Einige Anwender erheben die Chiropraktik zum Universalheilmittel, aber nach dem heutigen Stand der Forschung scheint sie bestenfalls bescheidene Erfolge zu feiern – und ihre Nebenwirkungen können laut Simon Singh sogar tödlich sein.
Es überrascht Sie vielleicht zu erfahren, dass der Gründer der Chiropraktik, Daniel David Palmer, geschrieben hat, „dass 99% aller Krankheiten durch verschobene Wirbel verursacht werden“. In den 60er Jahren des XIX. Jahrhunderts begann Palmer damit, seine Theorie zu entwickeln, derzufolge die Wirbelsäule bei annähernd jeder Erkrankung eine wichtige Rolle spielt, da das Rückenmark das Hirn mit dem Rest des Körpers verbindet. Dementsprechend können Fehlstellungen der Wirbelsäule in anderen, nicht benachbarten Teilen des Körpers Probleme verursachen.
Tatsächlich soll Palmers allererstes chiropraktisches Manöver einen Mann geheilt haben, der seit 17 Jahren stocktaub war. Seine zweite chiropraktische Behandlung war ebenso bizarr, denn er behauptete, die Herzprobleme eines Patienten durch Korrektur der Fehlstellung eines Wirbels zu beheben.
Sie glauben vielleicht, dass moderne Chiropraktiker sich auf Rückenprobleme beschränken. Tatsächlich sind aber unter ihnen einige verrückte Ideen noch weit verbreitet. Die Fundamentalisten behaupten, jede Krankheit heilen zu können. Sie wollen u.a. Kindern mit Koliken, Schlaf- oder Essstörungen oder häufigen Entzündungen der Ohren helfen, gegen Asthma oder anhaltendes Schreien ankämpfen – obwohl es bei diesen Indikationen keinerlei Belege für die Wirksamkeit ihrer Methode gibt.
Ich kann solche Behauptungen selbstbewusst als vollkommenen Unsinn bezeichnen, weil ich zusammen mit Edzard Ernst, dem weltweit ersten Lehrstuhlinhaber für komplementäre Medizin, ein Buch über alternative Medizin geschrieben habe. Als Arzt hat er chiropraktische Techniken studiert und angewendet, dabei aber auch erkannt, dass eine kritische Evaluierung nötig war. Für eines seiner Projekte hat er 70 Studien überprüft, in denen abseits klassischer Rückenprobleme chiropraktische Therapien untersucht wurden. Er konnte keinerlei Belege dafür finden, dass Chiropraktiker solche Beschwerden lindern können.
Aber was ist von chiropraktischen Methoden zur Behandlung von Rückenproblemen zu halten? Manipulationen der Wirbelsäule können bei einigen Indikationen helfen, aber insgesamt sind die Ergebnisse nicht eindeutig. Zugegeben, auch konventionelle Strategien wie Physiotherapie sind bei Rückenproblemen nicht immer erfolgreich. Dennoch sind sie gegenüber der Chiropraktik zu bevorzugen, da diese Art von Therapie mit ernsthaften Gefahren einhergeht.
Im Jahr 2001 hat ein systematisches Review von fünf Studien gezeigt, dass etwa die Hälfte aller chiropraktisch behandelten Patienten über kurzfristige Nebenwirkungen berichten, u.a. Schmerzen, Benommenheit, Steifheit und Schwindelgefühle. Das sind natürlich eher unbedeutende Effekte, aber sie kommen sehr häufig vor und müssen gegen die sehr begrenzten Vorteile chiropraktischer Eingriffe aufgewogen werden.
Besorgnis erregender ist, dass das Markenzeichen der Chiropraktiker, nämlich der so genannte Manipulationsstoß, noch wesentlich schwerwiegendere Risiken mit sich bringt. Dabei werden Gelenke über ihren normalen Bewegungsspielraum hinaus durch Anwendung kurzer, schneller Kraftstöße ausgelenkt. Obwohl diese Prozedur für die meisten Patienten risikolos ist, können in Einzelfällen Gelenke ausgekugelt oder Knochen gebrochen werden.
Schlimmer noch: Bei Manipulationen der Halswirbelsäule kann die Wirbelarterie, die das Gehirn mit Blut versorgt, beschädigt werden. Die sogenannte Dissektion dieser Arterie kann im Endeffekt zur Unterbrechung der Blutversorgung des Gehirns und dadurch zu einem Schlaganfall oder sogar zum Tod des Patienten führen. Da es zwischen der Dissektion der Wirbelarterie und der Blockade der Blutversorgung des Gehirns normalerweise eine zeitliche Verzögerung gibt, wurde der Zusammenhang zwischen chiropraktischen Maßnahmen und Schlaganfällen lange Jahre nicht erkannt. Vor kurzem konnten jedoch einige Fälle dokumentiert werden, in denen die Dissektion der Wirbelarterie mit Sicherheit durch Manipulationen der Wirbelsäule verursacht wurde.
Laurie Mathiason war eine 20jährige kanadische Kellnerin, die zwischen 1997 und 1998 aufgrund von Kreuzschmerzen 21-mal ihren Chiropraktiker aufsuchte. Bei ihrem vorletzten Besuch klagte sie über Steifheit im Genick. Noch am selben Abend ging sie erneut zu ihrem Chiropraktiker, da sich ihr Zustand verschlechterte und sie im Restaurant kaum noch arbeiten konnte. Als er ihre Halswirbel manipulierte, begann sie zu weinen, die Augen zu verdrehen, bekam Krämpfe und hatte Schaum vor dem Mund. Sie wurde in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht, fiel dort ins Koma und starb drei Tage später. Bei der Obduktion erklärte der Pathologe: „Laurie starb an einer Ruptur der Wirbelarterie, die während chiropraktischer Manipulationen an ihrer Halswirbelsäule zustande kam.“
Es handelt sich nicht um einen Einzelfall. Alleine in Kanada starben mehrere andere Frauen nach chiropraktischen Eingriffen, und Edzard Ernst hat in der medizinischen Fachliteratur annähernd 700 Fälle von schwerwiegenden Komplikationen identifiziert. Die Gesundheitsbehörden sollten diese Gefahren sehr ernst nehmen, vor allem, weil nicht jeder Fall erkannt wird und die Dunkelziffer daher wesentlich höher ist.
Wäre die Manipulation der Wirbelsäule ein Medikament, würde es bei so geringem nachgewiesenen Nutzen und solch schwerwiegenden Nebenwirkungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Markt genommen.
Simon Singh
Übersetzung: Dr. Philippe Leick
Fachliche Beratung: Dr. Werner Hessel
Simon Singh ist ein Wissenschaftsautor aus London und hat zusammen mit Edzard Ernst das Buch Gesund ohne Pillen – was kann die Alternativmedizin? (engl. Originaltitel: Trick or Treatment? Alternative Medicine on Trial) verfasst. Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines in The Guardian erschienen Artikels, aufgrund dessen Singh persönlich von der British Chiropractic Association wegen Verleumdung verklagt wurde.