Ein Kommentar von Jan Oude-Aost
Die Schreie des Kindes gehen durch Mark und Bein. Wieder und wieder sieht man, wie sich der junge Mensch vor Schmerzen windet. Der Begriff „Folter“ kommt in den Sinn. Doch es soll sich um eine Behandlung nach den Prinzipien von ABA handeln. Wenn das ABA wäre, dürfte ABA nicht mehr verwendet werden. Auf das Video bin ich gestoßen, nachdem eine Twitter-Userin darauf hingewiesen hatte, dass das Judge Rothenberg Center for Education (JRCE) an einem großen ABA-Kongress teilgenommen hatte. Wir hatten zu dem Zeitpunkt intern schon eingehend über ABA diskutiert und ich war überzeugt, in ABA eine im Grundsatz ethi-sche und wissenschaftliche Methode zu sehen. Das Video ließ mich erneut zweifeln, wie schon in den letzten Jahren, wenn Betroffene von ihren Erfahrungen berichtet hatten.
2021 wurde in der ARD eine Sendung über den Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff ausgestrahlt. Die darin aufgeworfenen Vorwürfe waren strafrechtlich relevant, die Untersuchungen dauern an. Winterhoff war bis dahin ein Medienliebling, seine Bücher Verkaufsschlager, trotz wissenschaftlich nicht haltbarer Thesen, die unter anderem von GWUP-Mitgliedern offen kritisiert wurden. In dem Bericht ging es unter anderem um Medikamente, die unnötig, zu hoch dosiert und zu lange verschrieben wurden und den Betroffenen wahrscheinlich geschadet haben. Außerdem berichteten Betroffene von mutmaßlich unnötigen genitalen Untersuchungen durch Winterhoff, die sie als übergriffig erlebt hatten. Winterhoff nutzte Methoden und Substanzen, die medizinischen Nutzen haben, wenn sie korrekt eingesetzt werden. Doch er setzte sie in einer Weise ein, die, so der Verdacht bestätigt würde, eine Misshandlung darstellt.
Trotzdem würden nur wenige auf die Idee kommen, Neuroleptika oder körperliche Untersuchungen zu verbieten. Ich kenne kaum Menschen, die nicht Erfahrungen in der Medizin gemacht haben, die von unsensiblen Äußerungen bis zu Misshandlungen reichen. Je weniger Macht ein Mensch hat, desto höher ist das Risiko, solche Erfahrungen zu machen. Wo es Machtunterschiede gibt, besteht die Gefahr von Grenzverletzungen. In der Medizin sind Grenzverletzungen manchmal unausweichlich, um notwendige Behandlungen durchzuführen. Darum ist zentral, das eigene Handeln stets zu hinterfragen und nach Alternativen Ausschau zu halten. Gerade in der Behandlung von Kindern, die Verhalten zeigen, das sich von dem unterscheidet, was ihre Bezugspersonen sich wünschen, ist diese Haltung zentral.
Dass Menschen wie Michael Winterhoff mit ihrem Kinderbild in deutschen Medien so beliebt waren, zeigt auch, wie viele Menschen von Kindern heute vor allem erwarten, auf eine bestimmte Weise zu funktionieren, und das durchzusetzen. Mit Macht. So wie in dem Video mit einem misshandelten Jungen. Auf die Erfahrungen, die einige Menschen mit auf ABA basierenden Methoden gemacht haben, nur mit der Antwort: „ABA ist nachweislich wirksam“ zu reagieren, wäre falsch. Ebenso falsch wäre es, diese wirksamen Methoden abzuschaffen, weil einige Menschen sie falsch anwenden. Die Kritik am Vorgehen des JREC hat zu einer notwendigen Reaktion der Europäischen und Internationalen Fachgesellschaft geführt, die sich in einem Statement von deren Praxis distanziert hat.
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Die größte internationale Vereinigung von Verhaltensanalytikern, die Association for Behavioral Analysis International (ABAI), hat sich in einer Erklärung gegen den Einsatz von
Elektroschocks ausgesprochen.