Warum ist es wichtig, sich mit Parawissenschaften zu beschäftigen?
Jürgen Windeler
Jeder hat vermutlich inzwischen seine Antworten auf eine solche Frage parat oder vielleicht auch eine Strategie, ohne konkrete Antwort mit dieser Frage umzugehen. Die Hintergründe sowohl für das Interesse als auch den Unglauben können dabei durchaus unterschiedlich sein - einerseits, warum sich jemand überhaupt mit „so etwas" beschäftige („die Welt will betrogen sein, also sei sie betrogen"), andererseits, warum jemand das so skeptisch oder auch dezidiert kritisch tue („es könnte doch aber was dran sein"). Jedenfalls ist es aber die Frage nach dem Motiv, die beantwortet werden muß, für jeden einzelnen, der sich skeptisch mit Parawissenschaften auseinandersetzt, aber genauso für die GWUP als Ganzes. Ich will versuchen, auf diese Frage Antworten zu geben. Davor jedoch steht die Beantwortung einer anderen Frage, nämlich, was die GWUP eigentlich tut.
Miesepetrige Skeptiker?
Die Attraktivität einer skeptischen Sichtweise zu vermitteln, ist nicht leicht. Dies nicht nur deshalb, weil sie aufwendig ist und oft auch detaillierte Fachkenntnisse erfordert, sondern weil diese skeptische Sichtweise den Eindruck zu vermitteln scheint, es handele sich dabei um eine naserümpfende, miesepetrige, vielleicht auch konservativ-reaktionäre, jedenfalls aber in jeder Hinsicht unsympathische Haltung. Alles in Frage stellen, nichts gelten lassen, alles ablehnen, für das es keine rationale Erklärung gibt - so die gängigen Vorurteile gegenüber Skeptikern -, all das hat ein negatives Image. Alles was heute als wünschenswert gilt, Kreativität, Neugier, Offenheit, sich zu wundern und zu freuen, scheint mit dieser Haltung nicht verbunden, ja, noch nicht einmal vereinbar zu sein.
Aber ist denn die Arbeit und Haltung der GWUP und ihrer einzelnen Mitglieder und Freunde durch die genannten negativen Stereotype wirklich zutreffend charakterisiert? Eine miesepetrige Haltung ist unter ihnen genauso verbreitet wie unter Kellnerinnen, Busfahrern, Ärzten, Heilpraktikern oder Managern. Ein Konzert, ein Sonnenuntergang am Meer, die Stille des Waldes oder der nächtliche Sternenhimmel können sie ergreifen und glücklich machen wie jeden anderen auch oder auch nicht! Und wie der einzelne sein Weltbild zusammenfügt, ist allein seine Sache und nicht das dieser Gesellschaft.
Wo liegt aber dann das Interesse der GWUP? Ich will versuchen, dies an einem Beispiel zu verdeutlichen. Betrachten wir die Aussage: „Dieser Wein schmeckt mir". Sie drückt eine persönliche Einschätzung aus, man kann sie zur Kenntnis nehmen, ignorieren, man kann sie teilen oder auch nicht, aber nicht diskutieren: Über Geschmack läßt sich nicht streiten.
Betrachten wir eine ähnliche Aussage: „Dieser Wein schmeckt mir, weil es ein Burgunder ist, er aus Kalifornien stammt, er aus dem Jahr 1976 ist und er auf Schieferboden wächst".
Es handelt sich bei einer solchen Aussage um einen Grenzfall. Der Redner kann damit seine persönliche Überzeugung ausdrücken, seinen Eindruck, seine Ansicht, seinen Glauben kundtun, allerdings kann diese Aussage auch schon eine Tendenz zu folgender Aussage haben: „Ich kann einen Rotwein aus dem Jahr 1976 von einem aus dem Jahr 1977 am Geschmack unterscheiden."
Hier geht es aber eben nicht mehr nur um Geschmack, um Ansicht oder persönliche Überzeugung. Hier wird eine Tatsachenbehauptung aufgestellt, in diesem Fall über eine angebliche Fähigkeit. (Tatsachenbehauptungen können auch allgemeine Phänomene betreffen, etwa: Es gibt Elektrosmog, und er ist gefährlich.) Solche Aussagen, soweit sie außergewöhnlich genug sind, können neben mehr oder eher weniger seriöser Berichterstattung zwei Konsequenzen nach sich ziehen: Sie führen entweder zu Auftritten in der Fernsehsendung „Wetten, daß ...?" oder sie wecken das Interesse der GWUP, insbesondere dann, wenn es Aussagen über größere Zusammenhänge oder Prinzipien sind. Beide Konsequenzen führen zum gleichen Ergebnis - diese Aussage wird geprüft.
Wohlgemerkt: Das Wichtigste ist das Prüfen der Aussage selbst, nicht das Suchen nach Erklärungen. Erklärungen für behauptete Phänomene nachzujagen, bevor man den Behauptungen selbst auf den Grund gegangen ist, ist verschwendete Zeit und Energie. Die Vorstellung, eine skeptische Haltung versuche, für alles Erklärungen zu finden und lasse nichts gelten, wenn dieses nicht gelingt, greift viel zu kurz. Skeptiker können es sehr gut ertragen, wenn es für überprüfte Phänomene vorläufig keine Erklärungen gibt. Was sie aber umtreibt, sind ungeprüfte Behauptungen. Natürlich sind sie bei wirklich nachgewiesenen Phänomenen auch daran interessiert, weiter zu forschen, um vielleicht eines Tages doch eine Erklärung zu finden.
Wenn wir das Beispiel des Weines auf die Medizin übertragen - einen Bereich, in dem sehr viele solcher Tatsachenbehauptungen aufgestellt werden -, so ist es wiederum ein weit verbreitetes Mißverständnis, daß Skeptiker Patienten nicht glauben wollten, daß sie sich besser fühlen. Eine solche Aussage ist aber genausowenig anzuzweifeln bzw. zu diskutieren wie der Geschmack des Weines. Das Entscheidende ist, daß Patienten mit dem Besserfühlen nicht aufhören, sondern ergänzen, „weil ich vorgestern die homöopathische Arznei XY D20 eingenommen habe." So wird aus der Ansicht eine Tatsachenbehauptung, hier die Behauptung über kausale Beziehungen, die zu Diskussion und Hinterfragen herausfordert. Und was ist, wenn mit solchen Behauptungen Ansprüche wie die folgenden verknüpft werden?
„Ihr müßt mir glauben!", „Ihr müßt das anwenden!", „Ihr müßt das kaufen!", „Das muß erforscht werden!", „Wer heilt, hat recht!", „Wo bleibt die Therapiefreiheit, der Therapienpluralismus?"
Dann wird es besonders notwendig, hinter die Kulissen zu blicken! Ist denn das Prüfen schwierig? Nein, ganz im Gegenteil, es ist meist denkbar einfach. Das Schwierige ist in der Regel, sich prüfen lassen zu wollen und eine ausreichend konkrete Behauptung zu formulieren, die sich prüfen läßt.
Die GWUP hat sich dafür entschieden, sich nicht um Tatsachenbehauptungen aus allen Bereichen zu kümmern, sondern nur um solche aus dem Bereich der Parawissenschaften. Dafür gibt es zwei Begründungen. Erstens: Es befaßt sich sonst kaum jemand damit. Und zweitens: Würden sie zutreffen, hätten viele dieser Behauptungen sehr weitreichende Auswirkungen auf unser Weltbild - und bei solchen bahnbrechenden Entdeckungen möchte man natürlich gerne dabeisein. Die skeptische Haltung selbst, die die GWUP pflegt, ist aber selbstverständlich unteilbar; ob es also um die Ausschläge der Wünschelrute, um Heilerfolge nach obskuren Therapiemaßnahmen, um die abnehmende Spermienqualität bei Männern, die Gefährlichkeit von Amalgam, um ökologisch sinnvolles Handeln oder um den hohen Krankheitsstand im öffentlichen Dienst geht, überall verlangt diese Haltung die kritische Nachfrage.
Warum aber, und damit sind wir bei der Motivation, besteht überhaupt ein Interesse, sich mit Tatsachenbehauptungen aus dem parawissenschaftlichen Bereich zu beschäftigen?
Tatsachenbehauptungen können nachweislich falsch sein
Diese Aussage bedeutet, etwas ist geprüft worden und hat die Prüfung nicht bestanden. Dies gilt für die Irisdiagnostik ebenso wie für die Behauptung, die Geburtenhäufigkeit hänge von der Mondphase ab. Es ist klar nachgewiesen worden, daß diese Behauptungen nicht stimmen. Für die meisten Menschen - keineswegs auf die GWUP oder auf Parawissenschaften beschränkt - ist es schwer erträglich, sich immer wieder Behauptungen anhören zu müssen, von denen man weiß, daß sie unzutreffend sind. Man meint, hier den Behauptungen deutlich den tatsächlichen Kenntnisstand entgegenstellen zu müssen.
Tatsachenbehauptungen können unbewiesen sein
Das ist nicht das gleiche wie die Aussage zuvor! Hier fordert jemand, daß eine Behauptung ernstgenommen und akzeptiert wird und leitet weitreichende Forderungen daraus ab, ohne daß diese Behauptung einer Prüfung unterzogen worden wäre. Aber bei „Wetten, daß ...?" wird man auch nicht zum Wettkönig, wenn man nicht antritt. Die Spielregel besagt, daß jemand angeben muß, wie seine Behauptung geprüft werden kann, und daß er sich dieser Prüfung stellen muß. Das ist in dem Bereich, in dem sich die GWUP engagiert, nicht anders - wie übrigens überall in der Wissenschaft.
Die GWUP hält es für wichtig, daß die Öffentlichkeit zusätzlich zu der publizierten Tatsachenbehauptung auch andere Informationen erhält, eben ob die Behauptung auch überprüft wurde und mit welchem Ergebnis. Aber, so kann man fragen, warum eigentlich ist es wichtig, daß die Öffentlichkeit diese Informationen bekommt? Und damit sind wir bei den entscheidenden Punkten der Motivation.
„Wir haben recht, und das sollen andere wissen"
Besonders bei jungen Menschen - Schülern und Studenten - ist dies wohl die entscheidende Motivation, aktiv zu werden.
Wenn ein junger Studierender der Physik oder der Astronomie hört, daß Theorien verbreitet werden, die nach seinem gerade mühsam neu erworbenen Wissen ganz offensichtlicher Unsinn sind, dann sagen sich manche: Das kann doch nicht sein! Das darf der doch nicht so einfach sagen! Da muß man doch aufklären! Den muß ich doch überzeugen!
So verständlich und wichtig diese Initialmotivation ist, sie reicht nicht, sie trägt auf Dauer nicht. Eine GWUP, die sich nur aus einer solchen Motivation speiste, würde schnell ein elitärer, einflußloser Rechthabeverein werden. Und der missionarische Enthusiasmus angesichts einer wenig erfolgreichen Überzeugungstätigkeit würde schnell zusammenbrechen. Wen interessiert schließlich, daß man recht hat? Was haben andere davon, daß man recht hat? Es muß etwas anderes geboten werden.
In der Medizin gibt es ein wichtiges Prinzip, nämlich: Denke zuallererst daran, keinen Schaden anzurichten. Und so ist es auch ein sehr häufiger Einwurf in Diskussionen über parawissenschaftliche Behauptungen: Aber das schadet doch niemandem. Wenn das so wäre, dann wäre die Arbeit der GWUP in der Tat nicht so wichtig. Tatsächlich sind jedoch schädliche Auswirkungen vorstellbar, ja naheliegend und zum Teil auch anhand von Beispielen beschrieben worden. Die folgenden Erörterungen benutzen zum großen Teil medizinische Beispiele, können jedoch ohne weiteres auf andere Bereiche übertragen werden.
Menschen kommen unmittelbar zu Schaden
Die Aussage, daß sogenannte unkonventionelle Therapien nicht schaden können, ist schlicht falsch. Unsinnige, unwirksame Schlankheitstees haben verschiedentlich zu schweren Gesundheitsstörungen geführt, entweder durch die angegebenen Inhaltsstoffe oder durch undeklarierte Beimengungen; Verletzungen und Infektionen durch Akupunktur und Neuraltherapie sind mehrfach beschrieben worden; unter der ineffektiven und - wegen Geschäftsinteressen! - leider immer noch nicht ganz verbotenen Frischzelltherapie sind schwerste Komplikationen aufgetreten; mehrere pflanzliche Präparate mußten wegen ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses (tatsächlich war nur der Schaden sicher) vom Markt genommen werden.
Da die Überwachung in diesem Bereich sehr zu wünschen übrig läßt (viele Therapien sind keine Arzneimittel), ist die Dunkelziffer vermutlich hoch.
Auch die Fixierung von psychisch labilen Menschen auf z. B. angeblich festgestellte Vergiftungen (Amalgam, Wohnraumgifte) oder ihre Destabilisierung in ominösen, möglicherweise sektennahen Psycho-„Therapien" kann schwerwiegende gesundheitliche Konsequenzen haben.
Müßte man aber nicht, wenn man sich nicht dem Vorwurf einer sehr einseitigen Sicht, geradezu einer Panikmache, aussetzen wollte, an dieser Stelle auch auf die zahlreichen Risiken „schulmedizinischer" Therapien hinweisen? Ja, selbstverständlich. Nur ist es dort wie überall: Die alleinige Existenz von Risiken ist nicht entscheidend. Wichtig ist vielmehr das Verhältnis von potentiellem Schaden zum potentiellen Nutzen. Muß etwa ein Patient nach einem Motorradunfall einer lebensrettenden Operation unterzogen werden, so kann hier ein hohes Risiko (z. B. der Narkose) von 50 % noch in Kauf genommen werden. Ohne Operation wäre das Sterberisiko eben 100 %. Bei der Korrektur von Tränensäcken muß dagegen das Operationsrisiko viel geringer sein, um noch in vernünftigem Verhältnis zum erwarteten Nutzen zu stehen. Und wenn der Nutzen einer Behandlung sogar grundsätzlich fraglich ist (ungeprüfte Methode) oder vermutlich nicht besteht (Prüfungen mit negativem Ergebnis), dann ist auch das kleinste Risiko unvertretbar, von schweren Infektionen oder gar Todesfällen ganz zu schweigen.
Daß auch direkte finanzielle Schäden aus der Anwendung unsinniger Therapien resultieren können, sei nur am Rande erwähnt. Als Extrembeispiele können Reisen zu den „Geistheilern" auf die Philippinen oder die bis zu Summen von mehreren 10 000 DM reichenden Kosten für überflüssige, unwirksame und teilweise sogar schädliche Krebstherapien genannt werden.
Wirksame Therapien werden verhindert
Das bekannteste und traurigste Beispiel ist hier sicher der Fall der kleinen Olivia, die, an Leukämie erkrankt, von einem selbsternannten Heiler aktiv von einer hochwahrscheinlich lebensrettenden Therapie abgehalten wurde. Schließlich konnte nur durch Gerichtsbeschluß eine Anwendung dieser Therapie durchgesetzt werden. Dieses ist kein Einzelfall und bildet mit anderen bekannt gewordenen nur die Spitze eines Eisbergs, wovon man sich in Gesprächen mit Klinikärzten überzeugen kann.
Mehrfach haben ähnliche Situationen bereits zum Tod von Patienten geführt, wobei auch hier sicher nur die ganz offensichtlichen Fälle bekannt werden und zwar durch gerichtliche Verfahren. Wegen des Hinauszögerns oder der Verhinderung der Behandlung schwerer Entzündungen wie Malaria, Hirnhaut- oder Mittelohrentzündung mußten bereits mehrere Ärzte verurteilt werden.
Gott sei Dank scheint die Gesellschaft immerhin noch kritisch genug, die ernstgemeinten Aussagen eines Wünschelrutengängers, er habe das BSE-Problem gelöst, nur schmunzelnd zur Kenntnis zu nehmen. Solchen Leuten zu folgen, könnte unabsehbare Konsequenzen haben.
Einfache Lösungen werden vorgegaukelt
Es gibt immer wieder Problemsituationen im Leben, in denen eine tiefreichende Auseinandersetzung notwendig ist - mit sich selbst, seiner persönlichen Situation oder äußeren Einflüssen. Dies kann zu richtungweisenden Einsichten, Veränderungen, aber auch zum Akzeptieren einer unveränderlichen Gegebenheit beitragen. Einfache, vordergründige Erklärungen stellen Menschen jedoch schnell zufrieden. Sind sie falsch, dauert die Befriedigung meist nur eine kurze Zeit - und das nächste Angebot wird ausprobiert. Eine angemessene und dauerhaft erfolgreiche Problembewältigung wird so verhindert - allen Phrasen von „ganzheitlichen" Angeboten zum Trotz.
Zum Beispiel erlitt eine alte Frau in hohem Alter eine Gürtelrose und es blieben, wie das bei alten Leute nicht selten ist, in dem betroffenen Bereich heftige Schmerzen zurück. Statt sie bei der Bewältigung dieses Problems zu unterstützen, haben Heiler verschiedenster Couleur mehrere Jahre lang nichts Besseres zu tun gehabt, als sie mit immer neuen Versprechungen an sich zu binden und bei der Stange zu halten - auch bei der Stange Geld.
Es ist ein ganz hervorstechendes Merkmal vieler parawissenschaftlicher „Lebenshilfe"-Angebote, daß sie Menschen nicht zu Aktivität und Selbständigkeit anleiten, sondern im Gegenteil versuchen, sie in einem simplen Erklärungsgefüge passiv und in Abhängigkeit zu halten.
Aus Umweltambulanzen ist bekannt, daß sehr viele ihrer Patienten keinen relevanten Einwirkungen von außen, sondern solchen von innen, sprich: psychischen Problemen oder gar Erkrankungen, ausgesetzt sind. Ein angemessener Umgang mit diesen Patienten besteht in einer Beratung bezüglich ihrer wirklichen Probleme, nicht darin, daß man ihnen die Zähne zieht oder „Entgiftungskuren" einleitet.
Unkritische Menschen sind manipulierbar
Es ist eine Eigenschaft vieler parawissenschaftlicher Theorien, daß sie eng mit einem Namen, einem Begründer verbunden werden und daß sie zeitlich unverändert bestehen.
Sie sind kritikimmun und ihr Begründer wird zu einer Art Genie, der es immer schon gewußt hat. Die Homöopathie ist ein klassisches Beispiel. Sie könne gar nicht falsch sein, weil Hahnemann sie ja erfunden habe, hört man.
Menschen, die aufgerufen werden, zu glauben und keine Fragen zu stellen, sind manipulierbar. Man befindet sich hier in auffälliger und potentiell gefährlicher Nähe zu Ideologien, wissenschaftlichen, aber auch politischen. Karl Jaspers hat in einer Rede anläßlich der ersten Rektoratswahl nach dem Krieg 1945 in Heidelberg die Meinung vertreten, daß der Einbruch des Nationalsozialismus in die Medizin nicht hätte stattfinden können, wenn die beiden Pfeiler Wissenschaft und Humanität fest gewesen wären. Der Geist der Unwissenschaftlichkeit erst habe den Nazis die Tore geöffnet.
Vor zu schnellen und oberflächlichen Analogien soll ausdrücklich gewarnt werden, aber der Interpretation, daß mit der Wertschätzung von ideologisch gefärbten Thesen in einem Gebiet auch generell etwas über die allgemeine Kritikfähigkeit von Menschen ausgesagt werden kann, bin ich sehr geneigt zu folgen. Die Verbreitung von Pseudowissenschaften unterminiert die Grundlage einer wesentlich auf der Wertschätzung von Vernunft aufbauenden Gesellschaft.
Maßstäbe gehen verloren
Genauer: Sie gehen selektiv verloren, d. h. sie werden interessengeleitet außer Kraft gesetzt. Bei der Gleichsetzung jeden beliebigen Unsinns mit „Wissenschaft" oder - besonders in der Medizin - mit wissenschaftlich geprüften Methoden verlernt man das Bewußtsein für Maßstäbe.
Ich scheue mich nicht, festzustellen, daß an dieser Gleichsetzung zumindest in der Medizin Juristen einen entscheidenden Anteil haben bzw. hatten. So locker man Maßstäbe an der einen Stelle über Bord wirft, so hoch möchte man sie an anderer Stelle halten, etwa wenn es um den Herzinfarkt des Ehemanns geht und man vielleicht doch enttäuscht ist, wenn statt des Notarztes der Gesundbeter vor der Tür steht. Beides ist jedoch nicht zu haben. Das Aufweichen der Gültigkeit von Maßstäben geschieht schleichend und ist daher schwierig zu erkennen. Man sollte jedoch nüchtern sehen, daß dort, wo auf die Relativierung von Maßstäben gedrungen wird, nicht etwa, wie vor kurzem ein Jurist unter Berufung auf das Bürgerliche Gesetzbuch allen Ernstes meinte, eine humane Patientenbehandlung, sondern in aller Regel Geschäftsinteressen die entscheidende Rolle spielen. Das niedersächsische Sozialministerium, das die Notwendigkeit von „alternativen Heilverfahren" damit begründet hat, „Arbeitsplätze in der mittelständischen Industrie" seien sonst gefährdet, ist hier wenigstens ehrlich.
Pseudoerklärungen erschweren Erfahrungen
Die meisten Parawissenschaftler und Esoteriker neigen in viel stärkerem Maße als die von ihnen entsprechend kritisierte Wissenschaft dazu, die Welt mit Erklärungen zu überziehen.
„Ich habe das erste homöopathische UFO-Buch des Neuen Zeitalters geschrieben. Sogar die Wahrheit ist darin unendlich verdünnt."
Sie geben ungehemmt und unkontrolliert dem menschlichen Bedürfnis nach Einordnung und Strukturierung nach. Etwas nicht erklären zu können und sich damit auch zufrieden zu geben, ist ihnen fremd. Dies führt dazu, daß unmittelbare Erlebnisse und Erfahrungen verhindert werden. Kurse für Rückengymnastik, Obertonsingen usw. (viele Veranstaltungsprogramme von Volkshochschulen bieten weiteres Anschauungsmaterial) werden oft nur noch unter dem Überbau einer mehr oder weniger verquasten Theorie angeboten. Sie schreckt Nicht-Anhänger ab, die sich damit aber die Möglichkeiten von Erfahrungen, die nichts mit der Theorie, viel aber mit der eigenen Person in ihrem Umfeld zu tun haben, nehmen. Selbst Interessierten oder Anhängern der Theorie werden jedoch so unmittelbare eigene Erfahrungen verwehrt, denn es wird auch ihnen die Möglichkeit genommen, unbeschwert von theoriegeleiteten Erwartungen sich und ihre Umwelt zu spüren und zu erfahren.
Fazit
Man kann viele dieser Punkte auf den Nenner bringen: Falsche Lösungen für echte Probleme. Die Betonung liegt dabei auf dem zweiten Teil. Menschen, die sich aus freien Stücken, von Problemen unbelastet, mit Parawissenschaften beschäftigen wollen, können das tun. Menschen jedoch, die auf der Suche sind, ihre wirklich existierenden Probleme zu bewältigen, die dadurch auch unsicher und beeinflußbar sind, sollten durch Information vor möglichem Schaden bewahrt werden.
James Randi meinte einmal, man solle statt der homöopathischen Medikamente lieber die Menschen durchschütteln, damit sie zur Besinnung kommen. Dies sollte nicht als Missionieren mißverstanden werden. Wie sich jeder einzelne schließlich entscheidet, ist allein seine Sache. Aber die beschriebenen Gefährdungen erfordern stetige und ruhige Bemühungen um Aufklärung. Sie müssen laut genug sein, um gehört zu werden.
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 4/1997.