Mark Benecke
Ganze Verschwörungsmythen ranken sich um die geheimnisvolle Zahl 23. Doch schon lange vor "Illuminatus!"-Schöpfer Robert Anton Wilson erlagen Zeitgenossen der Faszination dieser Ziffernfolge. Zum Beispiel der Berliner Arzt Wilhelm Fließ.
Die Zahl 23 ist den LeserInnen des Skeptiker gut bekannt. In der hier bereits öfter erwähnten Romanreihe "Illuminatus!" (1) beispielsweise ist sie Zahl des Unglücks, der Zerstörung – und natürlich angeblich die Schlüsselzahl der Illuminaten. Ausgangspunkt des eigentlich lustigen Konstrukts war die Kurzgeschichte "23 Skidoo" von William Burroughs. Das schöne
Märchen um die geheime und doch so offen erkennbare Zahl verankerte sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte dauerhaft in der Populärliteratur, und keineswegs nur im Zusammenhang mit Verschwörungen:
- In der Western-Komödie "Latigo" (1979) setzt der Held immer wieder sein ganzes Geld auf die 23. Er verliert so lange, bis er zuletzt schließlich die Bank sprengt.
- Der Film "23 – Nichts ist so, wie es scheint" (1998) dreht sich unter anderem um die Verschwörungs-Vorstellungen des Hackers "Hagbard Celine" (Karl Koch).
- "Number 23" (2007) ist der 23. Film, bei dem Joel Schumacher ("Batman forever") Regie führte. Er dreht sich um die angeblich merkwürdigen Kombinationen und Verbindungen, die sich um die Zahl ergeben.
- Die Hörspielreihe "Offenbarung 23" (Lübbe Audio, seit 2005) beschäftigt sich unter anderem mit Verschwörungstheorien und Mysterien.
- Die Minimal-Electroband "Welle:Erdball", die ihre Musik vorgeblich mit einem Commodore-64-Computer programmiert, widmete eines ihrer bekanntesten Stücke "C=64/23" (2004) der mit der Zahl 23 zusammenhängenden Verschwörungstheorie: "Commodore 64, ist das richtig?" – "Ja, 64." – "Wenn man das durch
zwei teilt?" – "Das ist … zweiunddreißig." – "Und wenn man das umdreht!?" – "Dann ist das … dreiundzwanzig!" (2)
Verblüffend? Nur scheinbar
Handelt es sich dabei um bloß eine Ziffer, mit der man allerlei fantasievollen Schabernack treiben kann, so ergeben sich stark erweiterte Möglichkeiten, wenn man eine weitere Zahl hinzu kombiniert. Lose angeregt von den Artikeln über Verschlüsselungen von Mit-Skeptiker Klaus Schmeh (3) möchte ich die gleichsam ursprünglichste Spielerei
mit der Dreiundzwanzig hier vorstellen, weil sie ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist, wie leicht man sich angesichts
verblüffender, aber dennoch bloß scheinbarer Belege in eine lieb gewonnene Annahme verrennen kann.
Älteren Skeptikern wird auch sofort auffallen, dass die beiden im Folgenden besprochenen Zahlen auch Grundlage des (in den 1980er Jahren sehr weit verbreiteten, derzeit aber weniger stark im Interesse der EsoterikerInnen stehenden) Biorhythmus sind, also der Idee, dass sich vorteilhafte, kritische und nachteilige Tage rechnerisch für einen einzelnen Menschen vorhersagen lassen. Dazu werden die drei Zahlen (hier: als "Anzahl von Tagen") 23 für den körperlichen, 28 für den emotionalen und 33 für den geistigen Rhythmus genutzt. Sie sollen als Lebens-Perioden mit der Geburt sinusförmig zu laufen beginnen. Diese Annahme wurde allerdings nie belegt.
Rhythmen des Lebens
Völlig abwegig war die zugrunde liegende Idee nicht. Die stete Wiederkehr der Jahreszeiten, wie auch manches im Verlauf eines Menschenlebens, erwecken den Eindruck, als gäbe es in der Natur Grundrhythmen, in denen sich alle Vorgänge wiederholen. Blüten öffnen und schließen sich, Tiere ziehen in die Ferne und kehren zurück. Gibt es einen Taktgeber, der Lebensvorgänge dirigiert? Ist den kleinen Lebensrhythmen ein größerer übergeordnet? Erklärt dieser umfassende Rhythmus Werden und Vergehen? Diese Fragen stellte sich der Berliner Biologe und Arzt Wilhelm Fließ zu Beginn des letzten Jahrhunderts, der sie in der Tat aus Naturbeobachtungen ableitete. Er verirrte sich aber im für ihn immer schwerer zu durchschauenden Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung seiner zwar rechnerisch richtigen, aber falsch an- und ausgelegten Ergebnisse.
Zwei Hauptwerke der Beschäftigung mit den Ziffern 23 und 28 aus den Jahren 1906 (links) und 1929 (rechts).
Erste Spuren der zeitlichen Ordnung des Lebens fand Fließ nach eigenem Bericht darin, dass der Eisprung bei Frauen alle achtundzwanzig Tage erfolgen sollte. Aufgefallen war ihm dies bei der Untersuchung eines verwandten Zusammenhanges: den angeblichen Veränderungen der Nasen von Frauen während der Menstruation ("typische Veränderungen an scharf umgrenzten Stellen der Nase, den Genitalstellen der Nase, die an den unteren Muscheln
und der Scheidewand sich befinden"). (4)
Daraufhin bat er seine Patientinnen, den genauen Ablauf ihrer Monatsblutungen festzuhalten. Es zeigte sich, dass das angenommene Normintervall von achtundzwanzig Tagen so gut wie nie auftrat. Da Fließ überzeugt war, dass "durch alles Leben ein Puls geht", gab er an dieser Stelle nicht auf, sondern fühlte sich erst recht angestachelt. Er rechnete so lange, bis er feststellte, dass die Abweichungen von der Achtundzwanziger-Regel in Bezug zu einer weiteren Zahl stehen und dann erklärbar werden: der Dreiundzwanzig.
Nun durchkämmte Fließ medizinische Fachzeitschriften sowie persönliche Berichte von Freunden und Bekannten auf zeitliche Wiederholungen und Rhythmen. Immer ließen sie sich rechnerisch mit den Zahlen Dreiundzwanzig und Achtundzwanzig beschreiben. Jeder, wirklich jeder sich wiederholende, in Wachstum oder Vergehen ablaufende Vorgang
des menschlichen, tierischen und pflanzlichen Lebens ließ sich anhand der beiden Zahlen zerlegen und verstehen. Dies
begann mit den Abständen zwischen den Geburten der Kinder einer Mutter bis hin zum Todeszeitpunkt der Familienmitglieder.
Wann eine Pflanze knospte und wann sie ihre Blüten abwarf, wie häufig "zwittrige" Menschen auftreten, wann die Zähne von Kindern durchbrechen, sogar die Lebensläufe vieler Generationen einer Familie: Fließ setzte alles in den von ihm entdeckten mathematischen Zusammenhang.
Ein kurzes Beispiel veranschaulicht seine Methode: "Schubert", so schreibt Fließ, "komponierte an vier Tagen des Jahres 1815, nämlich am 19. und 25. August sowie am 15. und 19. Oktober, ganz erstaunlich viel und dabei seine schönsten Lieder. Die Abstände zwischen den Tagen ergeben:
- 19. August bis 19. Oktober = 61 Tage = 2 x 28 + (28 – 23) sowie
- 25. August bis 15. Oktober = 51 Tage = 2 x 28 + (28 – 23)."
Es waren nur die Grundrechenarten und zwei Ziffern nötig, um Tage besonderer Schaffenskraft zueinander in Verbindung zu setzen. Wirklich erstaunlich!
Fließ errechnete anhand der "23" und der "28" nicht nur gute und schlechte Tage für Kompositionen nachträglich, sondern auch Geburtsabstände seiner Verwandten.
Wesentlich ausführlicher dokumentiert Fließ die Lebenszyklen zweier Amaryllis-Blumen, die er acht Jahre lang beobachtete. Eine der beiden Blumen war ein Ableger der anderen, die Pflanzen waren also genetisch gleich. Fließ notierte die Zeitpunkte der Knospung, des Aufblühens und des Abfallens der Blüten. Auf den ersten Blick zeigt sich kein
Zusammenhang zwischen den Zahlen. Fließ stellt ihn daraufhin unter Zuhilfenahme einer Hilfs-Zahl durchaus elegant her: „Die Zeit zwischen der Knospenbildung von einem Jahr aufs andere ist gleich der Zeit zwischen dem Aufblühen im ersten Jahr und dem Aufblühen im zweiten Jahr plus vier mal 28 minus vier mal 23.“ Auch Krankheit und Tod sind nach Fließ dem Zahlenpaar 23 und 28 unterworfen: "Von zwei mal (23 plus 28) Menschen, die am Veitstanz erkranken, sind 28 Männer. Der kleine Wolfgang konnte nach vierundzwanzig mal 28 plus (28 hoch zwei) minus zwei mal 28 mal 23 Tagen laufen. Er lebte vierundzwanzig mal 23 plus (28 hoch zwei) minus (zwei mal 23 hoch zwei) Tage."
Das Sterbealter Goethes, Bismarcks, Kaisers Wilhelms und Alexander von Humboldts sowie zahlreicher anderer Prominenter der damaligen Zeit berechnete Fließ ebenfalls durch Zusammenstellung der Zahlen Dreiundzwanzig und
Achtundzwanzig korrekt. Wieso funktioniert das?
Vorhersagen und Nachhersagen
Den ersten Hinweis auf den Fehler in Fließ' mühseliger Arbeit findet man, wenn man versucht, das Sterbealter einer Person im Voraus zu berechnen. Dies gelingt mit den Biorhythmen und Zahlenkombinationen nicht. Nur nachträglich lässt sich ein bekanntes Sterbe-Ereignis in die zwei Grundzahlen zerlegen. Das widerspricht dem wissenschaftlichen Grundsatz, dass man aufgrund einer natürlichen Gesetzmäßigkeit, eines "Naturgesetzes", immer auch zukünftige Ereignisse (im Rahmen des Berechenbaren) vorhersagen kann. Um ein Naturgesetz kann es sich bei den Biorhythmen also nicht handeln, denn sie erlauben keine Vorhersagen. Eine weitere Fehlerquelle des Fließschen Werkes liegt darin, dass die Zahlen, die Fließ schon bei anderen Autoren vorgefunden hatte, nicht immer stimmten. So erkranken anders als in dem
genannten Beispiel nicht dreimal mehr Frauen am Veitstanz (Chorea Huntington) als Männer. Wenn Fließ nun auch solche
falschen Daten in sein System pressen konnte, liegt der Verdacht nahe, dass alle Daten sich in den Biorhythmus fügen lassen. Wie steht es jedoch mit den Berechnungen, die auf richtigen Originaldaten, etwa den Knospzeiten von Blütenpflanzen, beruhen? Sind auch diese Zahlenverknüpfungen künstlich errechnet? Oder spiegeln sie eine der Natur innewohnende Eigenschaft wider? Die Antwort: Auch in den "echten" Fällen erlag Fließ ungewollt seiner Grundannahme, die er als gegeben annahm und daher nicht mehr ordentlich prüfte (beispielsweise mit anderen Zahlen oder anderen Methoden). Nimmt man beispielsweise irgendwelche Zahlen, seien sie der Natur abgeschaut oder (zum Beispiel
von einem Computerprogramm) nach beliebigen Regeln oder mittels Zufall erzeugt, so werden viele dieser Zahlen entweder durch dreiundzwanzig oder durch achtundzwanzig teilbar sein und dann in einen dazu passenden Rhythmus eingeordnet werden können. Der Züricher Arzt Jakob Aebly errechnete schon 1928, dass sich etwa einmal pro zwölf ausgewählten Zufalls-Zahlen ein geeigneter Kandidat findet.
Wilhelm Fließ war ein guter Bekannter von Freud, sah aber in allen Lebensläufen die Grundsteuerung durch 23 und 28.
Da Fließ nun bestimmte Zahlen willkürlich als zusammengehörig betrachtet (siehe das Beispiel der Schubertschen
Lieder), erhöht er künstlich die Wahrscheinlichkeit, Zahlen zu finden, die in seine Rhythmen passen. Es ist ein perfekter Zirkelschluss: Zahlen, die zusammengehören, "weil sie eben zusammen gehören", werden zusammengefasst. Heraus kommt ein Rhythmus, der schon von Vorneherein angenommen wurde. Ohne ihn wären die Zahlen nicht vereinigt worden und könnten dann auch keinen Rhythmus ergeben.
Gürteltier und Raumjahr
Die Rhythmen, die aus Fließ' Zahlen sprechen, sind also künstlich. Niemand hat sich je die Mühe gemacht, die vielen
hundert Seiten Fließscher Beispiele auf eine andere Art als mit der Dreiundzwanzig und der Achtundzwanzig neu zu berechnen. Aebely zeigte jedoch schon 1928, dass viele biorhythmische Zahlenspielereien auch mit einem anderen
Zahlenpaar funktionieren, etwa mit der Drei und der Fünf. Es bleibt dennoch erstaunlich, dass es Fließ mit verbissener Ausdauer gelang, eine Sicht für die Welt aufzubauen, die scheinbar bis ins kleinste Detail stimmte.
Hans Schlieper, ein Anhänger der Fließschen Periodenlehre, ging sogar noch weiter als ihr Urheber selbst. 1929 fügte er
den Zahlen Dreiundzwanzig und Achtundzwanzig einen weiteren Wert, das "Raumjahr", hinzu. Diese Größe ermöglichte
es ihm, nicht nur Lebensläufe mathematisch nachzustellen, sondern auch das "regelmäßige" Auftreten bestimmter Träume und den Aufbau lebender Körper: "Ich träume öfter von einem Spaziergang durch die Straßen von Paris ins Grüne des Bois de Boulogne hinaus, und die Wiederkehr des Bildes reizte mich, Daten aufzuschreiben. Schon die beiden ersten
Abstände geben das halbe Schaltjahr mit Verschränkung des quadratischen Komplexe. Der Abstand von 44 Tagen bezeichnet einen häufig vorkommenden nullwertigen Bindungsring; der Abstand von 139 Tagen hat somit Halbjahreswert, wozu seine Form stimmt." Bei der Betrachtung des Panzermosaiks einer Gürteltierhaut erkannte Schlieper "Strukturen, die dem Kundigen als untrüglich echt in die Augen springen: Wahrlich! Das waren ja wieder die Geburtsabstände meiner eigenen Geschwister, nur ins Räumliche übertragen, graphisch dargestellt!"
Aus Hans Schliepers "Raumjahr" (1929), S. 110: Zahlenbastelei mit "zeitlich-räumlichen Segmenten" eines Gürteltieres.
Dass der Wunsch dabei Vater des Gedankens war, verschwieg Schlieper nicht. Dies schien ihm allerdings bloß seinen Forscherdrang widerzuspiegeln, nicht aber eine mögliche Blindheit gegen eine falsche Annahme: "Niemals war mir zweifelhaft gewesen, dass man eines Tages die Periodenwerte, und namentlich das Jahr, an lebendigen Gebilden werde sichtbar machen können. In manchen Fällen hat dieses eigentlich unwissenschaftliche Wunschdenken reiche Früchte getragen, zum Beispiel bei Louis Pasteurs ersten Versuchen zur Tollwutimpfung. Er hielt sich hartnäckig an seine Theorie und setzte sich gegen die ganze Welt durch. Die Periodenlehre hingegen scheiterte an ihrem in sich geschlossenen Denken."
Reihen, Reigen, Rhythmen
Einen eleganten Beweis gegen die Periodenlehre führt ungewollt auch die Zeitschrift bild der wissenschaft, die jährlich die besten Rechenvorschriftenauszeichnet, um die aktuelle Jahreszahl zu berechnen, und zwar nur aus den vier Ziffern, aus denen die Jahreszahl besteht. Die Leser verbinden diese vier Ziffern durch einfache mathematische Methoden, und heraus kommt die Jahreszahl. Niemand kommt auf die Idee, dass die vier Ziffern der betreffenden Jahreszahl magische
oder rhythmische Kräfte haben müssten, nur weil man sie zum betreffenden Jahr zusammenrechnen kann. (5) (6)
Kurz gesagt: ein mathematisch Interessierter (und Kundiger) kann fast alle Zahlenwerte durch vergleichbar einfache Rechenregeln und mit einigen immer gleichen Grundzahlen zu einer rhythmischen Serie verbinden oder die Serie notfalls einfach selbst umgestalten und erfinden. Ob die Zahlenwerte "echt" oder "unecht" sind, ob sie also durch Zufall oder
Beobachtung gewonnen werden, spielt dabei keine Rolle; es funktioniert immer; mit manchen Zahlenkombinationen
allerdings deutlich besser als mit anderen. Und mit Fantasie zur Erklärung von Regel-Ausnahmen durch "Bindungsringe" und "überschießende Einheiten" geht es noch besser.
Zum Schluss: Tod und Leben
Der Nachruf des Periodenkundlers Schlieper auf seinen Lehrer Wilhelm Fließ liest sich so: "Wilhelm Fließ, der am 24. Okt. 1858 geboren war, ist kurz vor seinem 70. Geburtstag gestorben. Auch ihm hat das Jahr die Grenze gezogen, das geschaltete Jahr, das ihm bei den Geburten seiner Kinder zum wissenschaftlichen Erlebnis geworden war
Sein Sohn Robert geboren 29.12.1895 1
1461 = 4 J
Sein Sohn Conrad geboren 29.12.1899 8
10515 = 32 J – 51 x 23
Wilhelm Fließ gestorben 13.10.1928
Die Werte 1173 = 51 x 23 = 28 x 23 + 232 und 1428 = 51 x 28 = 23 x 28 + 28^2 sind typische Verbindungswerte zwischen Geburt und Tod."
Fließ hätte diese letzte Rede auf ihn wohl als angemessen empfunden. Wir schmunzeln über den tragikomischen Abgesang, wenn wir daran denken, mit welch verbissener Entschlossenheit Fließ und Schlieper vorgingen. Das Fließsche Lehrgebäude der Biorhythmen, das auf den ersten Blick auf mathematischem und empirischem Fels gebaut zu sein schien, löste sich vor allem darum im Nichts auf, weil es nur im Nachhinein funktioniert: Alles ist nur nachträglich
zusammenbastelbar, aber nicht vorhersagbar.
Dennoch steckt auch in den erst viel später so genannten "Biorhythmus"-Überlegungen ein Körnchen Wahrheit, denn
natürlich gibt es andere biologische Regelmäßigkeiten, etwa zirkadiane Rhythmen. Niemand sollte daher vorschnell über die Arbeiten von Fließ und Schlieper lachen, auch wenn sie unrichtig sind. Denn es ist auch heute noch für NaturwissenschaftlerInnen und PsychologInnen oft kniffelig und leider auch verlockend, aus einer rechnerischen Beziehung eine wahre Schlussfolgerung über Tod und Leben zu ziehen. Das gilt vor allem, wenn die Datenmenge– bewusst oder unbewusst – klein oder durch falsche Grund-Annahmen vorselektiert ist.
Anmerkungen:
(1) Ein in den 1920er Jahren sehr bekannter Ausdruck, in etwa „schnell die Kurve kratzen/kriegen“.
(2) http://www.youtube.com/watch?v=GWAGvFGl6T8
(3) Z. B. „Bibel-Code, Koran-Code, Rotkäppchen-Code“ in Skeptiker 1/2010, S. 4–12.
(4) So Fließ in der Einleitung zu Fließ (1906) gleich auf Seite 1. Seine Ursprungs-Veröffentlichung dazu war „Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen”, Leipzig und Wien, 1897, verblüffenderweise erneut verlegt im Jahr 2007 bei Vdm Dr. Müller (sic). Fließ war ein sehr guter Bekannter von Freud.
(5) Nur eines von sehr vielen möglichen Beispielen, hier von Jürgen Schaper (mathesport.de), der übrigens das auch hier passende schöne Zitat anführt: „Weshalb eine gute Theorie aufgeben, nur weil sie sich als falsch erwiesen hat?” (Perry Rhodan, Band 2531): „Streicht man von einer vierstelligen natürlichen Zahl a immer wieder die erste Ziffer, so entsteht zuerst eine dreistellige Zahl b, dann eine zweistellige Zahl c und schließlich eine einstellige Zahl d. Wie lautet die Zahl a, wenn gelten soll: a + b + c + d = 2008?”
(6) Ein weiteres Beispiel für eine künstliche, aber nicht aus Naturbeobachtungen ableitbare Reihe sind diejenigen Friedman-Zahlen ohne Potenzierung (also nur mit Multiplikation), die das Produkt zweier gleich langer Faktoren sind. Bis zur Zahl 9999 sind das die sieben „Vampirzahlen” 1260 = 21*60, 1395 = 15*93, 1435 = 35*41, 1530 = 30*51, 1827 = 21*87, 2187 = 27*81 und 6880 = 80*86 (vgl. bspw. http://www2.stetson.edu/~efriedma/mathmagic/0800.html). Es klappt (sehr selten) sogar mit römischen Zahlen: VIII = IV * II. Kein Mensch würde nun auf die Idee kommen, hier etwas in der Realität Veranktertes, geschweige denn real Vampirisches zu vermuten, hätte der Autor dieses Artikels (M.B.) sie nicht seit mehreren Jahren auf seinem Arm tätowiert und wäre er nicht Vorsitzender der Transylvanian Society
of Dracula. Der wahre Grund für den Namen der Zahlen(reihe) ist so verschroben, dass er selbst nach Erklärung noch kauzig anmutet: Die beiden Faktoren heißen als mathematikpädagogische Spielerei "Fangzähne", weil sie wie im Gebiss in gleichem Abstand nebeneinander stehen und getrennt ebenso wie zusammengezogen etwas Zusammengehörendes (ein Gebiss) bilden. Diese unglaublich weit hergeholte und bildlich lustig-falsche Erklärung genügte dennoch, um den Namen und später den scheinbaren Wirklichkeitsbezug zu etablieren.
Zitierte und weiterführende Literatur
Aebly, J. (1928): Die Fließ'sche Periodenlehre im Lichte der biologischen und mathematischen Kritik. Ein Beitrag zur Geschichte der Zahlenmystik im 20. Jahrhundert. Hippokrates-Verlag, Stuttgart, Leipzig u. Zürich.
Benecke, M. (1998): Der Traum vom ewigen Leben. Die Biologie beantwortet das Rätsel des Alterns. Droemer Knaur Kindler, München.
Benecke, M.; Himmelrath A. (2009): Wissenschaftsbetrug reloaded. Laborjournal, 11/2009: 20–23.
Fließ, W. (1906): Der Ablauf des Lebens. Grundlegung zur exakten Biologie. Deuticke, Leipzig u. Wien.
Hastings, M. (1998): The brain, circadian rhythms, and clock genes. British Medical Journal 317: 1704–1707.
Neumann, D. (1995): Physiologische Uhren von Insekten. Zur Ökophysiologie lunarperiodisch kontrollierter Fortpflanzungszeiten. Naturwissenschaften 82: 310–320.
Rensing, L.; Meyer-Grahle, U.; Ruoff, P. (2001): Biologische Uhren: Timing-Mechanismen in der Natur. Biologie in unserer Zeit 31: 305–311.
Schlieper, H. (1929): Das Raumjahr. Die Ordnung des lebendigen Stoffes! Diederichs, Jena Smith, A. (1970): Die programmierte Natur. Die Rhythmen unseres Lebens. Juncker, München, Wien, Zürich.
Spork, P. (2004): Das Uhrwerk der Natur. Chronobiologie: Leben mit der Zeit. Rowohlt, Reinbek.
Swoboda, H. (1904): Die Perioden des menschlichen Organismus in ihrer psychologischen und biologischen Bedeutung. Deuticke, Leipzig und Wien.
Fotos: Pixelprofi (Fotolia) (1), Benecke (8)