Ein Wunder ist ein Ereignis, das (a) der allgemeinen Erfahrung widerspricht, (b) naturgesetzlich unmöglich ist, und (c) daher von einer übernatürlichen Wesenheit verursacht wurde. Laut Bedingung (a) sind Wunder also außergewöhnliche Ereignisse. Würden Wunder täglich um uns herum geschehen und somit zur allgemeinen Erfahrung gehören, wären sie nicht wunderbar im psychologischen Sinne des Staunens, was in der Regel mit einer positiven Bewertung eines solchen Ereignisses einhergeht. (Das Wort „Wunder“ wird in der Alltagssprache oft auf diesen psychologischen Aspekt beschränkt, etwa um glückliche Zufälle wie die unerwartete Rettung von Menschenleben zu bezeichnen.) Da es aus naturwissenschaftlicher Sicht nur gesetzmäßige Ereignisse gibt, muss ein Wunder ein naturgesetzwidriges Ereignis sein (Bedingung b), was nur durch ein übernatürliches Durchbrechen der Naturgesetze gedeutet werden kann (Bedingung c).
Letzteres erklärt, warum der eigentliche Begriff des Wunders auf den Bereich der Religion beschränkt ist. So ist etwa die Existenz von Wundern als Beleg für die göttliche Urheberschaft bestimmter Ereignisse – vertreten etwa von Thomas von Aquin in seiner Schrift "Summa contra Gentiles" – seit dem I. Vatikanischen Konzil ein Dogma der katholischen Kirche. Entsprechend verlangt die katholische Kirche bis heute für die Selig- und Heiligsprechung den Beweis von Wundern (Ausnahme: Märtyrer). Darüber hinaus kennt der Volksglaube eine Reihe von Wundern, die von der Amtskirche nicht als solche gewertet werden. Beispiele:
- Beim „Blutwunder von Neapel“ verflüssigt sich an bestimmten Tagen die feste Substanz („Blut“) in einem Reliquiengefäß. Die wissenschaftliche Untersuchung der Substanz steht noch aus, das Phänomen lässt sich jedoch durch eine thixotrope Flüssigkeit erklären. Solche Stoffe sind seit dem Mittelalter bekannt. Sie verhalten sich im Ruhezustand geleeartig, werden jedoch durch Bewegen bzw. Schütteln flüssig.
- Das „Turiner Grabtuch“ trägt die Abbildung eines menschlichen Körpers. Gläubige sehen darin die Spur von Jesu Leichnam, der sich dem Leinen auf wundersame Weise aufgeprägt haben soll. Eine Radiokarbon-Datierung des Tuches ergab eine Entstehungszeit im Mittelalter.
Viele moderne Theologen distanzieren sich vom klassischen Wunderbegriff, indem sie „Wunder“, wie viele andere religiöse Inhalte auch, nur in einem symbolisch-mythischen Sinne verstehen. Bei diesem Ansatz erübrigt sich natürlich die Frage nach dem empirischen Nachweis von Wundern.
Wie ließe sich die reale Existenz von Wundern nachweisen? Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Natur könnten Wunder kaum systematisch beobachtet werden. Aus diesem Grunde ist man in aller Regel auf Wunderberichte angewiesen, von denen die meisten so lange zurückliegen, dass nicht einmal mehr Augenzeugen direkt befragt werden können. Der schottische Philosoph David Hume (1711-1776) empfiehlt in seiner klassischen Analyse des Wunderbegriffs, zwei Hypothesen gegeneinander abzuwägen: Ist die Hypothese plausibler, dass das behauptete Wunder tatsächlich stattgefunden hat, oder ist es plausibler, dass sich die Zeugen irren oder gar lügen? Hume meint, es sei nur dann vernünftig, an Wunder zu glauben, wenn die Vertrauenswürdigkeit des Zeugen größer ist als die „Wahrscheinlichkeit“ des bezeugten Ereignisses. Da Wahrnehmungstäuschung, Selbsttäuschung, Halluzination oder Lüge unserer Erfahrung nach aber viel wahrscheinlicher sind als Durchbrechungen der Naturgesetze, könne praktisch kein Zeugnis ein Wunder glaubhaft machen. Anders steht es freilich mit Wundern, die im Prinzip wiederholbar sind, wie z.B. das oben genannte Blutwunder von Neapel, oder mit solchen, die wissenschaftlich untersuchbare Artefakte hinterlassen haben, wie z.B. das Turiner Grabtuch. Solche Artefakte werden jedoch häufig der wissenschaftlichen Untersuchung nicht oder nicht ausreichend zugänglich gemacht. Dennoch gelingt es oft, natürliche Erklärungen zu finden.
Wie grenzen sich Wunder gegenüber paranormalen Ereignissen ab? Auch paranormale Ereignisse widersprechen der allgemeinen Erfahrung und unserem Wissen über die Naturgesetze, sie müssen jedoch nicht unbedingt außergewöhnlich und selten sein. Beispielsweise wäre die Wirkung eines Hochpotenz-Homöopathikums ein – häufiges – paranormales Ereignis, das Physik und Chemie widerspricht. Und die Übertragung von Gedanken auf eine andere Person ist den Neurowissenschaften zufolge unmöglich und daher ebenfalls ein paranormaler Vorgang. Während alle Wunder auch paranormale Ereignisse sind, gilt das Umgekehrte nicht: Viele paranormale Ereignisse haben keine religiöse Bedeutung, und es wird ihnen keine übernatürliche Ursache zugeschrieben. Vielmehr werden von Parawissenschaftlern in aller Regel noch unbekannte natürliche Gesetzmäßigkeiten oder Ursachen zu ihrer Erklärung ins Spiel gebracht, sodass Naturgesetze nur scheinbar durchbrochen würden. Nur bei einigen Vertretern des Paranormalen verschwimmt die Grenze zum Wunder, wie z.B. bei manchen Heilern, zu deren Methoden der angebliche Kontakt mit dem Übernatürlichen gehört, etwa in Form von Gebeten oder der Nutzbarmachung göttlicher Kräfte.
Weder für Wunder noch für paranormale Ereignisse gibt es bislang stichhaltige empirische Belege. Hinzu kommt, dass der Verweis auf Wunder auch nichts erklärt, sondern eher als Eingeständnis von Unwissenheit zu sehen ist.
Inge Hüsgen, Dr. Martin Mahner
Literatur:
- Benecke, M. (2004): Blut und Tränen. Skeptiker 3/04, S. 114-117.
- Flew, A. (1996): Miracles. In: G. Stein (Hrsg.): The Encyclopedia of the Paranormal. Prometheus Books, Amherst, NY, S. 404-417.
- Hume, D.: Untersuchung im Betreff des menschlichen Verstandes. X. Über die Wunder.
- Sarma, A. (2006): Grabtuch-Forscher auf der falschen Fährte. Skeptiker 1/06, S. 13-18.
- Streminger, G. (2003): David Humes Wunderanalyse. Aufklärung & Kritik 10(2): 205-224.
Stand: 12.11.2011