Archie Cochrane benannt ist - seit 1992 Tausende systematische Übersichtsarbeiten elektronisch erfasst. In der täglichen Praxis können Ärzte heute bei vielen Krankheiten auf die nachweislich erfolgreichsten Therapieansätze zurückgreifen und Patienten Unnötiges ersparen.
Skeptiker: Der Rechtsstreit mit dem Homöopathika-Hersteller Deutsche Homöopathie-Union (DHU) sorgte für Wirbel. Was hatte es mit dem vorübergehenden Auslieferungsstopp des Buches auf sich?
Es ging um eine „einstweilige Verfügung" (siehe auch S. 103). Manche Kritiker wollen offenbar nicht zur Kenntnis nehmen, dass es bei der Neuauflage keine einzige Anzeige oder Gerichtsverhandlung gab. Dies spricht deutlich dafür, dass der Inhalt des Buches aus wissenschaftlicher Sicht nicht zu beanstanden ist, und dass die Lobbyisten daher versuchen, mit teils polemischen Pressemitteilungen und Ad-Hominem-Angriffen die Seriosität der Autorinnen oder der Stiftung Warentest zu torpedieren.
Skeptiker: Sie bewerten die Akupunktur als geeignet bei „Erbrechen nach einer Chemotherapie". Bedeutet dies, dass die Konzepte der Akupunktur belegt sind? Oder ist es möglich, dass die Akupunktur nur unspezifische Effekte hervorruft?
Es bedeutet, dass die Anwendung von Akupunktur bei dieser Indikation einen positiven Effekt hat. Das sagt nichts darüber aus, ob es dazu bestimmte Punktkombinationen braucht oder ob das Stechen an sich und die Tatsache, dass man mehrmals behandelt - auch im wahrsten Sinne des Wortes: berührt wird, - als unspezifischer Reiz wirkt.
Skeptiker: Die alternative Medizin erfreut sich einer hohen Beliebtheit. Anwender berichten von Millionen zufriedenen Patienten, die beispielsweise mit der Homöopathie und der anthroposophischen Medizin gute Erfahrungen gemacht haben. Verunsichert die Stiftung Warentest nicht durch ihr Buch die Verbraucher?
Im Gegenteil: Die wohltuende Wirkung einer Therapie hängt ja nicht nur von dem Wirkstoff ab, sondern auch von vielen anderen Faktoren: von der Hoffnung, die man in sie setzt, die bei der Homöopathie verstärkt ist, weil sie als „sanfte", angeblich nebenwirkungsfreie Medizin ein gutes Image hat; vom massiven Lobbying, das zu einer durchaus positiv besetzten öffentlichen Darstellung geführt hat, von der therapeutischen „Inszenierung", der Zuwendung durch den Arzt, die ja bei Homöopathen durch die umfangreiche Anamnese als besonderes persönliches Interesse wirkt, oder von der Tatsache, dass Verschlechterungen des Zustands als „Erstverschlimmerung" definiert und damit verharmlost werden. Durch eine genaue Analyse und Bewertung erfahren Interessierte, welche heilsame Wirkung bei welcher Krankheit tatsächlich zu erwarten ist. Gläubige Homöopathieanhänger werden sich dadurch möglicherweise nicht verunsichern lassen. Überlegten Verbrauchern aber kann es eine Entscheidungshilfe sein.
Skeptiker: Wie sollten interessierte und mündige Patienten Ihr Buch nutzen?
Das Buch stellt die wichtigsten Studien mit ihren Aussagen vor. Die Bewertung ist die Schlussfolgerung aus den dargelegten Sachverhalten. Es bleibt Lesern überlassen, andere Schlüsse aus dem Dargestellten zu ziehen. Im Sinne des Verbraucherschutzes ist es aber anzuraten, gegenüber Methoden, deren Wirkung nicht über die von Scheinmitteln oder gängigen Behandlungen hinausgeht, eine Standardtherapie vorzuziehen. Zumindest erspart man sich damit unter Umständen erhebliche Kosten. Manche Gruppen aber bedürfen eines besonderen Schutzes, insbesondere dann, wenn alternative Angebote ernsthafte Gefahren mit sich bringen: chronisch und lebensgefährlich Erkrankte werden von falschen Versprechungen um die Hoffnung betrogen. Und Kinder können über Therapien nicht selbst entscheiden. Sie sollten nicht zu Versuchskaninchen dubioser Anbieter werden.
Skeptiker: Vielen Dank, Frau Federspiel.
Das Interview führte Rouven Schäfer.
Der Artikel erschien im "Skeptiker" 3/2006.