Einleitung und Übersicht von "Irrt die Physik?"
„Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht“. (Kant[1])
Gegen meine Frage: „Ist die Physik falsch?“ erheben sich sofort zwei Einwände. Erstens: Lambeck ist selbst Physiker, er kann also die Frage nicht beantworten, denn die Richtigkeit eines Systems kann nur von außen beurteilt werden. Zweitens: Die Frage verlangt den Einblick in die Zukunft, denn wir müßten wissen, welche physikalischen Effekte und Theorien es einmal geben wird. Doch wenn wir wüßten, heißt es bei Popper, was wir in 20 Jahren wissen werden, wüßten wir es schon heute. Beide Einwände vor Augen versuche ich, mich der Frage mit einem Blick auf die Situation der Physik vor hundert Jahren anzunähern. Offenkundig unvereinbar standen zwei Tatsachen einander entgegen:
Erstens: Die Sonne scheint.
Zweitens: Die Annahme der Physik, Energielieferung könne nur durch mechanische oder chemische Prozesse zustande kommen.
Die Physiker konnten damals ausrechnen, wie lange die Sonne leuchten würde, wenn ihre Energie durch das Verbrennen von Kohle, den Einschlag von Meteoren oder Kontraktion zustande käme und stellten fest: Etwa 20000 bis einige Millionen Jahre. Andererseits wußte man aus der Geologie, daß die Sonne schon sehr viel länger mit derselben Intensität geleuchtet haben muß. Also kann - neben vielen anderen Gründen - die Energie der Sonne nicht allein aus den genannten Prozessen stammen. Zwischen der Existenz der leuchtenden Sonne und der genannten Annahme bestand also eine - wie ich es nennen möchte -
erklärungsfordernde Spannung.
Daher will ich versuchen, meine Frage, ob die Physik falsch sei, durch Überprüfung der erklärungsfordernden Spannungen zwischen Aussagen der heutigen Physik und gegenwärtig vorliegenden - oder unterstellten - Erscheinungen zu vertiefen und Kriterien vorzutragen, die der Aufklärung dieser Spannungen dienen. Man mag darin die Absicht eines Skeptikers erkennen, der weiter zu fragen gelernt hat, um dem Erkenntnisfortschritt zu dienen.
Im Jahre 1900 bestand ein Widerspruch zwischen dem Leuchten der Sonne und dem Kenntnisstand der Physik. Dieser Widerspruch wurde nur von einem kleinen Kreis von Fachleuten wahrgenommen; er hatte keinerlei gesellschaftliche Bedeutung. Dagegen besteht heute ein Widerspruch z. B. zwischen der Physik und der Homöopathie. Das Homöopathische Arzneibuch und zwei zugehörige Gesetze wurden von einem Bundespräsidenten, einem Bundeskanzler sowie 6 Bundesministern unterschrieben, so daß es auf der ersten Seite den Bundesadler tragen darf. Der Gesetzgeber hat beschlossen, ein nicht unerheblicher Teil der in Deutschland verwendeten Medikamente stehe als Teil der „besonderen Therapierichtungen“ außerhalb der wissenschaftlichen Wirksamkeitsprüfung. Einzelne Vorschriften des Homöopathischen Arzneibuches verraten die Nähe zur Astrologie bzw. Alchemie. Die betreffenden Medikamente, die auch von einigen gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden, können nur wirken, wenn nicht nur die heutige Physik falsch oder zumindest unvollständig ist, sondern auch die gesamte Wissenschaft seit Galilei. Im Jahre 1996 wurde der in der Öffentlichkeit stark beachtete „Alternative Nobelpreis“ an den griechischen Homöopathen Georges Vithoulkas verliehen. Der Umsatz der entsprechenden Medikamente liegt im dreistelligen Millionenbereich.
Der in der politischen Öffentlichkeit ausgetragene Streit der Schul- und alternativen Medizin wird überwiegend nur als ein Streit zweier Schulen innerhalb der Medizin gesehen. Daß es hierbei um die Auseinandersetzung zwischen zwei Weltbildern und verschiedenen Auffassungen von Wissenschaft geht, wird bisher von der Öffentlichkeit und den Politikern, die das Homöopathische Arzneibuch mit ihrer Unterschrift zugelassen haben, gar nicht wahrgenommen. Diese Wahrnehmungssperre möchte ich beseitigen.
Die Lehren Rudolf Steiners beeinflussen über die Waldorfschulen Zehntausende von Schülern. Wenn die esoterischen Lehren der anthroposophisch erweiterten Heilkunst und der biologisch-dynamischen Landwirtschaft nach Rudolf Steiner richtig sind, dann ist auch im Blick darauf die heutige Physik unvollständig. Wenn ein in der alternativen Medizin weitverbreitetes Verfahren, die Elektroakupunkturdiagnose nach Voll (EAV) funktioniert, dann müssen Physik, Chemie, Pharmakologie, Medizin und Elektrotechnik radikal geändert oder mindestens erweitert werden. In jüngster Zeit wurden in Deutschland millionenschwere Investitionen in Wohn- und Industrieanlagen unter Berücksichtigung von Erdstrahlen und Feng Shui-Energien durchgeführt und andererseits Erdstrahlen in einem Kurort eingesetzt. Analoge Aussagen gelten für die Parapsychologie, Fernheilung und Pendel.
Es ist ein Phänomen für Psychologie/Soziologie/Politologie, daß heute in Deutschland mehrere einander ausschließende Lehren vertreten, vom Staat gefördert, von gesetzlichen Kassen bezahlt bzw. industriell angewendet werden, ohne miteinander in einen Dialog zu treten. Diese Tatsachen erfordern dringend Diskussion und Forschung.
Heute handelt es sich nicht um Diskussionen über Philosophien oder spezielle physikalische Probleme. Vielmehr treffen wir auf ein im Alltagsleben wirksames dichtes Geflecht aus Weltanschauung, Esoterik, Medizin, Politik, Gesetzen, Lobby der Pharmaindustrie, Gesundheitswesen und Beihilfevorschriften. Die dabei verwendeten Begriffe erzeugen mehr Vernebelung als Klarheit. Daher erkläre ich Begriffe wie Naturheilkunde, Homöopathie, Strahlen, Wellen, Erdstrahlen, Geistheilung, Parapsychologie, Esoterik, biologisch-dynamische Landwirtschaft usw. so, daß eine fruchtbare Diskussion möglich wird.
Nach der Auffaltung dieser Begriffe wird die erklärungsfordernde Spannung zur heutigen Physik kommentiert. Ich möchte zum Selbst-Denken und Selbst-Handeln auffordern. Daher sind, wann immer angängig, als Tests dieser Lehren Experimente angegeben, die von interessierten Kreisen wie Volkshochschulvereinen oder schulischen/studentischen Projektgruppen selbst durchgeführt werden können. Alle Tests sind so angelegt, daß mit ihnen die Physik als falsch erkannt (falsifiziert) werden kann.
Als ich studierte, trugen Verantwortung für das Gelernte die, die es mich lehrten. Nachdem ich die entsprechenden Prüfungen absolviert hatte, erhielt ich selbst die Lehrbefugnis für Physik. Für das, was ich seitdem in mehr als einem Vierteljahrhundert lehrte, trage ich die Verantwortung. Dieses Buch kann daher auch gelesen werden als die Frage: Wie ernst nehme ich selbst, was ich lehrte? Ich könnte leicht ertragen, wenn falsch wäre, was ich lernte. Es wäre schwerer zu ertragen, wenn falsch wäre, was ich lehrte. Es ist sehr schwer zu ertragen, wenn die Behauptung, meine Lehre sei falsch, von dem kommt, in dessen Auftrag ich ein Vierteljahrhundert lang gelehrt habe - dem Staat. Der Bundesadler auf dem Homöopathischen Arzneibuch ist für mich eine der Herausforderungen, die zur Niederschrift dieses Buches geführt haben.
Die Physik erscheint im Blick auf die Freunde der alternativen Medizin und Esoterik wie eine belagerte Festung.
der durch die Tests den Belagerern den unterirdischen Gang zur Pulverkammer weist.[2] Warten wir ab, ob die Zündhölzer der Eindringlinge trocken sind. Die Parawissenschaftler sind nicht meine Gegner, ich begegne ihnen, suche diese Begegnung, um die Wissenschaft weiterzuentwickeln. Sie alle sind für mich, was der Zöllner - nach Brecht - für Laotse war: Sie haben mir dieses Buch „abverlangt.“[3]
Mein besonderer Dank für viele wertvolle Diskussionen und Kontakte gilt Prof. Dr. Irmgard Oepen, der langjährigen Präsidentin der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), Pfarrer Thomas Gandow, dem Provinzialpfarrer für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und Dr. Richard Fichtner von der Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen.
PS: Wegen häufiger Fragen weise ich darauf hin, daß ich mit dem bekannten Journalisten Martin S. Lambeck weder identisch noch verwandt bin.
[1] Kant, I.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Erscheinungsjahr 1784). Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Walter de Gruyter & Co. Berlin 1968 Bd. VIII S. 33-42, zitiert S. 37.
[2] Anlehnung an die historische Realität: Verrat der Festung auf der griechischen Insel Rhodos.
[3] Brecht, B.: „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, Erste Auflage 1988. Band 12 S. 34.
Der Autor Martin Lambeck ist Physiker, Professor an der TU Berlin sowie Mitglied des Wissenschaftsrates der GWUP
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