Lass das sein, Frankenstein!
Soziologen der Uni Bielefeld kritisieren die Darstellung von Wissenschaft und Wissenschaftlern in Spielfilmen. Zu Recht?
Bernd Harder
Bernd Harder
Rätselhaftes in Film und Fernsehen gibt es allerlei. Zum Beispiel "Derrick"-Dialoge wie diesen:
"Harry?"
"Ja, Stefan?"
"Eine junge Frau ist tot. Ich frage mich, warum Menschen so etwas tun."
"Aus Geldgier oder Eifersucht, Stefan?"
"Nein, Harry. Weil sie sterben. Deshalb ist die junge Frau tot." (Klocke/Kowalski 1999, S. 30)
Oder nehmen wir einen Schauspieler wie Harrison Ford:
"Meint Hollywood wirklich, wir Zuschauer lassen uns einreden, dass Weicheier, die wie Zweigstellenleiter der Sparkasse Lemgo aussehen, das Format haben, als Han Solo Raumschiffe zu steuern oder als Indiana Jones den Heiligen Gral zu entdecken?" (Klocke/Kowalski 1999, S. 19)
Und schließlich: Was sollen wir davon halten, dass ein Wissenschafts-Genie wie Victor Frankenstein von argen Zweifeln geplagt wird, als er seiner Kreatur eine Gefährtin erschafft? Er stellt sich vor, wie die Welt von diesen beiden verwüstet wird. Schlimmer, er sieht sie als böse Adam und Eva einer neuen Rasse von Monstern. Wieso kommt ein Mann, der Leben aus verwesenden Leichenteilen reanimieren kann, nicht auf die Idee, eine Frau ohne die Fähigkeit zu schaffen, ein Kind zu empfangen? (King 1988, S. 83). Vermutlich deshalb, weil Victor Frankenstein ein klassischer "Mad Scientist" ist. Ein "an der Grenze zum Manischen existierender Forscher", ein Getriebener, besessen von seiner Arbeit. Er kann nicht kontrollieren, was er erschafft, weil er nicht kontrollieren kann, was er an unbewussten Impulsen in seine Schöpfung hineinlegt. (Aurich et al. 2000, S. 35) Mehr als 70 Mal ist "Frankenstein" bis heute verfilmt worden. Der fiktive Schweizer Forscher, der an der Universität Ingolstadt an der Erschaffung eines neuen Menschen laboriert, den er aus den Knochen, Organen und Geweben von Toten zusammensetzt, dürfte weithin bekannt sein. Ebenso seine exzentrischen Leinwandkollegen Dr. Caligari, Dr. Seltsam, Dr. Jekyll und viele andere.
Reale Wissenschaftler dagegen schaffen es kaum bis ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit - allenfalls etwa Stephen Hawking oder in der Vergangenheit Albert Einstein, bedauert der Wissenschaftsforscher Prof. Dr. Peter Weingart, der am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Bielefeld dem Projekt "Wissenschaft - Medien - Öffentlichkeit" vorsteht (im Internet unter Die Arbeitsgruppe Wissenschaft – Medien – Öffentlichkeit). Und weiter: "Man kann davon ausgehen, dass die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Vorstellungen über Wissenschaftler und Wissenschaft sehr viel stärker durch fiktive Charaktere geprägt werden als durch die realen". Bei einer Untersuchung von mehr als 220 Filmen aus der gesamten Filmgeschichte, in denen Wissenschaftsthemen oder Wissenschaftler vorkamen, stellte sein Soziologenteam fest: Vor allem die Forschungszweige Medizin, Biologie und Genetik werden im Kino mit großer Ambivalenz betrachtet. Zu den am häufigsten gepflegten Wissenschaftsmythen im Film zählten der außer Kontrolle geratene Wissenschaftler, die totalitäre technisch-wissenschaftlich kontrollierte Gesellschaft sowie die künstliche Erschaffung von Lebewesen.
Figuren wie Victor Frankenstein oder der Gen-Pfuscher Dr. Moreau ("Die Insel des Dr. Moreau") machen Weingart einige Sorgen. Denn: Angesichts des "hohen Legitimationsbedarfs, dem die Wissenschaft in modernen Massendemokratien unterliegt, kann ihr die Art und Weise ihrer fiktiven Abbildung im Kino nicht gleichgültig sein". Allerdings: "Welche Wirkungen von den häufig dämonisierenden Darstellungen ausgehen, ist unbekannt", räumt der Wissenschaftssoziologe ein. Ähnlich pessimistisch scheint der Literat und Fantasy-Experte Michael Görden (Stevenson 1981, S. 9) die Sache zu sehen: "Sind Dr. Jeckylls Experimente nicht verwerflicher als der furchtbare Mr. Hyde, dem seine Schlechtigkeit nicht bewusst sein kann, weil er von allen Hemmungen befreit ist?" Vergegenwärtigen wir uns einige Szenen aus dem Film-Klassiker "Metropolis" von Fritz Lang (1925/26), und zwar anhand des Original-Drehbuchs:
Der Wissenschaftler Rotwang ist dabei, ein Wesen zu erschaffen, halb aus Magie, halb aus Mechanik bestehend, das er HEL nennt und das eine Art Androiden-Duplikat der Arbeiterfrau Maria werden soll.
194. Bild: Auf einer Art Seziertisch, der eine Marmorplatte hat, liegt Maria, noch immer bewusstlos. Ihr Kopf ruht auf einem kleinen, flachen Kissen, ihr Körper ist bis zum Hals mit einem Leintuch bedeckt. Rotwang, mit Vorbereitungen zu seinem Werk beschäftigt, geht hin und her, Kontakte prüfend, neue schaffend, im Hintergrund der Maschinen-Mensch HEL. Rotwang, ganz an sein Werk verloren, folgt mit der Hand einem Draht... Andere Einstellung: Rotwang folgt dem Draht, vom Hauptkabel führen andere Drähte ab zu aufgebauten Apparaten. Flaschen, Glasbehälter, durchsichtige und undurchsichtige, Tiegel, Röhren, in denen Funken tanzen, um sich kreisende Scheiben - in jedes Behältnis führt ein Draht. Rotwang folgt mit der Hand dem Hauptdraht.
194. Bild, Ausschnitt: Aufbau eines phantastischen elektrischen Regulierungs-Apparates, mit Skalen, Handgriffen, Manometern usw.
Einzel-Ausschnitt: Maria auf dem Seziertisch. Ein Lichtstrahl fällt von oben her auf sie. Ein glitzerndes Schwingen beginnt um sie zu kreisen...
198. Bild: In einem großen Behälter steigen Gasblasen groß und größer rhythmisch auf. Eine seltsam geformte, bis zum Rand mit brodelnder Flüssigkeit gefüllte Flasche leert sich in selbem Maße, in der eine ebenso geformte Flasche sich mit brodelnder Flüssigkeit füllt...
Ausschnitt: Rotwang am elektrischen Regulierungs-Apparat. Wie im Fieber, in Trance, in Ekstase arbeitend ... Fieberhaft, aber mit wunderbarer Sicherheit plötzlich alle Griffe umschaltend ... (Aurich et al., S. 148).
Klappe fällt, Monster lebt ... Auf-Schneider und "Mad Scientists" wie Dr. Frankenstein (hier dargestellt von Shakespeare-Mime Kenneth Brannagh) waren in der Filmgeschichte stets sehr beliebt. Mitunter zum Leidwesen von echten Wissenschaftlern... Vermutlich hat der bekannte Schriftsteller Brian W. Aldiss Recht, wenn er konstatiert, dass "Sciencefiction ebenso wenig für Scientists geschrieben wird wie Gespenstergeschichten für Gespenster". Denn solche überbordenden phantastischen Bilder und Szenerien sowie kauzige Forscher-Persönlichkeiten wie in diesen "Metropolis"-Ausschnitten dürften auf den durchschnittlichen Kinogänger oder TV-Konsumenten sehr viel weniger abschreckend oder gar "dämonisch" wirken als Weingart befürchtet - ganz im Gegenteil. Die US-Biologin Anne Simon etwa hat im Zusammenhang mit der Mystery-Serie "Akte X" die Erfahrung gemacht: "Kritiker, die behaupten, 'Akte X' wirke sich negativ auf das Bild von Wissenschaft in der Öffentlichkeit aus, wären sicherlich überrascht, wie viele Erstsemester-Studenten in meinen Biologieseminaren als einen Grund für ihr Interesse an Wissenschaft die positive Schilderung von Wissenschaft und Wissenschaftlern in 'Akte X' nennen" (Hüsgen 2002, S. 3). Außerdem sind die zahlreichen "Mad Scientists" im Horror- und Sciencefiction-Genre durchaus kein Selbstzweck, sondern sie katalysieren lediglich den so genannten Sub-Text der Filme. In "The Ghoul" (1943) verwandelt ein genialer Mediziner einen Mann in einen Zombie, dem periodisch ein neues Herz eingepflanzt werden muss - was Anlass für eine blutige Mordserie wird. "Die wissenschaftliche Tat am verbotenen Objekt katapultiert die Menschen entschieden in der Entwicklungsgeschichte zurück - nicht vorwärts", merkte ein Kritiker an. Mit anderen Worten: Filmische Bilder vom "Mad Scientist" entstehen nicht, um Wissenschaft und Forschung zu verspotten oder zu diskreditieren, sondern aus einem Kurzschluss zwischen dem magischen und dem mechanischen Weltbild heraus. "Mad Scientists" träumen "von einer neuen Einheit zwischen Mythos und Wissenschaft, doch dieser Frevel wird gebannt, die Ordnung der Welt - ihre kulturellen, sozialen, religiösen, wissenschaftlichen und sexuellen Ordnungen - am Ende bestätigt... Der Versuch des Kinos, in die Geheimlaboratorien der Wissenschaft zu blicken, führt zurück in gothische Bestrafungsphantasien und bringt die verborgene Blasphemie zum Vorschein" (Aurich et al. 2000, S. 23).
Sicher, "das eifersüchtig einsame Laborieren, allenfalls mit einem Assistenten im verlassenen Turm, bringt heutzutage auch dem genialsten Forscher nichts", stellt der Wissenschaftsjournalist Jan Schulz-Ojala im Berliner Tagesspiegel nüchtern fest. "Die Frankensteins des neuen Millenniums werden online sein, teamfähig, per E-mail stets mit verwandten Geistern in Verbindung." Aber muss so auch ihre Darstellung auf der Leinwand sein? Das wäre schade, eigentlich. Wieso? "Zu den Dingen, die Kunst zu einer Kraft machen, mit der man rechnen muss, selbst diejenigen, denen nichts daran gelegen ist, gehört die Regelmäßigkeit, mit der der Mythos die Wahrheit verschluckt - und zwar ohne einen einzigen Verdauungsrülpser." (King 1988, S. 80)
Literatur:
- Aurich, R.; Jacobsen, W.; Jatho, G. (2000): Künstliche Menschen. Manische Maschinen. Kontrollierte Körper. Hrsg. vom Filmmuseum Berlin, Deut. Kinemathek und Intern. Filmfestspiele Berlin. DBC-Druckhaus, Berlin
- Hüsgen, I. (2002): "Akte X": Die Wissenschaft ist irgendwo da drinnen. In: Skeptiker 1/2002, S. 3
- King, S. (1988): Danse Macabre. Die Welt des Horrors in Literatur und Film. Heyne-Verlag, München
- Klocke, J.; Kowalski, L. (1999): 101 Gründe, kein Fernsehen zu gucken. Rake-Verlag, Rendsburg
- Stevenson, R.L. (1981): Dr. Jekyll & Mr. Hyde und andere Schauergeschichten. Bastei-Lübbe-Verlag, Bergisch-Gladbach
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 3/2002.