Klaus E. Müller
Der Begriff "Schamanismus" ist neuerlich in vieler Munde. Als Ethnologe könnte man das, mit dem Blick zurück in nostalgischer Wehmut, zu begrüßen geneigt sein; handelt es sich doch um eine der vermutlich ältesten und ethisch anmutendsten Institutionen der Menschheit, die zudem einen hohen analytischen Schlüsselwert für die prämoderne Geistesgeschichte besitzt. Nach qualvollen Berufungs- und Initiationserlebnissen wuchsen Schamanen durch eine jahrelange "Lehrzeit" in ihre Aufgabe hinein: Durch Kontakt mit jenseitigen Mächten betreuten sie die Seelen der Gruppenmitglieder und sorgten so für die Überlebensfähigkeit und den Erhalt ihrer Gesellschaft.
Allein, die Rückschau wird getrübt durch das ethnologisch ärgerliche Verständnis und den Missbrauch, mit denen der Institution Schamanismus heute Gewalt angetan wird. Im wahrsten Sinne unberufene "Schamanen" bieten so genannte "alternative" Therapien aus dem weichen Bereich der "Geistheilerei" an oder verheißen Glaubenswilligen durch "bewusstseinsverändernde" Maßnahmen den Einstieg in vorgeblich "höhere" Erkenntnissphären. Die Absichten sind nicht ganz selbstlos; die modernen "Schamanen" besitzen ein gediegenes Verhältnis zum Kommerz - in eklatantem Widerspruch zu ihren vermeintlichen Vorbildern. Der Begriff Schamanismus selbst entstammt den tungusischen Sprachen und geht auf die Wurzel sa-, "denken", "begreifen", "wissen", zurück. Vermutlich ab der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr., als der Buddhismus in Mittelasien und Sibirien Fuß zu fassen begann, wurde er von dem Terminus samana aus dem mittelindischen Pali, der Sprache des buddhistischen Kanons, beziehungsweise Sanskrit cramana, "Bettelmönch", "Asket", überlagert. In historischer Zeit ist der Schamanismus in seiner "klassischen" Ausprägung zur Hauptsache für die Jäger-, Fischer- und hirtennomadischen Kulturen Nordeurasiens bis zu den Samen in Skandinavien, die südlich angrenzenden Himalajaländer sowie Indianer des nördlichen Nordamerika und der südamerikanischen Hyläa belegt.
Aufgaben des Schamanen
Denker, das heißt intellektuell auf der Höhe mussten die Schamanen in der Tat sein. Ihre Aufgaben reichten weit über die irdische Erfahrungswelt hinaus. Alter, traditioneller Anschauung nach bildet die Transzendenz oder "Traumzeit", das "dreaming" der australischen Aborigines, den Urgrund allen Seins. Aus ihr trat zu Anbeginn der uranfängliche Schöpfer hervor, schied aus der breiartigen materia prima das Feste ab und formte daraus Himmel und Erde, die Gestirne, Pflanzen, Tiere und Menschen. Licht erhellte den Raum, und mit der Bewegung von Sonne und Mond, mit Geburt, Reifen und Tod der Geschöpfe entstand die Zeit, aus ihrer aller Verbundenheit die Raumzeit. Die jenseitige ist der diesseitigen Welt also zeitlich wie essentiell vorgeordnet und überlegen. Was der Schöpfer und später die kulturstiftenden Götter und Heroen einmal ins Werk gestellt hatten, hielten sie auch fürderhin in Gang. Ressortgötter und Ahnen wachten über den Bestand der Welt, erhielten das Leben und ahndeten, oft mit harter Hand, jedes Vergehen wider die Schöpfungsordnung. Was immer auf Erden geschah, folgte Prinzipien oder Impulsen, deren Ursprung im Jenseits lag. Das Bindeglied zwischen beiden Welten bildete die leibunabhängige, rein spirituelle "Freiseele", da sie von der Art der Geistmächte ist. Neben dem Menschen besaßen sie auch die ihm schöpfungsverwandten und insofern unter den Lebewesen am nächsten stehenden Tiere. Wer Aufschluss über die Ursachen von gerade Geschehenem, über mögliche künftige Bedrohungen, über Jagdaussichten oder selbst die Wetterentwicklung erlangen wollte, musste also seine Freiseele gleich einem Instrument beherrschen, um sie jederzeit zum Einstieg ins Jenseits und zur Kommunikation mit den dortigen Mächten einsetzen zu können. Was anderen nur im Traum geschah, wenn sich die Seele aus der deaktivierten leiblichen Halterung löst und Ausflüge in die Transzendenz unternimmt, sollte ihm auch im Wachbewusstsein möglich sein - in der kontrollierten Ekstase, die er ebenso auszulösen wie zu beenden imstande sein musste. Ebendies vermochten die Schamanen, wie es sie, soliden Hinweisen nach, in Eurasien wohl bereits seit dem Jungpaläolithikum (die Zeit von ca. 36 000 bis 8000 v. Chr.) gab. Schamanen hatten vor allem die Aufgabe, schwere, namentlich psychische Erkrankungen zu heilen, die man dadurch verursacht glaubte, dass die Seele des Patienten sich, etwa im Traum, zu weit vom Körper entfernt und verirrt hatte oder von bösartigen Geistern abgefangen worden war, die sich damit unterhielten, sie nach Kräften zu quälen. Der Schamane versetzte sich dann - mittels Konzentration, Gesang und Tanz, oft auch durch den Genuss halluzinogener Drogen - in Trance, begab sich ins Jenseits, spürte die verlorene Seele wieder auf und geleitete sie heim beziehungsweise suchte sie ihren Peinigern durch geduldiges Verhandeln, Opferversprechen oder auch List wieder abzuringen. Des weiteren verhalfen Schamanen Frauen, die scheinbar nicht empfangen konnten, zu Kinderseelen, indem sie sich zu einem jenseitigen "Seelenkeimzentrum" begaben, eine geeignete Seele auswählten und sie, wieder zurückgekehrt, der künftigen Mutter einbliesen oder ins Kopfhaar legten. Bei Frauen, die schon häufiger Kinder verloren hatten, wandten sie folgendes ingeniöse Verfahren an: Sie verwahrten die flüchtigen Seelen entweder in kleinen Behältnissen, wie Säckchen zum Beispiel, die sie ständig bei sich trugen, oder brachten sie an einem geschützten Ort im Jenseits unter, wo sich eine Geistamme ihrer annahm und sie alles hatten, was ein Kinderherz begehrt. Dort blieben sie, bis sie außer Gefahr waren, was unter Umständen Jahre dauern konnte. Dass ihr Leib darüber nicht abstarb oder in einen komatösen Dauerzustand verfiel, lag daran, dass die Verbindung über den betreuenden Schamanen erhalten blieb. Oft glaubte man auch, dass eine Art feiner, farbig leuchtender Faden Seele und Körper über die Entfernung hin verband, den allerdings nur Schamanen sehen konnten. Übrigens liegt diese Vorstellung von der Seelenverwahrung in einer Art jenseitigem Schließfach auch dem Grimmschen Märchen Der gläserne Sarg (Nr. 163) zugrunde. Offenbar war die Praxis früher weiter verbreitet.
Drohte dem Bestand der Gruppe Gefahr, weil zu wenig Kinder geboren wurden (oder zu viele starben), suchte der Schamane, um den erforderlichen Nachschub an Seelen zu erbitten, die Ahnen oder den Hochgott im Himmel auf, unter dessen Obhut sich in Sammlerinnen- und Jägerkulturen häufig die Kinderseelen befanden. Hatte er damit keinen Erfolg, stahl er sie auch ganz einfach bei Nachbargruppen. Daneben zählten zu seinen weiteren wichtigen Aufgaben, vor Jagdzügen die Wetterentwicklung vorauszusagen, den Wildstandort zu erkunden und den "Herrn" beziehungsweise die "Herrin der Tiere", Übergeistmächte, die über den Erhalt des Jagdwilds wachten, zu bewegen, den Menschen einige ihrer Schützlinge zum Abschuss freizugeben. Und nicht zuletzt hatten Schamanen die Ihren auch vor den Anschlägen übelwollender Geister zu schützen und die Seelen der Verstorbenen sicher ins Totenreich zu geleiten. In summa trugen sie also die Verantwortung für die Überlebensfähigkeit und den Erhalt ihrer Gruppe. Dabei bildete die Kernaufgabe die Betreuung und Hut der Seelen, deren Bestand allein die Fortexistenz aller verbürgte. Das alles belastete die Schamanen nicht nur schwer, es setzte auch zwingend voraus, dass sie über ganz besondere Gaben geboten, eine überlegene Intelligenz und ein entschieden weiter reichendes Wissen als andere besaßen. Schließlich mussten sie sich ebenso gut im Diesseits wie im Jenseits auskennen und geübt im Umgang mit Geistern und Göttern sein. Frühe Beobachter, die noch "echte", gelegentlich auch große, weithin berühmte Schamanen erlebten, rühmen immer wieder ihre Selbstdisziplin, Konzentrationskraft und übergewöhnlichen Geistesgaben. Ihr Wortschatz lag häufig erheblich über dem anderer Gruppenmitglieder. Bei Jakuten-Schamanen konnte er bis zu 12 000 Wörter umfassen - gegenüber den üblichen 4000 des umgangssprachlichen Wortschatzes. Hinzu kamen besondere mimisch-darstellerische und poetische Gaben. Vielfach dichteten und komponierten sie ihre Gesänge selbst, je nach dem Inhalt der einzelnen Strophen virtuos das passende Versmaß wechselnd, etwa vom Jambus zum Anapäst, vom Trochäus zum Daktylus.
Berufung, Initiation und Ausbildung
Dass Schamanen über derartige Qualifikationen verfügten, kam nicht von ungefähr. Um erfolgreich zu sein, waren sie auf die Kooperation der guten Geistmächte angewiesen. Das setzte deren Bereitschaft voraus. Sie mussten den künftigen Schamanen ihren Segen geben - sie wählten sie eigens aus. Bei denen, die zu Großem ausersehen waren, geschah das durch einen weiblichen "Herrengeist", ihre sogenannte "Tiermutter". Sie ließ dazu ein bereits lebendes, mehrere Jahre altes Kind, das ihr geeignet schien, sterben. Cerviden-, das heißt elch-, hirsch- oder rengestaltige Tiermütter verschluckten dann seine Seele zunächst, wurden trächtig mit ihr und gebaren sie als ihr Junges, das sie säugten und aufzogen, bis seine Zeit zur Verkörperung auf Erden gekommen war. Vogelmütter, Adlerweibchen zum Beispiel, legten entsprechend ein Ei in einem Nest hoch oben auf dem Weltbaum und brüteten die Seele dort aus. Kleinere Vögel, etwa ein Specht, trugen sie dann hinunter auf die Mittelwelt und legten sie der irdischen Mutter ins Haar auf die Nahtstelle der Hauptfontanelle, durch die sie hinab in den Leib gelangte und zur Empfängnis führte. Die Schamanen besaßen also in diesem Fall schon pränatal die Voranlagen für ihre künftige Doppelnatur: im Leben Menschen wie andere auch, waren sie gleichzeitig Kinder einer - in Jägerkulturen zudem überlebenswichtigen - Geistmacht, die sie im übrigen auch späterhin mütterlich-fürsorglich betreute. Als Kinder wirkten sie von frühauf unausgeglichen und nervös, als litten sie unter einer steten psychischen Spannung. Sie zeigten sich verschlossen und ernst, nachdenklich bis vergrübelt. Erreichten sie die Pubertät, erfolgte gewöhnlich ihre "Berufung". Ihre gedankliche Abwesenheit wuchs, sie fühlten sich seltsam matt und zerschlagen, schliefen viel und sprachen im Traum. Dann überfielen sie Fieberanfälle. Wild mit den Augen rollend, stießen sie unartikulierte Schreie aus, die wie Tierlaute klangen, und tanzten wirbelnd herum, bis sie erschöpft zusammenbrachen. Das kam, weil sie Gesichte hatten, mehr bei Nacht im Traum als am Tag. Ihnen erschienen die Seelen verstorbener Schamanen, häufiger jedoch Geister in Tiergestalt, die sie eindringlich aufforderten, Schamanen zu werden. Dagegen wehrten sie sich nach Kräften; sie wussten zu gut, was an Entbehrung, Mühsal und Qual auf sie zukommen würde. Die Geister gaben jedoch nicht auf, bedrohten, schlugen, ja folterten sie, bis sie schließlich einwilligten; andernfalls wurden sie zur Strafe mit lebenslangem Wahnsinn geschlagen. Etliche nahmen sich auch, um dem gefürchteten Ruf zu entgehen, das Leben. Schickten sie sich in ihr Los, genasen sie binnen weniger Tage. Die russische Ethnologin Anna Smoljak erlebte derartige Fälle bei Tungusen in Ostsibirien in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In einem handelte es sich um eine junge gebildete, etwa dreißigjährige Frau und Mutter mehrerer kleiner Kinder. Wie viele ihrer Generation, die nach wie vor Berufungserlebnisse hatten, schenkte sie längst den alten Vorstellungen keinen Glauben mehr und begab sich daher, als die Geister sie riefen, ins nächstgelegene Bezirkskrankenhaus in Behandlung. Doch ihr Zustand besserte sich nicht. Schließlich, nach langen qualvollen Jahren, folgte sie dem Rat erfahrener älterer Leute, fügte sich, griff zur Trommel, genas und blieb von Stund an beschwerdefrei. Allerdings war der Werdegang eines Schamanen mit der Berufung nicht abgeschlossen. Das Schlimmste, seine "Initiation", stand ihm noch bevor. Nach kurzer Erholungspause erkrankten die Kandidaten aufs neue. Nunmehr sanken sie in tiefe Bewusstlosigkeit, atmeten kaum noch und schienen wie abgestorben. An ihrem Leib wurden Wundmale, dunkelviolette Druckstellen und Blutergüsse sichtbar. Ausschlag und Ekzeme überzogen die Haut. An den Gelenken trat Blut aus. Die Kräfte verließen sie; es schien, als zehre sie etwas aus. Alle kannten die Zeichen: Sie bildeten lediglich äußerlich ab, was den Betroffenen zur gleichen Zeit seelisch widerfuhr. Die Initiation währte in der Regel drei Tage. Der Kandidat erlebte in einer Art Traumvision, wie ihn die Geister - gewöhnlich dieselben, die ihn berufen hatten - in die Unterwelt entführten und dort seinen Leib Stück für Stück auseinander nahmen. Als erstes trennten sie seinen Kopf ab und deponierten ihn an erhöhter Stelle, damit er beobachten konnte, was in der Folge geschah. Daraufhin zogen sie mit eiserner Haken seine Gelenke auseinander, lösten das Fleisch von den Knochen und zerschnitten es in kleine Teile, die sie mit seinem Blut tränkten und gemeinsam verzehrten. Anschließend vollzogen sie die "Wiederbelebung" des "Getöteten": Die Knochen wurden anatomisch korrekt zusammengelegt, die Gelenke mit Eisenfäden aneinandergenäht, das Skelett mit neuem Fleisch umkleidet und zuletzt der Kopf auf den Rumpf gesetzt - der Initiand lebte wieder auf, wenn auch zunächst erst im Jenseits. Denn noch bedurfte er seiner professionellen Ausbildung. Dazu unterwiesen ihn die Geister in der Topographie der jenseitigen Welt, machten ihn persönlich mit den Mächten vertraut, die als "Herren" oder "Herrinnen" der Pflanzen, Fische, Seesäuger und Landtiere verantwortlich für den Erhalt der Nahrungsgüter waren, lehrten ihn, die verschiedenen Krankheitsgeister unterscheiden, das heißt sichere Diagnosen zu stellen, und unterrichteten ihn in den entsprechenden Heilverfahren. Danach gaben sie seine Seele frei; sie kehrte zurück und verband sich wieder mit ihrem irdischen Leib, der daraufhin genas. Der wahrhaft "frischgebackene" Adept war, von Grund auf gewandelt, zu einem anderen, neuen Menschen geworden. Er besaß nun seine endgültige Doppelnatur, halb Mensch, halb Geist. Sie verlieh ihm die Gabe der Hellsichtigkeit, Telepathie und Präkognition. Er konnte jederzeit Geister und Verstorbene sehen (bzw. sprechen oder singen hören) und ebenso tief in die Vergangenheit zurück- wie weit in die Zukunft vorausschauen. Nicht zuletzt aber hatte ihn die spirituelle Wiedergeburt zum "Blutsverwandten" seiner Schutz- und Hilfsgeister gemacht, das heißt, beide waren fortan zur Reziprozität, zur wechselseitigen Hilfeleistung, verpflichtet. Ein Schamane konnte daher später nur Krankheiten heilen oder Übel bekämpfen, deren geistige Urhebermächte von seinem Fleisch und Blut gegessen hatten - je mehr es gewesen waren, desto größer sein Wirkvermögen. Neben der beschriebenen, der im Ganzen gängigsten, kamen auch andere Umwandlungsformen vor. Bei einzelnen sibirischen und Hindukusch-Völkern wurden zum Beispiel Fleisch, Eingeweide und Blut nicht verzehrt, sondern eine Zeitlang in einem Kessel gekocht und danach wieder, gereinigt und erneuert, mit dem Skelett verbunden. Nach dem Glauben einiger Tungusen-Gruppen erhitzten die Geister den Kandidaten in einem Ofen gleichsam bis zum "Erglühen", um ihn anschließend mit Hammer und Amboss regelrecht "umzuschmieden". Nach Abschluss seiner Metamorphose und Wiedergenesung erschien der junge Schamanenanwärter wie ausgewechselt. Seine kränkliche Konstitution, Nervosität, Unruhe und häufige Geistesabwesenheit verloren sich vollends. Seine Persönlichkeit straffte sich gleichsam; er wirkte nunmehr beherrscht, konzentriert, entschlossen und kraftvoll. Manche begaben sich danach noch zu einem berühmten Meister in die Lehre, um sich mit den mehr praktischen Kenntnissen und Techniken ihres Berufs vertraut zu machen. Sie begleiteten ihren Lehrer bei seinen Krankenbesuchen, assistierten ihm während der Heilséancen, lernten, wie man sich in Trance versetzt, welche Opfer den verschiedenen Geistmächten dargebracht werden mussten und vieles andere Einschlägige mehr. Zum Abschluss eines derartigen, in der Regel drei- bis fünfjährigen Lehrgangs fand gewöhnlich eine förmliche Weihe statt, mit der dem Schüler gewissermaßen die offizielle "Approbation" erteilt wurde.
Die schamanistische Séance
Schamanen kamen, wann und zu wem immer sie gerufen wurden, gleichgültig, wie weit der Weg dahin war und welche Witterungsbedingungen herrschten. Da sie des Beistands ihrer Geister bedurften, fanden die Séancen stets nachts, während der "Geisterzeit", statt. Ihr Auftritt erforderte, wie beim Theater, eine gewisse Vorbereitung und Kostümierung samt Requisiten. Bevor sie aufbrachen, fasteten sie mehrere Stunden lang und unterzogen sich einer gründlichen Reinigung. Darauf legten sie ihre Tracht an, bestehend aus einem knielangen Kittel, Beinkleidern, Schuhwerk, Handschuhen und Kopfaufsatz, deren Besonderheit ihren spirituellen Ursprung, das heißt ihre Übernatur zum Ausdruck brachte und insofern der Form nach ihrer "Tiermutter", ihrem persönlichen Schutzgeist, entsprach. Zwei Typen überwogen daher. Im einen Fall handelte es sich um ein Cerviden-, im anderen um ein Vogelkostüm. Geweihattrappen, teils rückwärtig an den Schultern angebracht, mehrheitlich jedoch als Kopfaufsatz getragen, markierten Elch, Hirsch oder Ren; Fransen aus Tuch oder Leder an Ärmeln, Schultern und Rocksaum deuteten dabei das Haarkleid an. Die Vogel-, in der Hauptsache Uhu-, Eulen- und Adlernatur war kenntlich gemacht durch Federn sowie längere Stoffstreifen oder Lederbänder, die das Kostüm über und über bedeckten und bis auf den Boden reichten. Sie standen für Schwingen und Federkleid, während Lederriemen und Reihen von Glasperlen am Schuhwerk die krallenbesetzten Vogelfüße markierten. Gürtel und Rock trugen in beiden Fällen Abbilder seiner - fast ausnahmslos tiergestaltigen - Hilfsgeister und waren dicht mit kleinen metallenen Röhren, Plättchen, Schellen und Glöckchen behängt, die bei jeder Bewegung einen entsprechenden Klanglärm verursachten und offensichtlich apotropäischen Zwecken dienten, ferner mit Darstellungen von Sonne, Mond und Erdscheibe zur Orientierung beim Auf- und Abstieg.
Zu den wichtigsten Requisiten zählten - in Nordeurasien zumindest - besondere Zeremonialstäbe und eine Trommel. Erstere dienten als Träger der Hilfsgeister. Rundum mit ihren Darstellungen bemalt, saß dem oberen Ende entweder ein plastisch herausgearbeiteter Vogel oder die Figur eines anthropomorphen, gelegentlich janusköpfigen Geistes auf, der gleichsam doppelte Sehkraft besaß und dem Schamanen besondere Dienste bei der Suche nach verlorengegangenen Seelen und dem Aufspüren feindlicher Geistmächte leistete. Bei der Trommel handelte es sich gewöhnlich um ein Instrument vom Tamburintypus, also einen Rahmen mit einseitiger Bespannung. Das Fell war bemalt und stellte eine Art Kartographie des Kosmos dar: Querstriche schieden Ober-, Mittel- und Unterwelt voneinander. Im Mittelfeld waren das Meer, das die Erdscheibe umschließt, Wald (die Taiga), die großen Flüsse, auf denen sich der Schamane gelegentlich in die Ober- und Unterwelt begab, sowie der Weltbaum mit Vögeln darauf und noch einiges andere zu sehen. Den Himmel markierten Sonne und Mond, Wolken, Sterne und Sternbilder, an denen sich der Schamane beim Aufstieg orientierte, sowie oft auch ein Regenbogen, den er als Brücke in die Oberwelt benutzte. Die Trommel diente vor allem zwei Funktionen. Zum einen schlug sie der Schamane, um sich in Trance zu versetzen, zum andern "ritt" er auf ihr, wenn er das Jenseits bereiste. Sie entsprach dann einem cervidengestaltigen Hilfsgeist. Der Raum, in dem sich die Séance, etwa zur Heilung eines Kranken, vollzog, musste zuvor gereinigt werden - denn nach universalem Glauben halten sich bösartige Geister bevorzugt im Schmutz auf. In dem Augenblick, in dem der Schamane ihn sozusagen im Theaterjargon "in Kostüm und Maske" betrat, verwandelte er sich zum Sakralbereich und gewann kosmische Dimensionen - die Bühne wurde zum Welttheater. Das Dach des Zeltes (oder der Hütte) bildete das Himmelsgewölbe, der Boden die Erde ab; der mittlere Stützpfahl entsprach dem Weltbaum, an dem der Schamane gegebenenfalls durch das Rauchloch in die Oberwelt aufstieg. Gewöhnlich war der "Zuschauerraum" bis zum letzten Platz besetzt. Unabdingliche Voraussetzung der Séance war, dass der Schamane in Trance fiel, genauer: in Ekstase geriet, das heißt ganz Seele wurde, um sich vom Leib befreien und seine irdische Existenz transzendieren zu können. Dazu hatten Schamanen in aller Welt eine Fülle von Verfahren entwickelt. Das älteste scheint rein gedankliche Konzentration gewesen zu sein. "Große" Schamanen versetzten sich allein dadurch in Trance und Ekstase; Drogen wiesen sie verächtlich ab, da sie die Konzentration wie die Fähigkeit, das Geschehen zu kontrollieren, nur beeinträchtigen würden. Sonst bildete ein gängiges Mittel rhythmisches Trommelschlagen und Sang, begleitet von gleichförmigen wiegenden Körperbewegungen, dann Tanz, der sich stetig steigerte bis zur entfesselten Raserei, die schließlich zum Absturz in die - vorübergehende - Bewusstlosigkeit führte. Oft wurden zur Verstärkung und Beschleunigung des Prozesses auch pflanzliche Stimulanzien verwandt. In Ostsibirien inhalierten die Schamanen zum Beispiel den Rauch von wildem Rosmarin, im Hindukuschraum fand bevorzugt Wacholder-, in Nord- und Südamerika Tabakrauch oder Schnupfpulver aus den gerösteten Bohnen diverser Hülsenfrüchtler (das bekannte Yopo) Verwendung. Mehr aber noch dienten in Mittel- und Südamerika sowie Teilen des südlichen Nordamerika bestimmte alkaloidhaltige Pflanzenextrakte als Trance-Induktoren - zum Beispiel Ayahuasca, das aus verschiedenen Arten der Gattung Banisteriopsis, einer Liane, hergestellt wird, der Stechapfel (Datura) und in Mexiko und Texas der Peyotl, eine Gattung der Kakteengewächse, dessen Wirkung auf dem Alkaloid Meskalin beruht. In den subpolaren und polaren Gebieten Asiens standen derartige Mittel natürlich nicht zur Verfügung. An ihre Stelle trat hier - aber keinesfalls durchgängig - der Fliegenpilz (Amanita muscaria), der neben anderen, teils hochtoxischen Substanzen das Alkaloid Muscarin enthält. Genossen wurden allein die Kappen, entweder frisch oder in Extraktform, verdünnt mit Wasser, Renmilch und bestimmten Pflanzensäften (z. B. aus Weidenröschen, Heidel- und Rauschbeere). Ein Schamane konnte, je nach Erfahrung und Gewöhnung, pro Séance drei bis sieben, maximal neun - dann allerdings immer getrocknete - Kappen zu sich nehmen. Die Wirkung trat, verstärkt durch das vorangegangene Fasten, nach 40 bis 60 Minuten ein. Der Schamane verfiel zunächst in einen knapp einstündigen Tiefschlaf, erwachte dann, sprang zitternd auf und begann zu singen und zu tanzen, wobei seine Bewegungen zunehmend fahriger und wilder, seine Worte immer unverständlicher wurden, wie in Fetzen zerrissen klangen. Alsbald setzten auch Halluzinationen ein. Er hörte Stimmen, die ihn riefen - seine Geister kamen. Dann erblickte er sie, antwortete und unterhielt sich mit ihnen. Dabei löste er sich allmählich vom Körper, den er jetzt unter sich sah, hob ab und flog mit den Geistern davon, bis er zuletzt, nach Stunden und völlig erschöpft, erneut in einen langanhaltenden Tiefschlaf fiel. Manche Schamanen boten ihrem Publikum, bevor sie auf dem Höhepunkt der Séance zum Flug ansetzten, eine Art Vorprogramm. Sie tanzten barfüßig über glimmende Kohlen, nahmen glühende Eisenteile in die Hände oder den Mund, tranken kochendes Wasser, öffneten durch pures Emporheben des Trommelschlegels das Dach und ließen es schneien oder trennten ihren Kopf ab, um ihn gleich darauf wieder aufzusetzen. Trafen die Geister ein, machten sie ihre Stimmen durch Bauchrednerei ebenso deutlich wie differenziert vernehmbar - alles teils auf so meisterliche Weise, dass der Eindruck die Anwesenden wahrhaft überwältigte. Ein Zeuge, der russische Ethnologe Vladimir Bogoraz, berichtet von einer Séance bei den Tschuktschen: "Die Illusion war derart stark, dass ich unwillkürlich in die Luft griff, um die sprechende Person zu greifen. Die Töne beginnen irgendwo weit in der Höhe, sie nähern sich allmählich, dringen durch die Wände wie ein Sturm, versinken in der Erde, in deren Tiefen sie verstummen. Es ertönen die verschiedensten Stimmen, Tier- und Vogelstimmen, Fliegengesumm." Doch handelte es sich dabei nicht um bewusste Täuschung und puren Hokuspokus. Die "Tricks" wurden vom Publikum durchaus als solche verstanden. Der Schamane versuchte durch die Meisterschaft, die er dabei bewies, lediglich auf das eindrücklichste zu demonstrieren, dass er eben kein gewöhnlicher Mensch, dass er zu mehr als andere befähigt war. Den Ventriloquismus zum Beispiel setzte er ein, weil er ihm als das geeignetste Medium erschien, die Stimmen der verschiedenen Geister adäquat wiederzugeben. Die Effekte bildeten - zumindest bei echten Könnern - einen bewusst kalkulierten Bestandteil des Ganzen, ein Mittel, das Vertrauen des Publikums und Patienten in seine Zuverlässigkeit und Meisterschaft zu stärken. Wann es anschließend dann zum Höhepunkt der Séance, zum Abflug des Schamanen kam, war jedem Anwesenden unverkennbar. Der Trommelschlag wurde rascher und härter. Die Bewegung steigerte sich zum rasenden Wirbeltanz. Die Geister näherten sich hörbar. Sie riefen durcheinander, die Stimmen verstärkten sich zu einem zuletzt ohrenbetäubenden Pfeifen, Kreischen und Schreien. Der Schamane begrüßte sie, abgehackt, atemlos, einen nach dem andern, befragte sie etwa nach den Ursachen der Krankheit, um die es ging, und beriet sich mit ihnen. Und dann plötzlich brach das Geschehen ab: Die Seele hatte den Körper verlassen. Der Schamane sank entweder in sich zusammen, saß mit geschlossenen Augen oder abwesend in unergründliche Fernen gerichtetem Blick oder tanzte verhalten zu gedämpftem Trommelschlag auch weiter und schilderte in summendem, manchmal wimmerndem oder gestammeltem Singsang, wo er sich gerade befand, was er sah und erlebte. Oft bezog er den Kranken dabei mit ein. Er befragte ihn etwa nach seinen Träumen in der letzten Zeit, um ihnen mögliche Hinweise auf den Aufenthaltsort der Seele und den Weg dahin zu entnehmen. Fielen die Antworten vage aus, kam er unter Umständen vom Weg ab. Dann versuchte er, durch gezieltere Fragen präzisere Angaben zu erhalten. Meist waren ihm jedoch seine Geister dabei behilflich. Schließlich, ans Ziel gekommen, entrang er die abgängige Seele, sei es mit List oder Gewalt, ihren Entführern und geleitete sie heim. War dann nach mehreren Stunden alles vorüber, brach der Schamane zumeist in totaler Erschöpfung zusammen. Manchmal versank er sofort entweder in Bewusstlosigkeit oder tiefen Schlaf, der bis zu 24 Stunden währen konnte; ein andermal lag er noch lange wachend da, ohne ein Wort zu sprechen. Trugen manche Séancen gelegentlich über kleinere Strecken hin auch komödiantische, ja burleske Züge, beherrschten insgesamt doch eine spürbare Spannung, Beklemmung und drückende Düsternis die Szene. Frühe Reisende, die noch Gelegenheit hatten, echte, "große" Schamanen zu erleben, zeigten sich ausnahmslos beeindruckt, ja geradezu betroffen von ihrem tiefen, geradezu tragischen Ernst und der eigentümlich lastenden, unheimlichen Atmosphäre der Séancen. Der russische Forschungsreisende Ferdinand von Wrangel, ein anerkannt guter und kaum zu Übertreibungen neigender Beobachter, der in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts an einer Expedition zur Erkundung Nordostsibiriens teilnahm, schildert seinen Eindruck von einer Tschuktschen-Séance wie folgt: "Ein echter Schamane ist gewiss eine höchst merkwürdige psychologische Erscheinung. Sooft ich hier und an anderen Orten operierende Schamanen sah, ließen sie immer einen lange dauernden, düstern Eindruck in mir zurück. Der wilde Blick, die blutrünstigen Augen, die heisere Stimme, die mit äußerster Anstrengung sich aus der krampfhaft zusammengepressten Brust einen Weg zu bahnen schien, die unnatürliche, krampfhafte Verzerrung des Gesichtes und des ganzen Körpers, das empor gesträubte Haar, ja selbst der hohle Ton der Zaubertrommel - alles das gibt der Szene etwas Grauenvolles, Mysteriöses, das mich jedes Mal ganz seltsam ergriffen hat."
Der Versuch, zu verstehen
Als die Ethnologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Schamanismus aufmerksam zu werden begann, stand noch der Evolutionismus in vollem Flor. Völker fernab der modernen Industriezivilisationen, und namentlich solche, die überwiegend von der Jagd und Sammelwirtschaft lebten, schienen noch auf den untersten Stufen der Entwicklung zu stehen. Ihre Vorstellungen von Natur und Welt konnten sich entsprechend nur auf gleichsam "kindliche", falsche Deutungen der Zusammenhänge gründen, die erst die neuzeitliche Wissenschaft richtig zu verstehen gelehrt hatte. Der Schamanismus, dessen Kern der Geisterglaube bildete, stellte da lediglich eine besonders bizarre, extreme Ausprägung des primitiven Wahnglaubens dar, so dass nahe lag, die Phänomene zunächst auf psychopathogene Ursachen zurückzuführen, zumal es in der Tat ja auch frappante Parallelen gab. Russische Forscher hielten die Schamanen zunächst pauschal für "nervenkranke Subjekte", eigentlich aber eher für "echte" Psychopathen, mal für Hysteriker, mal für Epileptiker, mal für Schizophrene. Der seinerzeit hochrenommierte Neurologe Pavel Evgenieviè Snessarev (1876-1954) befand: "In der Regel sind Menschen, die in diesem oder jenem Grad mit der schamanistischen Praxis zu tun haben, nicht vollwertig oder direkt geisteskrank." Auffallend schienen vor allem Übereinstimmungen mit dem Krankheitsbild von Epileptikern und Schizophrenen. Im ersteren Fall handelt es sich allerdings immer nur um sehr kurzfristige Anfallsverläufe, doch charakterisiert immerhin durch Zuckungen, unkoordinierte Bewegungen, Räuspern, starkes Ein- und Ausatmen, wirres Reden, Halluzinationen und traumartige Zustände (dreamy state). Fündiger dagegen wurde man in der Symptomatik der Schizophrenie. Die Kranken erfahren hier beispielsweise Umwandlungen ihrer Persönlichkeit, die in vielen Fällen als Wiedergeburtsprozess erlebt werden. Manche träumen dabei oder "sehen", wie ihr Kopf durch einen Messerschnitt vom Rumpf getrennt und ihr Körper bis auf die Knochen in Stücke zerlegt beziehungsweise "zersägt" wird. Auch Verwandlungen in Tiere kommen vor. Und nicht zuletzt zählen Flugerlebnisse und Geistererscheinungen zu den charakteristischen Zügen des Krankheitsbildes. Doch so bestechend und unabweislich die Übereinstimmungen, und zwar in formaler wie inhaltlicher Art, auch sind: Einem unmittelbaren Zusammenhang steht entgegen, dass es sich in beiden Fällen um Krankheiten handelt; die Anfälle treten spontan auf, können also weder nach Belieben ausgelöst noch kontrolliert, geschweige denn beendet werden. Schamanen dagegen waren nach ihrer Initiation durchaus gesunde und lebenstüchtige, ja den Ihren an physischer Widerstandskraft und Selbstkontrolle überlegene Menschen. Sie fielen, wenn man so will, der "Krankheit" lediglich zweimal, während der Berufung und Initiation, zum Opfer. Danach beherrschten sie die "Symptome", das heißt bedienten sich ihrer nach Belieben, wann immer ihnen ihr Amt das gebot, um sie anschließend gleichsam wieder "abzuschütteln". Die Geister, die sie riefen, vermochten sie jederzeit wieder loszuwerden. Hinzu kommt, dass die Einheimischen selbst die Schamanen niemals für Geisteskranke hielten. Sie schieden im Gegenteil, auch terminologisch, sehr genau zwischen beiden: Die einen waren die Kranken, die anderen ihre Ärzte. Im übrigen kommt das Initiationserlebnis auch sonst, weltweit und in allen Kulturen vor. Es hat offenbar mit persönlichen Krisen, kaum aber einem anhaltenden, therapiebedürftigen Leiden zu tun. Typische Züge sind nahezu immer: ein Unfall, eine schwere physische Erkrankung, eine traumatische Erfahrung, eine Vision oder Geistererscheinung, nicht zuletzt auch Nahtodeserfahrungen, das Empfinden, abzusterben beziehungsweise sich vom Körper zu lösen, schließlich ins Leben zurückzukehren mit dem Bewusstsein, wie "neugeboren" zu sein, woraus vielfach der feste Entschluss erwächst, ein ganz anderes, neues, "besseres" Leben im Dienst der Gemeinschaft zu führen. Die Beispiele sind wahrhaft Legion. Abgesehen von den traditionellen Kulturen, die keinen Schamanismus, aber gleichwohl analoge Phänomene kennen, könnte man auf bekannte Religionsstifter und neuzeitliche Sektengründer (vgl. z. B. Obst 2000), auf die berühmte Krise Carl Gustav Jungs nach einem totalen Zusammenbruch (vgl. Peat 1992) oder das Nachleben des Motivs in Literatur (vgl. z.B. Bessa-Luis 1998) und Märchen, bei Grimm zum Beispiel auf die zweite seiner Kinderlegenden, verweisen.
Die gesellschaftliche Verpflichtung der Schamanen
Beim Schamanismus indessen handelte es sich demgegenüber um eine festetablierte Institution, das heißt ein überindividuelles soziales Phänomen, über dessen Bestand die Gesellschaft normierend wie kontrollierend wachte. Amt, Legitimation und Praxis stellten einen ebenso zentralen wie integralen, tragenden Bestandteil eines in sich stimmigen, wohlausgewogenen Systems von Vorstellungen und Verhaltensformen dar, das sicher im Boden der gesamten Lebens- und Weltanschauung der Bevölkerungen verankert war. Sein harter Kern, das Initiationserlebnis, fußt dabei sichtlich auf dem universal belegbaren gemeinjägerkulturlichen Glauben, dass getötete Tiere vom Herrengeist ihrer Gattung zu neuem Leben erweckt werden können, sofern ihr Skelett nur unversehrt erhalten geblieben ist: Die Geistmacht umkleidet es dann mit neuem Fleisch, stattet es mit den erforderlichen Organen und Lebenskraft, das heißt der Vitalseele aus und verleiht ihm zuletzt die Freiseele. Die Jäger achteten daher immer sorgsam darauf, dass die Knochen beim Zerlegen des Wildes (bei Fischen die Gräten) möglichst unverletzt blieben. Man löste die Einzelteile an den Gelenken voneinander und vermied, scharfkantige oder spitze Geräte dabei zu verwenden. Nach der Mahlzeit wurden die Knochen dann sorgfältig zusammengelesen und in einem Beutel aus dem Fell des betreffenden Tieres in einen Baum im Wald gehängt oder in der korrekten anatomischen Anordnung in der Wildnis ausgelegt, manchmal sogar auch regelrecht bestattet. Das alles macht die Annahme doch sehr wahrscheinlich, dass der Schamanismus zumindest in seinem Kernbestand in der Tat ein hohes Alter besitzt, das heißt durchaus bis ins Jungpaläolithikum zurückreichen könnte, das zudem in Nordasien erst gegen 4000 v. Chr. ausklang. Er vermochte sich offensichtlich so lange zu halten, weil es um die zentralen Probleme der Gesellschaften ging und Erfahrung wie Erfolg die Zuverlässigkeit der Institution zu bestätigen schienen. Die "Realitätsfrage" stellt sich für eine Erfahrungswissenschaft nicht. Für sie ist ausschlaggebend, dass Menschen glauben, dass es - beispielsweise - Geister gibt, und danach handeln beziehungsweise ihre Erfahrungswelt entsprechend begreifen und begründen. Schamanen nahmen ihre Aufgabe ernst und fassten sie auf als das, was sie war: als soziale Verpflichtung. "Ein Schamane", erfuhr die russische Ethnologin Anna Smoljak noch vor wenigen Jahrzehnten bei den Nanaj, "gehört nicht sich selbst". Da er häufig gebraucht wurde, konnte er seinen eigenen Lebensunterhalt nur sehr bedingt bestreiten. Allerdings halfen ihm dankbare Patienten - so sie dazu in der Lage waren - mit Nahrungsmitteln und anderem, was er und seine Familie zum Leben brauchten, aus. Denn entlohnen lassen durften sich Schamanen nicht. Das hätte sie den Beistand ihrer Geister gekostet, die ihnen das kategorisch versagten. In der Regel hatten sie bei ihrer Weihe eine Art "Hippokrates-Eid" zu leisten. Bei den Jakuten lautete die Formel zum Beispiel: "Ich verspreche, der Beschützer der Unglücklichen, der Vater der Armen und die Mutter der Waisen zu sein." Die Tochter eines Nanaj-Schamanen klagte noch 1972 Anna Smoljak gegenüber: "Vater ist vollkommen verarmt; sie kommen aus den verschiedensten Dörfern und bitten ihn zu schamanisieren; niemals lehnt er ab. Er fischt nicht, schlägt kein Holz zu und schamanisiert nur." Schamanen führten ein wenig beneidenswertes, entbehrungsreiches, meist überaus hartes, ja qualvolles Leben, das ein Höchstmaß an physischer und psychischer Disziplinierung, Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit von ihnen verlangte. Sie standen im Dienst ihrer Gruppe, gaben sich auf für die Ihren, ohne irgendeinen nennenswerten Vorteil daraus zu ziehen. Das prägte nicht zuletzt ihre Persönlichkeit. Selten machten sie einen frohen oder gar glücklichen Eindruck. Die Last des Amtes und der Verantwortlichkeit, die sie trugen, drückte sie sichtlich nieder. Hager und abgezehrt, oft müde und erschöpft von der steten Überanstrengung, bewegten sie sich langsam, ja schleppend, scherzten und lachten kaum, wirkten in sich gekehrt, nachdenklich und ernst, oft ausgesprochen finster. Man scheute sich daher in gewisser Weise vor ihnen, was sie selbst unter den eigenen Leuten einsam machte. Doch gleichzeitig straffte sie auch eine besondere, fast unheimliche Würde, die sie wie eine düstere Aura umgab und ihnen so etwas wie tragische Größe verlieh.
Und heute? In Südamerika halten "Schamanen" vielbesuchte Lehrseminare für zahlungskräftige Adepten vornehmlich aus den USA ab. In Russland treten mittlerweile Hellseher, Wunderheiler und "Schamanen" im Fernsehen auf und können auf höchste Einschaltquoten zählen. In den Städten der westlichen Welt haben Wahrsager, selbst ernannte "Hexen", Geistheiler und "Stadtschamanen" Hochkonjunktur. Doch handelt es sich, jedenfalls ethnologisch gesehen, um eine Scheinrenaissance. Den Schamanen, die heute ihre Stimme erheben, geht die Legitimation dazu ab; weder wurden sie von Geistern berufen, noch durchlitten sie qualvolle Initiationen. Die Lebenswelten, in denen die Schamanen von ehedem gebraucht wurden und notwendige Funktionen erfüllten, gehören der Vergangenheit an. Ihre heutigen Nachtreter stehen nicht im Herzen ihrer Gemeinschaft, leiden und sterben nicht mehr für sie. Sie maßen sich an, was sie weder verstehen noch wozu sie die selbstlose Hingabebereitschaft und moralische Größe aufbringen könnten, wohl auch nicht die Einsamkeit auf sich zu nehmen bereit wären.
Der Text schöpft bis auf einige wenige kleinere Zusätze aus Klaus E. Müllers Buch "Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale", München: Beck, 2001.
Literatur
- Bessa-Luis, A. (1998): Die Sibylle. Roman. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 52-61
- Obst, H. (2000): Apostel und Propheten der Neuzeit: Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 363f.
- Peat, D. F. (1992): Synchronizität: die verborgene Ordnung. Goldmann, München, S. 20ff.
Prof. Dr. Klaus E. Müller ist Professor emeritus für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und zurzeit Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen und am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst sowie Mitglied verschiedener interdisziplinärer Forschungsgruppen. Kontakt: Zentrum für Wissenschaft und kritisches Denken, Arheilger Weg 11, 64380 Roßdorf.
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 1/2004.