Werner Haas
An Patentrezepten, zumal mit dem Nimbus des Magischen versehen, ist die Psychoszene nicht arm. Eines dieser umstrittenen Angebote ist das Familienstellen. Zwar gibt sich diese Technik als Weiterentwicklung der etablierten systemischen Familientherapie aus, ist jedoch aufgrund des weltanschaulichen Kontextes und der praktischen Implikationen etwas grundsätzlich anderes, nämlich ein Rückfall in vorwissenschaftliche Denkmuster und quasi-exorzistische Praktiken.
Schon lange vor Hellinger nutzte man die Möglichkeit, familiäre und andere Beziehungsgeflechte durch räumliche Anordnung von Personen darzustellen und mit Hilfe dieses Mediums therapeutisch zu intervenieren. So wurde beispielsweise von Virginia Satir der Begriff „Familienskulptur" geprägt. In der wissenschaftlich fundierten Familientherapie galt dieses Vorgehen als hinterfragbare Einzeltechnik in einem rational zu begründenden psychotherapeutischen Gesamtkonzept (widerspruchsfreie und empirisch prüfbare Theorie über Veränderung von Verhalten). Doch mit und nach Hellinger mutierte dieses Verfahren, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zu einem kultisch inszenierten Selbstzweck, zu einer Methode der „Aufdeckung" und „Lösung" für alles und alle.
Das technische Prinzip des hellingerschen Familienstellens besteht darin, dass ein Gruppenteilnehmer (Klient, Patient, Ratsuchender) – auch „Protagonist" genannt – aus der Gruppe so genannte Stellvertreter als Rollenspieler auswählt und mit diesen „sein inneres Bild seiner Gegenwarts- oder Herkunftsfamilie" aufstellt (Hellinger 1998a, S. 243). Auch für sich selbst sucht der Protagonist zunächst einen Repräsentanten aus. Wenn die Konstellation steht, teilen die Stellvertreter nacheinander mit, wie sie sich an ihrem Platz fühlen. Angeblich stehen sie dabei in Verbindung zu einer Art Überseele, von anderen auch „wissendes Feld" (Mahr 2000) genannt. Der Aufstellungsleiter (Therapeut) entwickelt nun unter Berücksichtigung der Rückmeldungen der Mitwirkenden ein „Lösungsbild". Das ist erreicht, wenn alle Stellvertreter das Gefühl zu haben glauben, dass die „Ordnung" wiederhergestellt ist, was in der Regel durch ein Unterwerfungsritual bestätigt wird.
Die in der Aufstellung inszenierte „Lösung" soll sich auf wunderbare Weise in die Wirklichkeit übertragen: Suizidale entdecken ihre Lebenslust, Inzesttraumata werden aufgelöst, Rückenschmerzen verschwinden und Krebs wird geheilt. Wenn nicht, hätte man sich immerhin mit seinem unentrinnbaren Schicksal versöhnt. Hellinger selbst gibt dieses Spektakel oft vor hunderten von Zuschauern zum Besten.
Die Vorgehensweise wird inzwischen auf Fragestellungen aller Art übertragen. In der Szenerie können, repräsentiert durch Stellvertreter, Lebende und Tote erscheinen, reale Personen und fiktive, ja sogar Funktionen, Zustände, Gefühle, Körperteile bis hin zu homöopathischen Arzneimitteln. Zum Verständnis und zur Bewertung dieser Praxis ist es wichtig, einige Eckpfeiler des dahinterstehenden Welt- und Menschenbildes näher unter die Lupe zu nehmen.
Patriarchale Ordnungsvorstellungen
Hellinger schwört auf das Senioritätsprinzip: Wer vorher da war, ist kraft dieses Faktums als höherrangig einzustufen. Die Dynamik von Geben und Nehmen wird hauptsächlich aus der Perspektive der Weitergabe des Lebens betrachtet, das Individuum somit weitgehend reduziert auf seine Funktion als Gattungswesen. Kinder sind per Definition Nehmende und Eltern Gebende. Die einen verpflichtet dies zutiefst, umfassend und unbefristet, die andern werden dadurch in den Zustand seliger Immunität und immerwährender Verehrungswürdigkeit versetzt.
„Das Elternsein ist unabhängig von der Moral und jenseits von Gut und Böse" Bert Hellinger
In Hellingers Worten: „Das Elternsein ist unabhängig von der Moral und jenseits von Gut und Böse, (...) Jede Beurteilung der Eltern (...) ist anmaßend. Das Ergebnis [sic!] nämlich, das Kind, stellt sich ja unabhängig vom Gutsein oder Bösesein der Eltern ein und begründet eine Bindung vor und jenseits jeder Moral" (Hellinger 1995b, S. 93). An anderer Stelle: „Und die Bindungsunschuld erleben wir als (...) unserer Kindersehnsucht letztes Ziel. (...) Aus Liebe ist ein Kind bereit, alles dranzugeben, selbst das eigene Leben und Glück, wenn es den Eltern und der Sippe dadurch besser geht. Das sind dann die Kinder, die für ihre Eltern oder Ahnen in die Bresche springen, vollbringen, was sie nicht geplant, sühnen, was sie nicht getan (...), tragen, was sie nicht verschuldet haben oder für erlebtes Unrecht anstelle ihrer Eltern Rache üben" (Hellinger 1998a, S. 42-43). Das lässt erahnen, wie nach Hellinger Unglück und Leid in die Welt kommen, gleichzeitig ergibt sich daraus eine wichtige therapeutische Maxime: „Wenn man den Eltern Ehre erweist, kommt etwas tief in der Seele in Ordnung" (zit. nach Krüll, Nuber 1995). Wie weit dieses Dogma getrieben wird, zeigt der nächste Abschnitt.
(Be-)Deutung von Sexualität und Inzest
Hellinger sieht im Inzest keine persönlich zu verantwortende Tat, sondern ein „systemisches" Geschehen, in dem es letztlich weder Täter noch Opfer noch unschuldig beteiligte Dritte gebe, sondern nur Statisten in einem von einer transzendenten Macht inszenierten Drama. Vor allen Dingen sollen die, die nach allgemeinem Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden als Hauptschuldige gelten, entschuldigt werden: „Den Tätern, seien es Väter, Großväter, Onkel oder Stiefväter, wurde etwas vorenthalten, oder es wird etwas nicht gewürdigt, und der Inzest ist dann ein Versuch, dieses Gefälle auszugleichen" (Hellinger 1998, S. 89).
Mit dieser Entschuldigung für die Patriarchen forciert Hellinger gleichzeitig die Beschuldigung der Frauen: „Kommt hinzu, dass es auch noch einen Mangel an Austausch und Ausgleich bei den Partnern gibt, zum Beispiel in der sexuellen Beziehung, entsteht in diesem System ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Ausgleich, das sich wie eine Triebkraft durchsetzt und der naheliegende Ausgleich ist, dass die Tochter sich anbietet oder die Frau dem Mann die Tochter überlässt oder anbietet" (ebd., S. 90).
Macht Hellinger hier nicht den Körper des Kindes zur Manövriermasse in einem obskuren Spiel des „Ausgleichs"? Wer diese Logik einmal akzeptiert hat, wundert sich auch nicht mehr über seine Lösungsvorschläge: „Die Lösung für das Kind ist, dass das Kind der Mutter sagt: ‚Mama, für dich tue ich es gerne', und dem Vater: ‚Papa, für die Mama tue ich es gerne'" (ebd., S. 91). Man beachte die Rollenverteilung: „Der Mann ist nur Blitzableiter, er ist in der Dynamik verstrickt, weil die alle gegen ihn zusammenwirken. Er ist sozusagen das arme Schwein" (ebd., S. 92), die Mutter hingegen glaubt Hellinger generell als die „graue Eminenz des Inzests" (Hellinger 1995a, S. 281) dingfest gemacht zu haben. Zöge die missbrauchte Tochter den Vater nun juristisch zur Verantwortung, würde sie laut Hellinger damit signalisieren, dass sie „lieber stirbt als ihrem Vater (...) die Ehre zu geben" (Hellinger 1998a, S. 96).
Dazu muss man wissen, dass solche gegen die „Ordnungen der Liebe" verstoßende Taten in Hellingers „Krankheitslehre" oft die „Ursache" von tödlichen Krankheiten sind. Da Hellinger den Menschen offenbar zu einem tumben Gattungswesen degradiert hat, sieht er im „sexuellen Vollzug" den „größten menschlichen Vollzug überhaupt". Er geschehe „im Angesicht des Todes" (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 145), was auch immer das heißen mag. Darüber hinaus scheinen „schicksalhafte" Ereignisse wie Kriege oder Sexualverbrechen von höheren Mächten gesteuert zu sein. Darum gilt für Hellinger: „Wenn es eine Vergewaltigung gab, dann ist die Sexualität dennoch etwas ganz Großes", denn sie komme „vor der Liebe" und sei größer als diese (ebd., S. 146). Die Therapie einer durch Vergewaltigung traumatisierten Frau kann dann darin bestehen, dass sie – in der „Aufstellung" – zum Vergewaltiger sagen soll: „Ich habe dich benutzt. Es tut mir leid" (ebd., S. 139f). Nach Hellingers Weltsicht fügt sich nämlich da, „wo Schicksal wirkt und Demut heilt", so einer seiner Buchtitel, letztlich alles wieder in die „Ordnungen der Liebe", so ein anderer Buchtitel. Große Worte für eine Haltung, die besser mit Schicksalsgläubigkeit, Demütigungskult und patriarchalem Ordnungswahn umschrieben wäre.
Eine okkultistische Ursachenlehre
Nach Hellinger rühren die meisten Probleme, die ein Psychotherapeut zu Gesicht bekommt, nicht aus der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen her, sondern sind „Wiederholung eines fremden Schicksals" (Hellinger 1998a, S. 242). Dies geschehe unter dem Druck des „Sippen- oder Gruppengewissens" (ebd., S. 150), das sich der „nicht Gewürdigten und der Toten" annehme, indem es einen unschuldigen „Nachgeborenen" auswähle, der unbewusst das Schicksal des nicht Gewürdigten erleide, sozusagen als Preis und Sühne für das erlittene Unrecht des Ahnen (ebd., S. 152). Nach Hellinger ist diese „Identifizierung" eine Art „systemischer Wiederholungszwang, der Früheres noch einmal inszeniert und wiederholt (...), ein nachträglicher Versuch, einer ausgeklammerten Person noch einmal zu ihrem Recht zu verhelfen" (ebd., S. 153). Und: „Bei uns werden so viele krank oder gestört, weil einige aus dem System ausgestoßen sind. Oft sind das Verstorbene. Wenn man die wieder hereinholt, sind die anderen wieder frei" (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 77). Hellingers Lehre von den Krankheitsursachen zeigt auffallende Parallelen zu dem Gespensterglauben und Ahnenkult der Zulus, bei denen er längere Zeit als Missionar gewirkt hat. Er selbst dazu: „Wenn man sich Geistergeschichten anhört, sind Geister Wesen, denen man die Zugehörigkeit verweigert hat. Sie klopfen an, bis sie ihren Platz bekommen. Wenn sie den haben, geben sie Frieden" (ebd., S. 76). Man fragt sich, wer hier wen bekehrt hat, denn lt. „Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften" ist es bei den bantusprachigen Völkern Südafrikas heilige Pflicht, die Ahnen zu ehren. Wenn sie aber „vergessen werden, dann bringen sie sich oft schmerzhaft in Erinnerung." Die Folge: „Unglück, Krankheit, Verluste, Niederlagen" (Horn 2000). Abhilfe schafft hier wie dort rituelle Ehrerweisung.
Aufstellung als Orakel
Von den „Stellvertretern" wird angenommen, dass sie durch das Therapieritual der Aufstellung in die Lage versetzt werden, gewissermaßen störungsfrei die Seele des jeweiligen Familienmitgliedes zu repräsentieren. Die Stellvertreter sind also laut hellingerscher Aufstellungsphilosophie keine Rollenspieler, sondern mystische Repräsentanten der dargestellten Personen (ob tot oder lebendig). Doch ihre oft kolportierten, angeblich so erstaunlichen und stimmigen Reaktionen können mühelos auf bekannte psychologische Mechanismen (Erwartungshaltung, Einfühlungsvermögen, Suggestion, Illusion, Manipulation) zurückgeführt werden (siehe S. 10 - 14 in diesem Heft; Haas 2005). Die Äußerungen, Symptome und psychophysischen Zustände, von denen die Stellvertreter scheinbar heimgesucht werden, geben der Wissenschaft also keinerlei Rätsel auf. Rätselhaft mag höchstenfalls sein, wie mitunter sogar Menschen, die an einer deutschen Universität eine wissenschaftliche Ausbildung genossen haben, diesem Hokuspokus erliegen können.
„Im Grunde kann der diagnostische Anspruch des Familienstellens in die Tradition des Hellsehens und der Wahrsagepraktiken eingereiht werden."
Im Grunde kann der „diagnostische" Anspruch des Familienstellens in die Tradition des Hellsehens und der Wahrsagepraktiken eingereiht werden. Analog dem Deuten von Sternenkonstellationen (Astrologie), des Vogelflugs (Ornithomantie), von Karten (Tarot) 8 usw. glauben auch Familiensteller, auf wunderbare Weise Einsicht in verborgene Wirklichkeiten zu gewinnen, die weder dem Alltagsverständnis noch dem auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitenden Therapeuten zugänglich sind. Eine in der therapeutischen Profession übliche Anamnese, also eine ausführliche Befragung nach psychologisch oder medizinisch relevanten Daten, findet daher nicht statt. Sie wird von Hellinger sogar explizit abgelehnt: Der Verzicht auf solche fachliche Standards „spart viel Zeit, weil man dann nicht danach zu fragen braucht, was das für ein Mensch war. Das lenkt ab und verwirrt" (Hellinger 1998a, S. 197). Dies führt unweigerlich dazu, dass ein von diesem therapeutischen Konzept eingenommener Therapeut seine Klienten bei Aufstellungen dirigiert, manipuliert, sie in Konstellationskonstrukte hineinbugsiert oder ihnen – nicht selten unter Drohungen – „Lösungen" aufdrängt: „Bei der Psychotherapie", so Hellinger, „geht es einem wie einem guten Führer. Ein guter Führer sieht, was die Leute wollen, und das befiehlt er ihnen" (zit. nach Lakotta 2002).
Will ein Klient sich nicht gleich auf generationenübergreifende und personentranszendierende Problemsichten einlassen, sondern seine individuelle Lage und Sicht mitteilen, hat Hellinger schnell den Verdacht, dieser wolle ihn „zum Handlanger machen für das, was er für die richtige Lösung hält" (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 91). Das lasse er nicht zu, er schaue dann am Klienten vorbei. Versuchte ihm ein Klient seine persönlichen Probleme mit seinen Eltern zu erzählen, z. B. von einer depressiven Mutter oder einem fordernden Vater, würde Hellinger gleichsam allergisch reagieren: „Das tut mir physisch echt weh. Da hätte ich vorher schon unterbrochen. Ich richte mich da nach meinem Wohlbefinden. Was mir physisch weh tut, kann nicht relevant sein" (ebd., S. 92). Das Nicht-Zuhören geht bei Hellinger Hand in Hand mit einer Vorliebe für makaber anmutende Schnellschüsse: „Vor kurzem war ein junger Mann in einem Seminar. Mein Bild war: Er lebt nicht lange. Er schaute in eine Richtung, und da wurde mir auf einmal klar: Es ist der Tod, auf den er schaut" (ebd., S. 39). Hellinger begründet solch gefährliche Kaffeesatzleserei philosophisch, er nennt es die „phänomenologische Vorgehensweise": Dabei setze er sich „einem größeren Zusammenhang aus, (...) ohne Furcht vor dem, was hochkommt. Ich fürchte mich auch nicht, wenn etwas Entsetzliches hochkommt", und währenddessen komme „blitzartig die Einsicht" (ebd., S. 37). Dieser Vorgang, nämlich von solchen Eingebungen heimgesucht zu werden, sei „sehr demütig" und „das Gegenteil von Wissenschaft" (Hellinger 1998b, S. 16f). Letzteres in der Tat! Doch Hellingers Demutsrhetorik wird nicht glaubhafter, wenn er an anderer Stelle hinzufügt: „Phänomenologie ist Gottesschau" (Hellinger 1997, S. 44). Damit wird jeder vernünftige Diskurs unmöglich, denn gegen Offenbarungen gibt es bekanntlich keine Argumente.
Aufstellung als magisches Theater
Der Therapeut gewinnt nach Hellinger durch die Aufstellung nicht nur Einblick in fremde und zukünftige Schicksale, sondern soll diese durch szenische Manipulationen auch abwenden können, sofern die Abwendung des Schicksals vom Schicksal vorgesehen ist. Andernfalls wüsste der Klient wenigstens, dass er seinem Schicksal nicht entgehen kann, und wenn er es doch versucht, „landet (er) im Grab" (zit. nach Buchholz 2003).
Hilfe kommt offenbar aus der quasimagischen Wirkung der Aufstellung. Hellinger: „So, wie die wirkliche Familie in dieser Aufstellung gegenwärtig ist, so wirkt auch die Lösung von der dargestellten Familie auf die wirkliche Familie zurück" (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 83). Und zwar unabhängig davon, ob die reale Familie etwas davon wisse. Auf eine wissenschaftliche Prüfung will er es dennoch nicht ankommen lassen: „Die Erfolgskontrolle (...) ist schlimm in der Psychotherapie" (Hellinger 1998a, S. 201). Außerdem sei in den „Aufstellungen etwas von Liturgie" und der Aufstellungsleiter habe eine „priesterliche" Funktion: „Als Therapeut fühle ich mich im Einklang mit einer größeren Ordnung. Nur weil ich in diesem Einklang bin, sehe ich die Lösung" (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 22). Diese besteht dann meist darin, dass eine „Identifizierung" aufgelöst und den Ahnen per Unterwerfungsritual die Ehre erwiesen wird. Dabei geht der Klient auf die Knie, verbeugt sich und würdigt die Ahnen mit formelhaften, vom Aufsteller vorgegebenen Sätzen.
Hellingers Therapie ist eine Verführung zur Regression, d. h. zur Wiederaufnahme von Verhaltensweisen, die einer kindlichen Entwicklungsstufe entsprechen.
„Wer sich wehrt, dem schleudert der priesterliche Heiler den Bann entgegen."
Wer diesem Druck nachgibt, spürt möglicherweise eine(trügerische und vorübergehende) „Entlastung", aber zum Preis der Einfügung in das wahnhafte Züge tragende Überzeugungssystem des Therapeuten und der Gefahr des Identitätsverlusts. Wer sich wehrt, dem schleudert der priesterliche Heiler den Bann entgegen: „Du bist nicht zu retten" (Hellinger 1995a, S. 340). Einen widerspenstigen Krebskranken z. B. belehrt er vor versammeltem Publikum: „Meine Hypothese bei Krebs ist, dass viele Krebskranke lieber sterben, als dass sie sich vor den Eltern tief verneigen" (ebd., S. 417). Aber auch wer sich gläubig fügt, lebt gefährlich: Eine Frau nahm sich das Leben, nachdem ihr in einer hellingerschen Rosskur attestiert wurde, dass sie ihren Ex-Mann nicht genügend gewürdigt habe. In Ihrem Abschiedsbrief nimmt sie explizit Bezug auf Hellingers „Ordnung": „Vielleicht gibt es Menschen, die soviel Schuld auf sich laden, dass sie kein Recht mehr haben, hierzubleiben. Und wenn es (...) die Ordnung herstellt, will ich meinen Teil dazu tun" (Gerbert 1998).
Doch „der Tod ist wunderschön. Weißt du das? Die Engel stehen ums Grab" (zit. nach Lakotta 2002), kommentiert Hellinger das Schicksal einer anderen, seiner Meinung nach todgeweihten Frau. Seine „philosophische" Begründung: „Das Leben ist das Spiel von einer größeren Kraft. Wenn dieses Spiel aus ist, werden alle Figuren wieder in die gleiche Schachtel gepackt und liegen nach dem Spiel nebeneinander. Wenn man das so sieht, ist das kurze Leben kein Verlust und das lange Leben kein Gewinn" (zit. nach Hohnen 2001). Ein Therapeut, der sich diese Auffassung zu eigen macht, stellt sich einen Blankoscheck auch gegen krasseste Kunstfehler aus.
Hellingers Ordnung – gottgewollt?
Hellingers Ordnung verspricht nicht nur Heilung den Familien und Individuen, sondern Heil in einem umfassenderen Sinne durch Annehmen des Gegebenen: „Ich stimme der Welt zu, wie sie ist. (...) Ich denke, dass in der Welt Kräfte am Werk sind, die lassen sich nicht steuern. Deswegen tun mir Weltverbesserer leid. Die großen geschichtlichen Bewegungen, der Nationalsozialismus, der Humanismus, die Wende, all das sehe ich als Teil eines gesteuerten Prozesses, bei dem die Opfer sowohl wie die Täter in Dienst genommen sind, für etwas, das wir nicht begreifen" (zit. nach Krüll, Nuber 1995).
Dieser Weltsicht sind wir schon oben bei der Würdigung von Vergewaltigern und sexuellen Missbrauchern begegnet. Übrigens war „auch Hitler in den Dienst genommen" (zit. nach Glunk 2003), den Hellinger in seinem Buch „Gottesgedanken" (Hellinger 2004a) würdigt. Moralische Unterscheidungen seien beim Thema Drittes Reich fehl am Platze; so gälten zwar die Mitglieder der Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose" heute als die großen Helden, aber „hätten die Nazis gesiegt, wären sie (die Weiße Rose; W. H.) die Verbrecher geblieben. Das ist der ganze Unterschied von Gut und Böse" (Hellinger 1998a, S. 203). Was haben Politik und Geschichte mit Psychotherapie zu tun? Hellinger: Durch das Familienstellen „kommen wir in Tiefen hinein, die über die Psychotherapie weit hinausgehen", wir stoßen vor in das Reich der „schöpferischen Urkraft", welche die „Ordnungen" festlegt (Hellinger 2004b). Diese Urkraft sei es auch, die die großen Bewegungen der Geschichte steuere, z. B. den Nationalsozialismus (Hellinger 2004c). „Wo kommt diese Bewegung her? Von Gott. Woher denn sonst?" (ebd.). Alle großen Bewegungen seien „göttliche Bewegungen" (ebd.). Das gelte auch für das Familienstellen (Hellinger 2004b).
Schlussbemerkung
Hellingers Lehre müsste nicht ernst genommen werden, wenn ihn andere nicht ernst nähmen. Das Gros der sich offen zu Hellinger bekennenden Aufsteller ist zwar eher der Eso-Szene zuzurechnen. Aber trotz des wissenschaftsscheuen und unverhohlen antiaufklärerischen Grundtenors finden sich darunter nicht wenige diplomierte und promovierte ärztliche sowie psychologische Therapeutenkollegen. Sie tragen meines Erachtens ihre akademischen Grade zu Unrecht. Hinzu kommt, dass unter dem Druck kritischer Berichte und Analysen über die hellingerschen Praktiken eine Welle der halbherzigen Distanzierung von dem Gründervater eingesetzt hat, ohne dass man sich wirklich von den zentralen Inhalten der gängigen Aufstellungsphilosophie und -praxis verabschiedet hat. Für den Hilfesuchenden wird dadurch die Suche nach einem Helfer noch abenteuerlicher. Bei aller Behutsamkeit, die sich ein Therapeut, Supervisor, Coach, Berater oder Heilpraktiker auferlegen mag: Wenn er unter welchen wohlklingenden Namen auch immer, mit Aufstellungen nach Hellinger liebäugelt, wirbt er, versteckt oder offen, für dessen Welt- und Menschenbild und fördert damit die Verbreitung eines destruktiven Kultes.
(Zusammenfassung des Buches: Werner Haas: Familienstellen – Therapie oder Okkultismus? Asanger, 2005)
Teilnehmer Ich habe eine Klientin von Ende dreißig. Sie hat einen sehr schweren Waschzwang. Der systemische Hintergrund ist ...
Hellinger Nein.
Als der Teilnehmer protestiert Ich will es nicht wissen.
Teilnehmer Ich weiß selbst nicht, ob es der Hintergrund für das Symptom ist, aber es ist wichtig, ihre Geschichte zu kennen.
Hellinger Nein.
Zur Gruppe Was passiert, wenn er mir das sagt? Dann ist meine Handlungsfreiheit eingeschränkt. Meine Wahrnehmung kann nicht mehr unmittelbar bei dem sein, was sich zeigt.
zum Teilnehmer Einverstanden?
Teilnehmer Ja.
Hellinger Okay, dann werden wir mal sehen, was los ist.
Hellinger wählt eine Stellvertreterin aus und stellt sie allein auf. Die Stellvertreterin der Klientin geht etwas in die Knie und schaut dauernd auf den Boden. Hellinger wählt einen Mann aus und lässt ihn sich vor ihr mit dem Rücken auf den Boden legen, dorthin, wohin ihr Blick geht.
Hellinger zur Gruppe Sie hat dorthin geschaut. Wenn jemand auf den Boden schaut, schaut er immer auf einen Toten.
Die Klientin hat sich aufgerichtet. Der Tote ist ganz unruhig. Die Klientin atmet schwer und schluchzt.
Hellinger zur Gruppe Schaut ihre Hände an.
Sie hat die Hände ganz verkrampft. Auch der übrige Körper ist verkrampft. Sie will sich nach vorn bewegen, setzt immer wieder dazu an, kann es aber nicht. Dann ballt sie die Fäuste, winkelt die Arme an und hält die Fäuste verkrampft und unruhig vor ihre Brust. Sie bewegt dauernd die Hände vor ihrer Brust.
Hellinger stellt ihr eine Frau gegenüber.
Die Klientin lässt die Arme sinken, entspannt sich etwas, weint aber immer noch.
Hellinger zur Gruppe Jetzt lässt das bei ihr nach. Ich wollte testen, ob ihr Verhalten systemisch bedingt ist oder persönlich.
Nach einer Weile dreht Hellinger die Klientin um.
Die Klientin atmet tief durch und hört auf zu weinen.
Hellinger zum Teilnehmer Kann ich es so lassen?
Teilnehmer Es fühlt sich insofern gut an, als die Ausstrahlung der Stellvertreterin genau der Ausstrahlung der Klientin entsprach. Jetzt wirkt es sehr gelöst oder sehr anders. Trotzdem bleibe ich mit Fragen zurück.
Hellinger Jetzt hast du etwas zu tun. – Es ist ganz klar, dass es in dem System einen Mord gab. Ich erzähle ein Beispiel.
In Stockholm im September habe ich eine Aufstellung mit einem autistischen Mann gemacht. Er hat in seinem ganzen Leben zwei Worte gesagt. Seine Betreuer haben ihn zu dem Kurs gebracht. Er hat fortwährend seine Hände mit den Handflächen nach oben gedreht und sie angeschaut. Dann hatte ich das Bild von der Lady Macbeth und habe gesagt: ‚Der schaut auf Blut.'
Ich habe die Betreuer gefragt, ob sie etwas wissen von seiner Familie. Sie haben gesagt: ‚Ja, die Urururgroßmutter hat ihren Mann verloren, der ist gestorben. Dann hat sie sich mit einem Seemann eingelassen, und der hat sie ermordet.'
Wenn ihr das nun systemisch auf euch wirken lasst, wer muss hereingenommen werden? Ich habe die Urururgroßmutter aufgestellt und ihren Mann. Plötzlich fing der an, die gleiche Bewegung zu machen. Er drehte fortwährend die Handflächen nach oben und hat sie angeschaut. Der Urururgroßvater hat sie umgebracht, nicht der Seemann. Dann haben sich beide nebeneinander hingelegt, die Urururgroßmutter und der Urururgroßvater. Den autistischen Mann habe ich sich daneben legen lassen. Dann hat er seine Hände verschränkt und gefaltet. (...)
zum Teilnehmer Okay?
Teilnehmer Ja.
Hellinger zur Stellvertreterin der Klientin Wie geht es dir da?
Klientin Wenn ich nach vorn schaue und nicht nach unten oder nach hinten, geht es mir gut.
Hellinger Genau. Danke dir.
zu den Stellvertretern Danke euch allen.
zum Teilnehmer Das hättest du nicht herausgebracht mit der Geschichte, die du mir erzählen wolltest.
zur Gruppe Die Aufstellung bringt es an den Tag, wenn man ganz vorsichtig vorgeht. Man macht nicht mehr als nötig.
(aus: Bert Hellinger: Ordnungen des Helfens. Ein Schulungsbuch. Band 1, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2003, S.55-59.)
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker" 1/2008.
Literatur
- Buchholz, M. (2003): Heilung oder Hokuspokus – Familie als Schicksal. ARD-Film vom 08.06.03.
- Glunk, F. R. (2003): Der Protofaschist: Das Weltbild des Bert Hellinger. In: Goldner, C. (Hg.): Der Wille zum Schicksal: Die Heilslehre des Bert Hellinger. Ueberreuter, Wien, S. 249f.
- Gerbert, F. (1998): Psycho-Szene: Wenn Therapeuten Gott spielen. In: Focus, 13/98, S. 222-223.
- Haas, W. (2005): Stellvertreter-Reaktionen in Familienaufstellungen. Ein Erklärungsversuch. In: www.religio.de/therapie/hellinger/stellvertreter.pdf (Zugriff am 20.05.07).
- Hellinger, B. (1995a): Ordnungen der Liebe. Ein Kursbuch. 2. überarb. u. erg. Aufl., Carl-AuerSysteme, Heidelberg.
- Hellinger, B. (1995b): Finden, was wirkt: Therapeutische Briefe. 5., erw. Neuaufl., Kösel, München.
- Hellinger, B. (1997): Verdichtetes: Sinnsprüche, Kleine Geschichten, Sätze der Kraft. 3. Aufl., Carl-Auer-Systeme, Heidelberg.
- Hellinger, B. (1998a): in: Weber, G. (Hrsg.): Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. 11. Aufl., Carl-Auer-Systeme, Heidelberg.
- Hellinger, B. (1998b): Einsicht durch Verzicht. Der phänomenologische Erkenntnisweg in der Psychotherapie. In: Praxis der Systemaufstellungen, 1/98, S. 16-17.
- Hellinger, B. (2004a): Gottesgedanken: Ihre Wurzeln und ihre Wirkung. Kösel, München.
- Hellinger, B. (2004b): Das Familienstellen als angewandte Philosophie. Vortrag auf der Tagung „Helfen und Lassen" vom 9.-11. Februar 2004 in Garmisch-Partenkirchen. In: www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/bewegungen_des_geistes/familienstellen_als_angewandte_philosophie.shtml (Zugriff am 14.06.07).
- Hellinger, B. (2004c): Unruhiger Junge: Der Großvater war bei der Waffen-SS. (Auszug aus einem Aufstellungsseminar.) In: www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/bert_hellinger/beitraege_zur_homepage/un ruhiger_junge.shtml (Zugriff am 14.06.07).
- Hellinger, ten Hövel (1997): Anerkennen, was ist. Gespräche über Verstrickung und Lösung. 4. Aufl., Kösel, München.
- Hohnen, H. (2001): Erfahrungen aus letzter Zeit: Ein Interview von Harald Hohnen mit Bert Hellinger am 26.06.2001 in Berlin. In: www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/bert_hellinger/interviews/2001_06_26_inte rview_hohnen.shtml (Zugriff am 14.06.07). Horn, P.(2000): Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften: „Kultur" in den Gesellschaften der bantusprachigen Völker Südafrikas. In: www.inst.at/ausstellung/enzy/kultur/bantuhorn.htm (Zugriff am 18.05.07).
- Krüll, M.; Nuber, U. (1995): „Wenn man den Eltern Ehre erweist, kommt etwas tief in der Seele in Ordnung" (Interview mit Bert Hellinger). In: Psychologie heute, 6/95, S. 2226.
- Lakotta, B. (2002): „Danke lieber Papi." In: www.spiegel.de/spiegel/0,1518,druck_182682 ,00.html (Zugriff am 27.02.02).
- Mahr, A. (2000): Die Weisheit kommt nicht zu den Faulen: Vom Geführtwerden und von der Technik in Familienaufstellungen. In: Weber, G. (Hrsg.): Praxis des Familien-Stellens. Beiträge zu Systemischen Lösungen nach Bert Hellinger. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, S. 30-39.