Amardeo Sarma
Das Turiner Grabtuch bewegt seit Jahrhunderten die Gemüter nicht nur christlicher Betrachter. Der Überlieferung zufolge handelt es sich bei dem Leinen mit dem blassen Abbild eines menschlichen Körpers um das Tuch, mit dem Jesus nach der Kreuzabnahme bedeckt wurde. Eine Altersbestimmung mithilfe der C-14-Methode datierte den Stoff allerdings auf das 14. Jahrhundert – zu jung für eine echte Christus-Reliquie (Damon et al. 1989). Dennoch sind einige Autoren nach wie vor von der Echtheit des Tuches überzeugt. Diese „Grabtuchforscher“ nennen das Tuch „Sindone“ und sich selbst „Sindonologen“, nach der griechischen Bezeichnung für ein Stoffstück, das auch als Grabtuch verwendet werden konnte. Tonangebend ist die Gruppe STURP (Shroud of Turin Research Project).
Schon in den letzten Jahren hatte der inzwischen verstorbene Ray Rogers, Mitglied der Gruppe STURP, Einwände gegen die C-14-Datierung vorgebracht (Sarma 1989). 2005 veröffentlichte er die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchung. Demnach seien für die C-14-Datierung Proben aus einer im Mittelalter geflickten Stelle verwendet worden. Das Alter des Original-Tuchs schätzte Rogers auf 1300 bis 3000 Jahre. Viele Medien griffen Rogers’ Ansatz auf und stellten die C-14Datierung in Frage. Aber Altersbestimmungen sind nicht alles. Im ersten Teil des folgenden Artikels sollen zunächst die logischen Voraussetzungen und historischen Indizien für die Echtheit des Jesus-Abbildes geprüft werden. Im zweiten Teil wird die Arbeit von Rogers in den Zusammenhang der gesamten Grabtuchforschung mit ihrem Proben-Durcheinander eingebettet.
Sindono-Logik
Kann das Turiner Grabtuch echt sein?
Was wäre notwendig, um das Leinen als Grabtuch Christi im Sinne der Sindonologen zu identifizieren? Fassen wir deren These zusammen: Das Grabtuch umhüllte einmal die Leiche Jesu von Nazareth, einer historischen Gestalt, die im 1. Jahrhundert lebte und von Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, wie die Evangelien berichten. Das Grabtuch zeigt ein Abbild genau dieser Person, das ohne menschliches Zutun während der Umhüllung entstanden ist.
Die These zerfällt in zwei Teile, die logisch nicht voneinander abhängen. Es wäre denkbar, dass das Leinen tatsächlich den Leichnam Jesu umhüllte, das Abbild aber zu einer anderen Zeit entstanden ist. Leicht vereinfacht kann man die Situation wie folgt darstellen.
Das Diagramm symbolisiert Jesus Christus (1), Leinentücher aus dem 1. Jahrhundert oder früher (2), ein Leinentuch, das Jesus umwickelt (3), Leinentücher aus dem Mittelalter, davon eins mit einem aufgemalten Jesus-Abbild (4), die Bibel (5), das heutige Turiner Grabtuch (6) und alle möglichen anderen Vorlagen für das Turiner Grabtuch (∞) sowie die Beziehungen dieser Objekte zueinander.
Zunächst einmal stellen wir uns die Frage, welche der Objekte mit Sicherheit real sind. Das trifft auf das Turiner Grabtuch (6) und die Bibel (5) zu. Wir wissen auch, dass es im Altertum (2) und im Mittelalter (4) höchstwahrscheinlich ähnliche Leinentücher gab, doch es bleibt offen, ob (6) mit (3) oder (4) oder einem ganz anderen Objekt (∞) identisch ist (Die Hypothese =?1 besagt, das Tuch sei auf andere Weise zustande gekommen, zum Beispiel als Werk eines Künstlers im 14. Jahrhundert).
Logische Zusammenhänge beim Turiner Grabtuch
Damit die Echtheitsthese (=?2) der Sindonologen in ihrer Gesamtheit stimmt, müssen alle folgenden Tatbestände erfüllt sein. Ist aber nur ein einziger nicht erfüllt, muss die Echtheitsthese verworfen werden.
I. Jesus Christus (1) muss tatsächlich gelebt haben.
II. Jesus muss mit einem Leinentuch aus dem Altertum (2) umwickelt worden sein.
III. Es muss ein Verfahren geben, ein Abbild eines Toten oder auch (noch) Lebenden auf ein Leinentuch so zu übertragen, dass ein Bild der Person zu erkennen ist. Das Abbild muss zudem weitgehend verzerrungsfrei sein.
IV. Die Gesichtsund Körperzüge müssen sich tatsächlich auf das Leinen (3) übertragen haben.
V. Das Abbild muss dem Aussehen des authentischen und historischen Jesus (1) zur Zeit der Kreuzigung entsprechen; anderenfalls haben wir es mit einem Abbild eines anderen Mannes zu tun. VI. Auch wenn es zur Zeit Jesu tatsächlich ein Tuch (3) mit allen Merkmalen des Turiner Tuches (6) gegeben haben sollte, muss gezeigt werden, dass diese Tücher identisch sind (Hypothese =?3). Wird dagegen nachgewiesen, dass das Turiner Tuch nach dem 1. Jahrhundert entstanden ist, müssen wir die Echtheitsthese verwerfen. Dennoch kann es eine solche Reliquie gegeben haben – das Turiner Tuch wäre es aber nicht.
Das Bild auf dem Turiner Tuch hat Künstler zu Plastiken angeregt.
Der Stand der Grabtuchforschung
Betrachten wir die sechs Voraussetzungen, so ergibt es eine klare Bilanz:
• Zum Verfahren der Bilderzeugung (III., IV.) wurde bereits in einem früheren Skeptiker-Artikel (Sarma 2000) ausführlich Stellung genommen. Ohne sehr unplausible Zusatzannahmen ist es unmöglich, mit den bisher diskutierten Verfahren ein solches Abbild zu erzeugen. Auch mit Zusatzannahmen gelang niemandem bisher ein auch nur halbwegs vergleichbares Bild. Diverse Maltechniken erzielen dagegen Abbilder, die dem Turiner Tuch stark ähneln. Ein Abbild entsprechend (4) ist verschiedentlich demonstriert worden, ein Verfahren für ein Abbild entsprechend (3) konnte nicht plausibel gemacht werden.
• Punkt VI. ist seit der Altersbestimmung des Turiner Grabtuches geklärt. Das Turiner Tuch stammt aus dem 14. Jahrhundert, und somit kann es Jesus nicht umwickelt haben. (Die durch Rogers geweckten Zweifel an dieser Datierung sind Thema von Stephan Matthiesens Artikel im Skeptiker 4/05, S. 164-165.)
Wenden wir uns den verbleibenden Punkten, also dem historischen Jesus zu. Im nächsten Abschnitt wird zunächst erörtert, inwieweit das Bild auf dem Turiner Tuch dem Abbild Jesu entspricht (II., V.). Im Abschnitt danach gehen wir auf die Historizität Jesu (I.) ein.
Der historische Jesus und die widersprüchlichen Evangelien
Eine nahe liegende Quelle zur Klärung der Fragen II. und V. sind die Evangelien. Zunächst sollte man wissen, dass es die Bibel nicht gibt. Bis in die jüngste Zeit existieren mehrere Versionen, die auf voneinander abweichenden Urtexten aufbauen, zum Beispiel dem alexandrinischen und dem westlichen Text. Hinzu kommt, dass die Kirche bestimmte Texte überhaupt nicht in den Kanon aufgenommen hat, zum Beispiel die der Gnostiker und das Thomas-Evangelium, oder auch das kürzlich aufgetretene Judas-Evangelium. Viele konkurrierenden Texte sind vermutlich für immer verloren. Somit haben wir in den Evangelien nur einen Ausschnitt der sehr heterogenen Überlieferungen des frühen Christentums.
Viele Details des Turiner Tuchs entsprechen konkreten biblischen Angaben. Aber wie ist es um deren historische Zuverlässigkeit bestellt? Die Evangelisten waren keine Augenzeugen, es ist sogar äußerst fraglich, ob sie Kontakt mit Augenzeugen hatten. Viele Fachleute gehen davon aus, dass alle Evangelien erst nach dem Jüdischen Krieg von 65–73 n. Chr. entstanden sind. Als erstes der drei so genannten synoptischen, also nach Anlage und Inhalt eng zusammengehörigen Evangelien entstand zwischen 70 und 90 das Markus-Evangelium. Allerdings gehen die Meinungen über die Entstehungszeit weit auseinander. Konservative Theologen glauben, eines oder mehrere Evangelien seien bereits vor dem jüdischen Krieg entstanden, während einige Radikalkritiker sie auf das 2. Jahrhundert datieren. Die Autoren der Matthäus- und Lukas-Evangelien – die anderen beiden Synoptiker – erweitern und redigieren das Markus-Evangelium. Vermutlich nehmen sie auch Bezug auf eine heute verschollene Quelle „Q“, die vermutlich vor allem Reden von Jesus enthalten hat.
»Kreuzabnahme und Grablegung Christi werden in den Evangelien unterschiedlich geschildert.«
Die synoptischen Evangelien waren vermutlich nach 90 n. Chr. in einer frühen Version verfügbar. Der Text des vermutlich zehn Jahre später verfassten Johannes-Evangeliums weicht stark von ihnen ab; Jesus erscheint in einem ganz anderem Licht. Während ihn etwa das Markus-Evangelium als leidend und verlassen darstellt, ist er bei Johannes stark und kontrolliert das Geschehen.
Auch die Kreuzabnahme und Grablegung Christi werden in den Evangelien unterschiedlich geschildert: Der Speerstich in die Seite – ein Element, das auch auf dem Tuch auftaucht – wird nur bei Johannes erwähnt. Zur Bestattung Jesu heißt es dort allerdings: „Sie nahmen nun den Leichnam Jesu und banden ihn mit Leinenbinden samt wohlriechenden Beigaben, wie es für die Juden Sitte ist beim Begräbnis.“ Und weiter: „Da kam auch Simon Petrus hinter ihm nach und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen, das Schweißtuch aber, das über seinem Haupt lag, war nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengefaltet für sich an einem eigenen Platz“ (Johannes 20, 6f).
Matthäus und Lukas erwähnen hingegen ein Leinentuch, mit dem Joseph von Arimathäa den Leichnam Jesu umhüllt haben soll. Auch bei Markus wird Jesus in ein Leinentuch gewickelt. Der Hinweis auf die Speerwunde fehlt jedoch bei den Synoptikern.
Lediglich die Grundaussagen stimmen überein. Die Einzelheiten weichen erheblich voneinander ab, widersprechen sich sogar. Angesichts der Entstehungsgeschichte dieser Texte verwundert das kaum, denn wir haben es hier mit Zusammenstellungen aus vielen schriftlichen und mündlichen Überlieferungen zu tun. Gerade die genaue Widergabe kleiner Einzelheiten auf dem Turiner Tuch, wie des Speerstichs in die Seite, macht stutzig. Dieses und andere Details sind nur im spätesten Evangelium, dem des Johannes, erwähnt. Gleichzeitig widerspricht das Tuch anderen Johannes-Passagen, zum Beispiel dass Jesus in Leinenbinden gewickelt worden sei.
Aber ein Künstler würde wohl selektiv Einzelheiten aufgreifen. Die zum Teil detailgetreue Komposition von Details aus verschiedenen Evangelien spricht also am ehesten dafür, dass es sich beim Turiner Grabtuch um das Werk eines Künstlers handelt. Bei einem echten Bild würde man aufgrund der wahrscheinlich unvollständigen und ungenauen Erfassung der beschriebenen Ereignisse in den Evangelien eher einige prägnante Abweichungen erwarten, zum Beispiel Wunden an Stellen, die nirgends beschrieben sind.
In den Schriften des Flavius Josephus wird Jesus zwar erwähnt, doch geht man davon aus, dass diese Passage erst später hinzugefügt wurde.
Gab es überhaupt einen historischen Jesus im 1. Jahrhundert?
Es mag auf dem ersten Blick überraschen, diese Frage überhaupt zu stellen, so sehr hat sich die Historizität Jesu von Nazareth in unserem Kulturkreis etabliert. In den letzten zwei Jahrhunderten sind aber viele Zweifel aufgetaucht. Diese sehr facettenreiche Debatte um die Historizität des Jesus von Nazareth (Voraussetzung I.) kann an dieser Stelle aber nur angerissen werden. Interessierten steht eine Vielzahl von christlichen und nichtchristlichen Quellen zur Verfügung.
Die ältesten christlichen Bücher sind nicht die Evangelien, sondern frühe Briefe, etwa von Paulus. Von allen Büchern des Neuen Testaments ist wohl nur ein Teil der Briefe vor dem jüdischen Krieg entstanden, obwohl eine Minderheit der „Radikalkritiker“ sie als Konstruktion im Kirchenkampf des 2. Jahrhunderts betrachtet. Paulus sagt in seinen Briefen nirgendwo, dass Jesus in jüngster Vergangenheit gelebt hat, sondern spricht vom auferstandenen Christus. Er erwähnt weder Pilatus noch Judas, wie auch diese im 1. Jahrhundert im Zusammenhang mit Jesus anderswo außer den Evangelien nicht vorkommen. Und wenn Paulus christliche Botschaften verkündet, die in den Evangelien Jesus zugeschrieben werden, zitiert er nicht Jesus, sondern das Alte Testament. Jesus, der Lehrer, kommt bei ihm nicht vor, sondern nur Christus, der auf Erden bescheiden und in Knechtschaft lebte und – selbst sündenfrei – für die Sünden aller gekreuzigt wurde und auferstanden ist.
Es gibt keine zuverlässige, unabhängige Bestätigung eines historischen Jesus. Zwei der als Gegenargument meist genannten Quellen seien kurz aufgeführt: Bei dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus (2004, 18/3/3) wird Jesus zwar erwähnt, doch geht man davon aus, dass dieser Textteil nicht von Josephus selbst stammt, sondern später hinzugefügt wurde. Der römische Historiker Cornelius Tacitus (56–117) spricht davon, dass Christus in der Regierungszeit des Kaisers Tiberius durch den Prokurator Pilatus hingerichtet wurde. Dieser Abschnitt ist mit großer Wahrscheinlichkeit echt. Tacitus hat sich dazu aber fast sicher aus christlichen Quellen bedient, von denen es zu seiner Zeit bereits genügend gab. Ein römischer Originaltext würde den hingerichteten Jesus wohl kaum als Christus (= Messias!) bezeichnen.
Wir können also heute noch nicht einmal die Existenz des Jesus von Nazareth als historische Person des 1. Jahrhunderts als sicher gelten lassen (siehe auch Hähnchen 1965, Wells 1988, Wells 2004, Doherty 2000). Anhand dieser Zweifel ist die Echtheit des Turiner Tuches gerade im Hinblick auf die Wiedergabe kleiner Details aus der Bibel umso fraglicher.
»Es gibt keine zuverlässige, unabhängige Bestätigung eines historischen Jesus.«
Ein argumentativer Flickenteppich
Kann Ray Rogers die C-14-Datierung des Turiner Tuches umstoßen?
Nur selten in der Geschichte des Grabtuchs hatten kritische Forscher Zugang zum Grabtuch oder in diesem Zusammenhang wichtigen Untersuchungsmaterial. Die erste unabhängige Untersuchung erfolgte innerhalb der Kirche (Chevalier 1900). Im Jahr 1389, als sich das Tuch noch im französischen Lirey befand, bezeichnete der Bischof von Troyes, Pierre d’Arcis, das Tuch als Werk eines Malers, der die Fälschung überdies gestanden habe (Sarma 2000). Der Bischof berief sich dabei auf Untersuchungen seines Vorgängers Henri de Poitier. Zeitweise befanden sich Klebestreifen mit Tuchfasern im Besitz von Walter McCrone, zunächst Mitglied von STURP, bis er zum Grabtuchkritiker wurde. Er konnte an den Fasern Farbbindemittel und Farbstoffe identifizieren (McCrone 1999). Wie bei Sarma (2000) und McCrone (1999) erläutert, befand sich der Farbstoff Eisenoxid nur an Bildstellen, nicht an „leeren“ Stellen, und der für Blut oft verwendete Farbstoff Zinnoberrot war nur an den „Blut“-Stellen des Tuches zu finden.
Es gelang Ray Rogers und anderen STURP-Mitgliedern allerdings später, alle Proben wieder in ihren Besitz zu bringen. Heute sind sämtliche Tuch-Proben entweder in den Händen der katholischen Kirche oder bei STURP. Vermutlich weil STURP und andere Tuch-Gläubige innerhalb der katholischen Kirche fest von der Echtheit des Grabtuchs überzeugt waren, stimmten sie einer C14-Untersuchung zu. Die Ergebnisse von drei unabhängigen Labors zeigten, dass der Flachs des Leinentuchs erst im 14. Jahrhundert geerntet wurde (Damon et al. 1989). Der Befund stimmt mit der historischen Quellenlage überein, die das Turiner Tuch erst um 1350 sicher belegt. STURP-Mitglieder und andere Sindonologen dagegen bezeichnen die Datierung mit dem Hinweis auf verschiedene vermeintliche Fehlerquellen als unzuverlässig.
Angebliche Fehlerquellen der C-14-Datierung
Die Einwände im Einzelnen:
• Verunreinigung: Das Tuch soll durch Bakterien oder andere Stoffe verunreinigt sein, welche die Altersbestimmung verfälscht hätten.
• Geflickte Stelle: Die Proben für die C-14-Datierung sollen aus einem später geflickten Bereich stammen. Meist wird auf Flickarbeiten nach einem Brand im 16. Jahrhundert hingewiesen.
• Verschwörung: Die untersuchenden Forscher sollen im entscheidenden Moment die Original-Proben gegen solche aus dem 14. Jahrhundert vertauscht haben.
• Ein Neutronenblitz, der bei der Auferstehung Christi ausgelöst worden sei, habe den Anteil von C-14 im Stoff verändert.
Die grundsätzliche Schwäche all dieser Einwände – abgesehen von der Verschwörungstheorie – ist ihre geringe Erklärungskraft. Sie können nicht begründen, warum der behauptete Effekt gerade so dosiert war, dass sein Ergebnis mit dem ersten sicheren historischen Beleg des Tuches übereinstimmt.
Edward Hall, Michael Tite und Robert Hedges (v. l.) präsentierten 1988 das Ergebnis ihrer C-14-Datierung. Demnach stammt das Turiner Tuch aus dem Mittelalter.
Der Artikel in Thermochimica Acta
Rogers greift in seiner Veröffentlichung die zweite Hypothese auf. Er geht davon aus, dass die Probe für die C-14Datierung einer im Mittelalter geflickten Stelle entnommen wurde. Deshalb habe die Untersuchung ein weit geringeres Alter ergeben, als es bei einer Probe des Original-Leinens der Fall gewesen wäre. Neben antiken und mittelalterlichen Kontrollproben kommen hier nach Angaben von Rogers drei unterschiedliche Proben ins Spiel:
1. Proben von den Klebestreifen: Ein Teil dieser Proben wurde auch von McCrone untersucht. Heute befinden sie sich sämtlich im Besitz von Rogers bzw. STURP.
2. Fäden aus der C-14-Datierung: Luigi Gonella, Berater des Erzbischofs von Turin, der auch bei der Entnahme der Proben für die C-14-Datierung anwesend war, soll diese aus der Mitte des für die Datierung bestimmten Teils entnommen und an Rogers geschickt haben.
3. Raes-Proben: 1973 entnahm der Belgier Gilbert Raes Proben, die er nach der Untersuchung an Gonella zurückgeben musste. Ein Teil dieser Proben stammte von dem geflickten Teil, ein anderer vom Original.
Rogers zweifelt die C-14-Datierung aufgrund von zwei Untersuchungsmethoden an. Erstens will er mit der im vorigen Skeptiker diskutierten Vanillin-Datierung das Alter der Proben ermittelt haben. Zweitens unterscheidet er anhand des Vorkommens von Gummiarabicum – einem Harz, das auch als Bindemittel verwendet wird – „echte“ und „geflickte“ Tuchteile.
Kritiker wenden zu Recht ein, dass die Bestimmung von Vanillin-Restmengen im Gegensatz zur C-14-Datierung keine validierte Methode der Altersbestimmung ist, und weisen auf die Temperaturabhängigkeit des Vanillinzerfalls hin (Wikipedia 2005, Matthiesen 2005).
Doch es gibt noch mehr Ungereimtheiten in Rogers’Artikel.
Ray Rogers (links) betrachtet die Unterseite des Turiner Tuches.
Authentizität der Proben
Wenn Rogers’ Proben nicht zweifelsfrei echt sind, fällt seine Beweisführung wie ein Kartenhaus zusammen. Er selbst schreibt, die Probenentnahme für die C14-Datierung sei im Geheimen durchgeführt worden. Gemeint sind vermutlich die wenigen Minuten am 21. April 1988, die zwischen der Entnahme der Proben und deren Verschluss in einem Nebenraum vergingen. Skeptiker hatten bereits im Vorfeld davor gewarnt, die Kette der Authentifizierung zu unterbrechen. Damit wollten sie ein unbeobachtetes Vertauschen der Proben verhindern (Dutton 1998). Auf ein derartiges Vorgehen hatten sich die Beteiligten denn auch vor den Untersuchungen im so genannten Turiner Protokoll (1986) geeinigt. Dort sind auch die Details der Entnahme und der Untersuchung festgeschrieben. Dennoch setzten sich der Turiner Erzbischof und sein Berater Gonella eigenmächtig darüber hinweg (Gove 1996).
Die ungesicherte Aufbewahrung der Raes-Proben über mehrere Jahrzehnte hinweg kritisiert Rogers hingegen nicht. Dabei hat schon in den 1980er Jahren der Berater des Erzbischofs von Turin diese Proben genau deswegen als wertlos bezeichnet und zurückverlangt (Gove 1996).
Im 15. und 16.Jahrhundert befand sich das Tuch im französischen Chambéry.
Bei den Fäden aus der C-14-Datierung sind wir auf eine mündliche Aussage Gonellas angewiesen, denn in den Entnahmeberichten werden diese Stoffproben nicht erwähnt. Somit müsste Rogers (oder Gonella) zunächst die Authentizität der Fäden aus den C-14Datierungsproben glaubhaft nachweisen. Allein die Proben der Klebestreifen können mit einigen Einschränkungen als authentisch betrachtet werden. Bei Rogers’ Proben sind also sehr viel stärkere Zweifel an der Authentizität angebracht als bei denen der C-14-Datierung.
Einteilung der Proben in alt und neu
Rogers versucht, Proben aus dem Originalteil des Tuches anhand des Bindemittels Gummiarabicum von geflickten Stellen zu unterscheiden. Seine These: Nachträglich eingesetzte Flicken wurden mit Bindemittel und Farbe behandelt, um sie äußerlich dem Originalstoff anzugleichen. Weiter schreibt Rogers, er habe das Bindemittel Gummiarabicum in den Raes-Proben und in Fäden aus der C-14-Datierung von 1988 entdeckt, nicht aber im Hauptteil des Tuches. Rogers bestätigt damit indirekt ironischerweise auch die Untersuchungen des Tuch-Kritikers Walter McCrone (siehe auch Nickell 2005). Dieser hatte u. a. Farbbindemittel auf den Fasern der Klebestreifen gefunden. Er hatte als Bindemittel in den Fäden Tempera nachgewiesen, und nun macht es ihm Ray Rogers mit Gummiarabicum nach.
Unter Berücksichtigung der vermutlich unterschiedlichen Authentizität der Proben bei McCrone und Rogers können wir Folgendes festhalten:
• Sowohl McCrone als auch Rogers weisen an manchen Stellen Farbbindemittel nach, nicht jedoch an anderen Stellen des Tuches.
• McCrone findet Farbbindemittel nur an Abbild-Stellen, nicht an Stellen ohne Bild. Das spricht für die These, das Tuch sei gemalt. Diese Zuordnung war eindeutig.
• Rogers findet Farbbindemittel in den Raes-Proben, aber diese können auch von Abbild-Stellen stammen, denn Raes hatte Fäden aus Regionen mit und ohne Abbild entnommen. Er findet nichts in Proben vom Hauptteil des Tuches, aber dort ist Farbbindemittel an Stellen ohne Bild auch nicht zu erwarten. Erst müsste man zeigen, dass Gummiarabicum nicht etwa bemalte von nicht bemalten Stellen unterscheidet, sondern geflickte von nicht geflickten – dann könnte man nach der Untersuchung authentischer Fäden der C-14Datierung die Schlussfolgerung ziehen, dass diese aus einer geflickten Stelle stammen.
Methodenkritik
Neben dem Umstand, dass die Vanillin-Methode nicht validiert ist, gibt es auch weitere Einwände. Warum nutzte Rogers eine primitive qualitative chemische Methode zur Feststellung von Vanillin, statt eine quantitative Methode einzusetzen? Warum hat er keine Kalibrierung versucht? In einem Interview mit Jay Ingram vom Toronto Star bezeichnete Clint Chapple, Biochemiker an der Purdue-Universität, es als erstaunlich, dass Rogers nicht die von ihm sonst geschätzte Technik der Pyrolysen-Massenspektrometrie verwendet hat, um Vanillin-Reste genau zu quantifizieren. Chapple selbst nutze diese Technik in seinem Labor. Die Bestimmung von Vanillinmengen durch chemische Verfärbung sei hingegen sehr ungenau. Malcolm Campbell, Botaniker an der Universität von Toronto, ergänzte im selben Interview, dass biologische Fachzeitschriften wohl nur in Ausnahmefällen eine Forschungsarbeit publizierten, in der eine solche qualitative Färbungsmethode zum Vanillin-Nachweis auftaucht.
Rogers hätte sein Verfahren zunächst in Abhängigkeit von Parametern wie Temperatur kalibrieren müssen. Dann hätte er ein quantitatives Messverfahren nutzen müssen. Er hatte durchaus Zugang zu einer solchen Technik.
»Warum nutzte Rogers eine primitive qualitative chemische Methode zur Feststellung von Vanillin, statt eine quantitative Methode einzusetzen?«
Versagen des Gutachtersystems bei Thermochimica Acta?
Jede der drei genannten Ungereimtheiten – die unklare Authentizität der Proben, die fragwürdige Unterscheidung in alt und neu anhand von Bindemitteln sowie die ungenaue Vanillinnachweismethode – wäre allein schon ausreichend, um die Ergebnisse der Untersuchung stark in Zweifel zu ziehen. Aber Rogers’ Artikel wartet noch mit weiteren Problemen auf, die in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung nicht vorkommen dürften. Es fängt damit an, dass die Ergebnisse der C-14Datierung als Überraschung präsentiert werden, obwohl sie nur diejenigen überrascht haben dürften, die Einwände und Kritik geflissentlich ignoriert hatten. Hinzu kommt, dass kritische Arbeiten wie die von McCrone, die Rogers bekannt war, vollkommen ignoriert wurden. Dabei ist es bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus gutem Grund üblich, auf verwandte, aber in ihren Schlussfolgerungen anders gelagerte Arbeiten hinzuweisen und sie zu diskutieren. Andernfalls lehnen viele wissenschaftliche Zeitschriften die Veröffentlichung ab. Auch Rogers’ Argumentation zum geflickten Tuchteil, an dem angeblich die C-14-Datierung vorgenommen wurde, ist schwer nachvollziehbar. Einerseits schreibt er, die Reparatur sei zu einer unbekannten Zeit geschehen, andererseits gibt er dazu zwei Quellen an (Benford, Marino o. J. a und b), ohne zu erwähnen, dass dort von einer Reparatur nach dem Brand im 16. Jahrhundert die Rede ist. So entgeht Rogers dem Zwang, das Ergebnis der C-14-Datierung zu erklären, das auf das 14. und nicht das 16. Jahrhundert hinweist. Unbedarfte Leser dürften annehmen, das Tuch sei möglicherweise auch im 14. Jahrhundert geflickt worden, obwohl es hierauf keine Hinweise gibt. Im Grunde müsste Rogers erklären, warum gerade eine solche Mischung aus altem Stoff (aus der Zeit Christi) und neuem Tuch (aus dem 16. Jahrhundert) getestet wurde, dass der C-14-Gehalt zufällig genau jenes Alter (14. Jahrhundert) vorspiegelt, das die Echtheitsskeptiker seit 1390 annehmen. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum diese Schnitzer den Gutachtern nicht aufgefallen sind.
Zu diesem Fazit gelangt auch S. D. Schafersman: „Das wirklich Bemerkenswerte an dieser Kontroverse ist nicht das fälschlich angenommene Alter des Turiner Grabtuchs, sondern das Fehlurteil des Herausgebers einer Fachzeitschrift und das Versagen ihres PeerReview-Systems“ (Schafersman o. J.).
Schlussbetrachtung
Die Thesen der Sindonologen bleiben unhaltbar. Für sie steht das Ergebnis im Vornherein fest: Sie suchen nach Belegen für die Echtheit des Turiner Tuches und glauben sie in einzelnen Indizien zu finden. Ein wissenschaftliches Vorgehen müsste sich hingegen an Leitfragen orientieren: Wie lautet die These? Was ist notwendig, damit die These stimmt? Wenn nur eine notwendige Voraussetzung nicht erfüllt wird, bricht die gesamte These in sich zusammen. Dann hätten wir es mit einem offenen Problem zu tun, das nach neuen Erklärungen verlangt.
Ein Ende des Rummels um das Leinen ist trotzdem nicht zu erwarten – dazu weckt es wohl zu viele Emotionen.
Literatur
Benford, M. S. und J. G. Marino (o. J. a): Textile Evidence Supports Skewed Radiocarbon Date of Shroud of Turin. http://www.shroud.com/ pdfs/textevid.pdf
Benford, M. S.; Marino, J. G. (o. J. b): Historical Support of a 16th Century Restoration in the Shroud C-14 Sample Area. http://www.shroud. com/pdfs/histsupt.pdf
Chevalier, C. U. (1900): Etude Critique sur l’origine du Saint Suaire de Lirey-Chambéry-Turin. Paris.
Damon, P. E. et al. (1989): Radiocarbon Dating of the Shroud of Turin, Nature 337, 611 – 615.
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luther in der revidierten Fassung von 1984, www.bibleserver.com, Zugriff am 1.5.2006.
Doherty, E. (2000): The Jesus Puzzle, Canadian Humanist Publications, Ottawa.
Dutton, D. (1998): Brief an die Redaktion, Nature 24. 3. 1998.
Flavius Josephus (2004): Jüdische Altertümer, Marix Verlag, Wiesbaden.
Gove, H. E. (1996): Relic, Icon or Hoax? Carbon Dating the Turin Shroud. Institute of Physics Publishing, Boston.
Hähnchen, E. (1965): Apostelgeschichte. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen.
Lüdemann, G. (2004): Das Unheilige in der Heiligen Schrift, Zu Klampen Verlag, Springe.
Matthiesen, S.: Zweifel am Alter des Turiner Grabtuchs, Skeptiker 4/2005, 164 – 165.
McCrone, W. (1999): Judgement Day for the Shroud of Turin. Prometheus Books, Buffalo.
Nickell, J. (1998): Inquest on the Shroud of Turin. Prometheus Books, Buffalo.
Nickell, J. (2005): Claims of Invalid „Shroud“ Radiocarbon Date Cut from Whole Cloth, http://www.csicop.org/specialarticles/shroud.html
Rogers, R. (2005): Studies on the Radiocarbon Sample from the Shroud of Turin. Thermochimica Acta 425: 189 – 194.
Sarma, A. (1989): Turiner Grabtuch – Alter bestimmt. Skeptiker 1/89, 19.
Sarma, A. (2000): Ein Tuch mit sieben Siegeln? Das Turiner Grabtuch als Forschungsgegenstand. Skeptiker 2/00, 76 – 85.
Schafersman, S. D.: A Skeptical Response to Studies on the Radiocarbon Sample from the Shroud of Turin. http://www.skeptic.ws/ shroud/articles/rogers-ta-response.htm
Wells, G. A. (1988): The Historical Evidence for Jesus. Prometheus Books, Buffalo.
Wells, G. A. (1999): Earliest Christianity, http://skeptically.org/newtestament/id20.html Wells, G. A. (2004): Can We Trust the New Testament. Open Court, Chicago.
Wikipedia (2005): Datierung durch LigninVanillin-Zerfall. http://de.wikipedia.org/wiki/ Turiner_Grabtuch, Zugriff am 27. 03. 2005
Wilson, I. (1998): The Blood and the Shroud. Touchstone, New York.
Zum Weiterlesen:
Evangelische Kirchengemeinde Alt-Lichtenberg Das JudasEvangelium (unvollständige Übersetzung): http://www.kirche-alt-lichtenberg.de/aktuell/ judas-evangelium.html
Kasser, R; Meyer, M., Wurst, G. (Übersetzer): The Gospel of Judas, http://www9.nationalgeographic.com/lostgospel/_pdf/GospelofJudas.pdf Jesus Seminar: http://virtualreligion.net/forum/ Radikal-Kritik (Beiträge zur radikalen Kritik der frühchristlichen Kirche): http://www.radikalkritik.de/
Dipl.-Ing. Amardeo Sarma,
geb. 1955 in Kassel, Diplom-Ingenieur, Studium der Elektrotechnik am Indian Institute of Technology Delhi und an der Technischen Hochschule Darmstadt, Manager bei NEC Network Laboratories (Heidelberg), beruflicher Schwerpunkt: Telekommunikation, Internet Mobility, Software Engineering.
Geschäftsführer der GWUP, Fellow und Mitglied des Exekutivkomitees der amerikanischen Skeptiker-Organisation CSICOP, Vorsitzender der europäischen Skeptiker-Organisation ECSO (European Council of Skeptical Organisations).
Kontakt: Kirchgasse 4, 64380 Roßdorf , E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!