Zwar gibt der 64 Seiten starke Bericht zunächst einen ganz interessanten Überblick darüber, welche Verfahren in den verschiedenen europäischen Ländern zur Komplementärmedizin gezählt werden und welche Teil der allgemeinen Gesundheitsversorgung sind. Unter den häufigsten angewandten Therapien finden sich dabei, wenig überraschend, natürlich Homöopathie und Akupunktur, manuelle Therapien wie Chiropraktik und natürlich die traditionelle chinesische Medizin. Die Balneologie beispielsweise ist in Deutschland Bestandteil der konventionellen Medizin. Andere Behandlungen werden als länderspezifisch bezeichnet, so die hierzulande sicher wenig bekannte Tanztherapie in Ungarn, der große Bereich der energetischen Medizin in Österreich oder die Muskelbehandlung Naprapathie, die in Schweden offenbar populär ist.
Während die Zulassung von pflanzlichen und homöpathischen Medikamenten in den 39 für die Untersuchung herangezogenen Ländern auf EU-Recht basiert, gibt es dem Bericht zufolge keine einheitlichen gesetzlichen Regelungen für Forschung und Anwendung der komplementärmedizinischen Verfahren. Die vielen länderspezifischen Regelungen verhindern nach Meinung der Autoren alle Versuche, einheitliche Bedingungen für Behandlungen und Forschung zu erarbeiten. So kritisieren sie auch, dass sich für Patienten wie Anwender, die alternativmedizinische Verfahren in Anspruch nehmen wollen, in jedem Land verschiedenen Regelungen gegenübersehen. Forscher müssen derzeit ihre Untersuchungen oft länderspezifisch einschränken, da die die Anwendungen und Anwender in den verschiedenen Ländern absolut nicht vergleichbar seien. Die Autoren sehen ein gesteigertes Interesse der Bevölkerung in der EU an derlei Behandlungsmethoden, und zwar als Wahlmöglichkeit innerhalb der medizinischen Anwendungen in Krankenhäusern und allgemeinmedizinischen Versorgung . Außerdem wünschen Patienten angeblich nicht nur die Behandlung durch Vertreter der konventionellen Medizin mit Zusatzausbildung, sondern explizit auch von alternativen Anbietern. Dass viele Anwendungen noch immer privat gezahlt werden, wird als Hindernis angesehen. Auch fehle es an Unterstützung und zuverlässiger Information zu den alternativen Therapierichtungen. Die Autoren glauben, dies läge unter anderem an der bekannten ,,feindlichen Einstellung" konventioneller Mediziner gegenüber alternativmedizinischer Verfahren. Über die Verbreitung von ,,Alternativmedizin" gibt es den Autoren zufolge keine ausreichenden Daten, viele Studien hierzu seien von mangelhafter Qualität, entsprechend ungenau sind die Daten. Immerhin, auch hier ganz vorne mit dabei neben Pflanzenmedizin wieder Homöopathie, Chiropraktik und Akupunktur (S. 30). Immerhin soll es in der EU 150.000 Mediziner mit Zusatzausbildungen für komplementärmedizinische Verfahren geben sowie stolze 180.000 Therapeuten ohne ärztliche Ausbildung ( ,,non-medical practitioners"), wie in Deutschland beispielsweise Heilpraktiker. Spitzenreiter bei den Anwendungen ist die Akupunktur, die von 80.000 Ärzten und 16.000 alternativen Therapeuten angewandt wird, dicht gefolgt von der Homöopathie. Pflanzenmedizin und manuelle Therapien werden mehrheitlich hingegen offenbar von Nichtmedizinern angewandt (S. 36).
Daher fordern die Verfasser der Studie eine Harmonisierung und Standardisierung der Ausbildung für komplementärmedizinische Verfahren. Die Konsequenzen aus ihrer Datenerhebung, die vorgeschlagene ,,Roadmap", dürfte bei Kritikern allerdings auf Widerspruch stoßen. So glauben sie, die Komplementärmedizin werde von der Forschung vernachlässigt, was zumindest bei gut untersuchten Verfahren wie der Homöpathie nicht stimmt. Außerdem halten sie die ,,CAM-Industrie" für klein, weshalb kein finanzielles Interesse darin bestehe, in diesem Bereich Forschung zu treiben. Angesichts der in der Studie genannten 150.000 Mediziner mit Zusatzausbildung und 180.000 alternativmedizinischen Behandler ohne ärztliche Ausbildung eine interessante, da wohl eher widersprüchliche Feststellung. Tatsächlich haben aufgrund der niederschmetternden Ergebnisse, die Untersuchungen zu alternativmedizinischen Verfahren erbrachten, zahlreiche Wissenschaftler in verschiedenen Ländern gefordert, kein Geld mehr für derartige Studien bereitzustellen, da keine Wirksamkeit festgestellt werden konnte, etwa in Großbritannien und Australien. In Deutschland gibt es seit langem eine Debatte über die Erstattung ,,alternativmedizinischer" Verfahren durch die gesetzlichen Krankenkassen, in die sich auch der Virchow-Bund eingeschaltet hat. Auch das ,,CAMbrella"-Projekt stößt bei
Kritikern der der Komplementärmedizin nicht unbedingt auf Verständnis (http://blog.gwup.net/2010/03/20/anderthalb-millionen-euro-fur-paramedizin/).
Es bleibt abzuwarten, ob sich die Verfasser der CAMbrella-Roadmap mit ihrer Forderung nach finanzieller Unterstützung der ,,Alternativmedizin" auf privater, universitärer und europäischer Ebene durchsetzen.
Holger von Rybinski
hil/Ärzteblatt.de (2012): Jeder zweite Europäer setzt auf Alternativmedizin. In: Ärzteblatt.de, 29.11.2012.