Interview mit Prof. Karola Dillenburger
Prof. Karola Dillenburger ist klinische Psychologin und Board Certified Behaviour Analyst-Doctoral (BCBA-D). Sie ist Gründerin und Direktorin des Zentrums für Verhaltensanalyse (Centre for Behaviour Analysis) an der Queen’s University Belfast. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. Jan Oude-Aost sprach mit ihr über die wissenschaftliche Fundierung der ABA und ihre Rolle in Europa.
Jan Oude-Aost: Wie sind Sie in der Arbeit mit Menschen mit Autismus gelandet?
Karola Dillenburger: Bevor ich nach Nordirland auswanderte, habe ich in Freiburg Heilpädagogik studiert. Natürlich wurde das Thema Autismus auch dort schon angesprochen, aber damals, in den späten 1970ern bis frühen 1980ern, stand nur sehr wenig gute Forschung zur Ätiologie und zum Umgang mit Autismus zur Verfügung. In Nordirland war es zunächst auch nicht besser, aber gegen Ende der 1990er war das Thema bereits besser erforscht. Der gestiegene Bekanntheitsgrad schlägt sich auch in unserer Forschung nieder, wo wir 2012 feststellten, dass über 80 Prozent der Bevölkerung von Autismus gehört hatten und über 50 Prozent jemanden mit Autismus persönlich kannten.
Wie sieht Ihre Arbeit praktisch aus?
Nachdem ich zehn Jahre lang im Sozialdienst und der klinischen Praxis gearbeitet hatte, wurde ich an die Queen’s University Belfast berufen. Dort unterrichte ich seit 30 Jahren, zunächst im Fachbereich Soziale Arbeit und seit 2008 im Fachbereich Erziehung und Pädagogik. Ich leite den Master-Studiengang in Autism (MScASD; online und campusbasiert) und vor sechs Jahren habe ich darüber hinaus den Studiengang Angewandte Verhaltensanalyse (MScABA; online) initiiert und aufgebaut. Beide Kurse sind sehr erfolgreich und stehen nationalen und internationalen Studierenden offen. 2010 gründete ich das Zentrum für Verhaltensanalyse (Centre for Behaviour Analysis) an der Queen’s University Belfast. Ich habe seither erfolgreiche Forschungsprojekte geleitet, in Bezug auf den Nordirlandkonflikt, die Auswirkungen von Autismus auf Familien und insbesondere die Entwicklung von Behandlungsprogrammen auf Grundlage der Angewandten Verhaltensanalyse (Applied Behaviour Analysis; ABA) für Kinder und Erwachsene mit und ohne Autismus, Lernbehinderungen und psychischen Diagnosen.
Welche aktuellen Entwicklungen gibt es im Bereich der klinischen Anwendung von ABA?
Derzeit ist der Beruf Verhaltensanalytiker (Behaviour Analyst) weder in Deutschland noch im Vereinigten Königreich (UK) oder anderswo innerhalb Europas staatlich anerkannt. Das steht im krassen Kontrast zu den USA, wo es seit ungefähr 20 Jahren das Berufsbild des Verhaltensanalytikers gibt. Die staatliche Anerkennung wird entweder durch das Behavior Analyst Certification Board (BACB) gewährleistet oder durch staatliche Lizenzen. Deshalb widme ich viel Energie der Entwicklung von international anerkannten Standards für die Ausbildung in ABA und das Berufsbild des Verhaltensanalytikers. Das ist eine extrem schwierige Aufgabe, weil in jedem der über 21 europäischen Länder, mit denen wir aktuell zusammenarbeiten, verschiedene staatliche regulative Vorgaben herrschen. Dabei geht es auch darum, ganz sicherzustellen, dass ethische Standards eingehalten werden. Die ursprüngliche Definition von ABA ist da sehr klar und eindeutig. ABA zielt auf sozial wichtige Verhaltensweisen ab! Es darf nur eingesetzt werden, um Menschen so zu unterstützen, dass sie möglichst selbstständig leben können, mit hoher Lebensqualität, und in sehr vielen Lebensbereichen, z. B., haben Heward, Critchfield, Reed, Detrich und Kimball (2022) 350 verschiedene Bereiche der Anwendung und Forschung in Verhaltensanalyse beschrieben.
Es gibt autistische Personen, die ABA kritisieren. Wie stehen Sie dazu?
ABA ist die Anwendung der wissenschaftlichen Verhaltensanalyse, der Name ABA ist an die Erfüllung von Definitionen und Kriterien gebunden. Das ist genau wie bei anderen angewandten Wissenschaften auch. Außerdem gibt es bestimmte ethische Werte, an die sich diese Wissenschaftler halten. Beides wollen wir mit den beruflichen Mindeststandards fest etablieren, auch außerhalb der USA. Wenn sich jemand nicht an diese Definitionen, Kriterien und Werte hält und seine oder ihre Methode dennoch als ABA bezeichnet, ist das leider nicht richtig. Ohne berufliche Regelung ist es allerdings aktuell nur schwer möglich, seriöse von unseriösen Anbietern zu unterscheiden.
In welchen Bereichen wendet man ABA heute an?
Natürlich ist ABA auch nicht auf die Behandlung von Autismus beschränkt (Heward et al., 2022). Die Methode wird in einer Vielzahl von Bereichen genutzt, von der Arbeitsplatzsicherheit über Unterricht bis zur Behandlung psychischer Störungen u. a. durch Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) oder Akzeptanz- und Commitmenttherapie
(ACT). ABA bildet die wissenschaftliche Grundlage vieler Therapieformen, z. B. DBT, ACT, Picture Exchange Communication System (PECS), und vielfältiger pädagogischer Methoden, darunter Programmed Instruction (PI), Precision Teaching (PT), Direct Instruction (DI) etc.
Das heißt, im Grunde geht es um die Anwendung von Erkenntnissen der Wissenschaft der Verhaltensanalyse im Rahmen sozial wichtiger Kontexte?
Genau, das Ziel ist nichts Geringeres, als die Grundlagen von Verhalten herauszufinden. Dabei wird der Begriff „Verhalten“ weiter gefasst als in der Alltagssprache, so gehören in der Verhaltensanalyse auch Gedanken, Impulse oder Gefühle dazu. Die Verhaltensanalyse beschäftigt sich mit sehr grundlegenden Mechanismen. In der Physik ist das etwa mit der Schwerkraft vergleichbar. Physikalische Erkenntnisse über die Schwerkraft kann man für den Brückenbau nutzen – oder für den Abwurf einer Atombombe. Konditionierung ist ein zentraler Teil im Erlernen von Verhalten, ebenso wie Modell-Lernen. Das gilt für jeden Menschen. Wenn man sich anschaut, wie viel Aufwand Eltern und Großeltern betreiben, um einem Kind ein erstes spontanes Lächeln zu entlocken, wird im Ansatz klar, wie zentral Konditionierung ist. Immer wieder wird unterschiedliches Verhalten ausprobiert, bis ein Säugling lächelt, und das Verhalten wird wiederholt, bis das Lächeln konditioniert ist. Bei Kindern mit Autismus nutzt man die gleichen Mechanismen, um, teils sehr sehr kleinschrittig und gezielt, Verhalten zu verstärken. Dazu werden sogenannte Verstärker angewandt. Ein Verstärker ist ein Stimulus, der, wenn er nach einem Verhalten angeboten wird, die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Verhalten wiederholt wird. Natürlich sind verstärkende Stimuli ganz individuell. Für jedes Kind, jede Person, sehen die Verstärker verschieden aus, und natürlich sind sie auch nicht statisch. Ein Stimulus, der in einem Augenblick eine verstärkende Wirkung hat, kann im nächsten Moment diese Wirkung verlieren. Das Beispiel von Nahrungsmitteln als Stimuli macht das leicht nachvollziehbar: Wenn man Appetit hat, sind essbare Stimuli viel besser als Verstärker als nach einer ausreichenden Mahlzeit.
Auf einige Menschen macht das den Eindruck einer manipulativen Technik ...
Bereits angesichts der geschilderten grundlegenden Prinzipien der Verhaltensanalyse wird deutlich, dass es sich bei der ABA um ganz komplexe Vorgehensweisen handelt, die sehr leicht missverstanden werden. Daher kommen wohl einige der Kritiken; andere rühren daher, dass das Berufsbild in Europa noch nicht klar definiert ist, sodass sich auch Personen ohne oder mit nur minimaler Ausbildung Verhaltensanalytiker nennen dürfen. Natürlich kann es da vorkommen, dass die Praxis dieser Anbieter nicht den hohen wissenschaftlichen und ethischen Standards folgt. Deshalb mein Drang, diese Lage zu ändern und Klarheit zu schaffen.
Kritikerinnen und Kritiker bemängeln, dass ABA als Ziel die Zurückdrängung der Individualität von Personen mit Autismus verfolge. Dabei werde „unerwünschtes“ autistisches Verhalten abtrainiert, zugunsten einer vermeintlichen „Normalisierung“ und Anpassung an die Bedürfnisse der Mehrheitsgesellschaft. Die bekannte Sozialorganisation Aktion Mensch führt diese Argumentation als Begründung an, weshalb sie die finanzielle Unterstützung von Programmen mit ABA-Bezug 2017 beendet hat. Wie ist dies aus fachlicher Sicht zu bewerten?
Applied Behavior Analysis (ABA) ist „die Wissenschaft, in der aus den Prinzipien des Verhaltens abgeleitete Vorgehensweisen angewandt werden, um sozial relevantes Verhalten zu verbessern, und in der Experimente eingesetzt werden, um die für die Verhaltensverbesserung verantwortlichenVariablen zu ermitteln.” (Cooper, Heron, Heward, 2020). Alles andere ist keine ABA! Es gibt kein anderes Ziel als „sozial relevantes Verhalten zu verbessern“. Wer etwas anderes behauptet, hat sich nicht mit der Wissenschaft beschäftigt. Das Buch von Cooper et al. gilt allgemein als das maßgebliche Lehrbuch zum Thema ABA, siehe hierzu auch www.behaviouranalysis.eu.com. Natürlich ist es wichtig sicherzustellen, dass das „sozial relevante Verhalten”, das verbessert werden soll, für die Person, die ABA-basierte Unterstützung erhält, sozial relevant ist und nicht nur für die Gesellschaft.
Mitunter wird ABA, wie auch andere verhaltenstherapeutische Maßnahmen, mit Tierdressur verglichen. Es heißt, das Gelernte sei beziehungslos und werde oft nicht auf den Alltag übertragen. Demnach sei die Methode menschenunwürdig und wenig wirksam. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?
Die Antwort auf diese Frage ist im Grunde die gleiche wie auf die vorherige Frage. Diese Kritiken kommen von Personen, die sich einfach nicht mit der Wissenschaft beschäftigt haben, sonst würden sie nicht solche falschen Ideen verbreiten.
Eine Initiative von Menschen mit Autismus, Autismus Mittelfranken e. V., vertrat die Ansicht, dass ABA den Schutz der Privatsphäre missachte, da „die Trainings im häuslichen Umfeld des Kindes, nahezu in seiner kompletten Freizeit über den Kopf des Kindes hinweg abgehalten“ würden. (Autismus Mittelfranken 2015). Außerdem würden „die Eltern dazu angehalten, Informationen über sehr persönliche Vorlieben an andere weiterzugeben, damit jeder sie als Verstärker einsetzen kann.“ Die Kinder hätten keinerlei Entscheidungsfreiheit, sondern würden ausschließlich darauf trainiert, den Erwartungen von anderen zu entsprechen. Können Sie diese Einschätzung nachvollziehen?
Siehe hierzu die Antworten auf die vorherigen Fragen. Abgesehen davon ist die Kindererziehung eine 24/7-Aktivität. Kompetente Eltern, die Verhaltens-/ Lernprinzipien verstehen und diese bei der Erziehung ihrer Kinder anwenden, sind einfach die effektiveren Eltern.
Literatur
Cooper, J.; Heron, T.; Heward, W. (2020): Applied Behavior Analysis (3rd. ed.), Pearson Prentice Hall, Upper Saddle River, NJ.
Zum Weiterlesen
Keenan, M.; Dillenburger, K. et al. (2022): Professional Development of Behavior Analysts in Europe: A Snapshot for 21 Countries. Behavior Analysis in
Practice.
Erschienen in: Skeptiker 4/2022, S. 163 - 165.