GWUP-Vorstandsmitglied Dr. Stephanie Dreyfürst leitet das Schreibzentrum an der Goethe-Universität Frankfurt. Skeptiker-Chefreporter Bernd Harder sprach mit ihr über Narratologie für Mathematiker, Kiezdeutsch und Eichhörnchen.
Bernd Harder: Wo sollen wir anfangen?
Stephanie Dreyfürst: Wir sind ja schon mittendrin. Genau mit solchen Fragen kommen Studierende zu uns in die Schreibberatung: Wie fange ich einen Essay an? Wie formuliere ich wissenschaftlich? Und natürlich: Wie kommt man überhaupt ins Schreiben, wie strukturiert man den Schreibprozess? Auch Schreibblockaden und Zeitmanagement sind oft ein Thema.
Gerade in den Geisteswissenschaften ist die Sprache das wichtigste Werkzeug. Ist den Leuten denn vorher nicht klar, dass sie sehr viel schreiben müssen, wenn Sie Politologie, Geschichte oder Literaturwissenschaft studieren, und dass einem das vielleicht ein wenig liegen sollte?
Schon, aber uns fällt auf, dass bis in die mittleren Semester Vorstellungen herrschen, die aus der Schule mitgebracht worden sind – nämlich dass Schreiben ein Wiederkäuen von angelerntem Wissen ist. Der Lehrer suchte sich aus der möglichst umfangreichen Textmenge das Richtige aus, und dafür gab’s eine Note. Dieses „knowledge telling“ reicht an der Uni aber bei weitem nicht aus. Hier wird schon bald „knowledge transforming“ gefordert, also dass man Informationen systematisch darbietet, und auf der letzten Stufe schließlich „knowledge crafting“, was so viel bedeutet wie selbständig eigenes Wissen zu entwickeln und die Forschung ein Stück voranzutreiben. Fachspezifisches Schreiben ist also etwas ganz anderes, als einen Schulaufsatz zu verfassen. Und wenn man anfängt, ein Fach zu studieren, weiß man ja noch gar nicht, was „fachspezifisch“ genau meint. Wissenschaftliches Schreiben ist vergleichbar mit dem Erlernen eines Musikinstruments, wofür man ja üblicherweise auch Anleitung und lange Jahre der Übung braucht.
Unter meiner ersten Hausarbeit stand „Zu journalistisch“, versehen mit einer schlechten Note. Die höchste Punktzahl bekam eine Kommilitonin, die mehrere Hundert Fußnoten vorweisen konnte, also im Grunde nur die Literatur zum Thema reproduziert hatte. Was hat das mit „knowledge transforming“ oder gar „knowledge crafting“ zu tun?
Solche Anekdoten sind für die heutige Zeit nicht mehr symptomatisch, aber auch nicht völlig untypisch – und in diesem Fall greift die Bewertung des Professors etwas zu kurz. Selbstverständlich hat er recht damit, dass man nicht einfach Behauptungen aufstellen kann, die nicht belegbar sind, und diese Belege finden Wissenschaftler nun mal eben häufig in den Arbeiten anderer Wissenschaftler. Aber das ist nur ein Aspekt von guten wissenschaftlichen Texten. Wir vermitteln unseren Studierenden auch, dass ihre Texte nicht unverständlich sein müssen, sondern auch schön zu lesen und sogar auch mal amüsant sein dürfen. Und was die Fußnoten angeht: Es gibt ein wunderbares Buch von Anthony Grafton über „Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote“, worin er darlegt, dass die wissenssoziologische Funktion der Fußnote im Statuserwerb liegt. Vielleicht werde ich deswegen von ausländischen Kolleginnen und Kollegen oft gefragt, warum wir Deutschen denn „so komisch“ schreiben würden? Mit „komisch“ meinen sie, dass es unseren Wissenschaftlern nur um die Idee an sich gehe, aber selten darum, wie man sie seinen Lesern vermittelt. Es stimmt schon: Wenn man sich manche Texte von Geisteswissenschaftlern ansieht, kann man den Eindruck gewinnen, dass zum Stilideal gehören: lange Sätze, viele Fremdwörter, Sinn verklausulieren. Das ist etwas, was wir im Schreibzentrum definitiv anders sehen.
Aber die Noten gibt trotzdem der Professor. Und der schreibt doch selber so: „Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften haben recht differente Publikationskulturen. Dies rührt daher, dass die Naturwissenschaften aufgrund ihrer engen Anbindung an gesellschaftliche Produktion zu langfristig einheitlichen Gegenstandskonzeptionen tendieren, während diese in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach wie vor strittig sind.“ Was schlicht heißen soll: „Jedes Fach ist anders. Bei den Naturwissenschaften wird weniger diskutiert, bei den Geistes- und Sozialwissenschaften mehr. Deshalb klingen die Texte in den verschiedenen Fächern auch unterschiedlich.“ So stand’s mal im Spiegel. Offenbar ist den Dozenten viel daran gelegen, sich mit ihren Texten bewusst abzugrenzen und ihre Zugehörigkeit zu einem exklusiven Zirkel zu beweisen.
Das ist tatsächlich eine Gratwanderung. In der Beratung hadern zum Beispiel Doktoranden damit, dass in ihrem Fach nachgerade verlangt werde, schwer verständliche Texte zu produzieren. Dabei besteht doch die größte Kunst darin, komplexe Sachverhalte einfach auszudrücken. Die Wissenschaftsvermittlung und Wissenschaftskommunikation ist meiner Überzeugung nach eine der größten Herausforderungen, vor der Hochschulen und Universitäten heute stehen. Deshalb arbeiten wir im Schreibzentrum nicht nur mit den Studierenden, sondern auch mit den Lehrenden. Wir bilden Professoren und Lehrkräfte des akademischen Mittelbaus fort und leihen unsere Schreibtutoren aus, die in die Seminare gehen und dort Schreibübungen durchführen – mit dem Ziel, dass auch die Lehrenden etwas daraus lernen.
Nämlich was?
Sicherlich können wir in der Wissenschaft nicht sagen: „Erlaubt ist, was gefällt“. Aber ein wichtiger Aspekt von wissenschaftlichem Schreiben ist ja auch, Begeisterung für sein Fach zu wecken. Wenn wir wollen, dass in 50 Jahren noch Menschen Geschichte studieren, dann sind Texte hilfreich, die zeigen, wie spannend Geschichtswissenschaft ist. Letzten Endes geht es doch um die Frage: Was möchte ich lesen? Natürlich einen Text, der eine interessante Frage aufwirft und diese auf nachvollziehbare, aber auch auf ansprechende Weise beantwortet. Was das genau heißt, ist von Fach zu Fach unterschiedlich. Aber ich glaube schon, dass man versuchen kann, auch beim fachlichen Schreiben Grenzen auszuloten, dabei erst einmal möglichst nah an der eigenen Sprache zu bleiben und sich nicht an anderen festzuklammern, etwa an „mehreren Hundert Fußnoten“. Erleichtert wird das dadurch, dass der eigentümliche Sonderweg der deutschen Wissenschaftssprache durch die Internationalisierung der Hochschulen gerade aufgebrochen wird. Jedenfalls hat noch kein Studierender eine schlechtere Note bekommen, weil er bei uns in der Schreibberatung war. Im Gegenteil.
Sogar eine Fachzeitschrift für biologische Laborforschung veröffentlichte unlängst ein Plädoyer für „Narratologie“: Neben der systematischen Angabe der Quellen solle eine Arbeit „lesbar und vorzugsweise auch nicht allzu langweilig“ sein. Also brauchen auch Naturwissenschaftler eine Schreibberatung?
Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird das sicher zu unserem Angebot gehören. Derzeit sind wir in erster Linie für die Geisteswissenschaftler zuständig, am Rande geht es auch um die Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, weil die Textsorten ähnlich sind. Naturwissenschaftler pflegen andere wissenschaftliche Denkformen, Beweisverfahren und Techniken des Belegens. Aber ich unterstütze gerade einen Kollegen dabei, ein Mathezentrum für die Naturwissenschaften aufzubauen, das sich an Studierende verschiedener Fächer richtet, die alle in irgendeiner Form mit Mathematik zu tun haben, also auch die Wirtschaftswissenschaften oder die Physik. Auch mit angehenden Medizinern haben wir schon gearbeitet – es ging darum, während der Pflichtzeit als Arzt im Praktikum Patientenfälle zu verschriftlichen, um sich untereinander über die Diagnose austauschen zu können. Der Professor fand das zwar ganz gut, aber für ihn standen weniger das gute Schreiben und der Austausch der angehenden Mediziner im Vordergrund, sondern die richtige Diagnose, denn sonst „sterben die Leute“, wie er meinte. Schreibberatung für Naturwissenschaftler müsste definitiv von einem Naturwissenschaftler angeboten werden, der zugleich Schreibdidaktiker ist. Da gibt es allerdings in Deutschland höchstens eine Handvoll Leute, die das machen könnten. Wer eine solche Qualifikation mitbringt und einen Kurs anbieten möchte, kann sich gerne an mich wenden. Das machen wir!
Wissenschaftliche Beiträge in Fächern wie Medizin, Physik oder Chemie verraten aber doch schon im Abstract, wer der Mörder ist. Warum sollte der Verfasser sich noch groß Gedanken über die Kunst des Erzählens machen?
Auch die Naturwissenschaftler bearbeiten so spannende Themen, dass es eine Verschwendung wäre, dabei nur an das Abstract zu denken. In der anglo-amerikanischen Wissenschaftswelt stellt sich diese Frage erst gar nicht. Jeder, der schon mal englischsprachige Fachliteratur gelesen hat, weiß, wie angenehm es für den Leser ist, wenn er nicht bloß die Fakten auf den Tisch geknallt bekommt, sondern freundlich durch die Argumentation geführt wird, die eine oder andere Anekdote findet und auch mal direkt angesprochen wird. Naturwissenschaftler sollten sich als Narratologen nicht unterschätzen – sondern sich einfach trauen. Gerade in der Vermittlung ihrer Forschungsergebnisse nach außen!
Was lernt der Studierende konkret in der Schreibberatung?
Wir wollen keine besseren Texte produzieren, wie etwa kommerzielle Autoren- oder Journalistenschulen, sondern bessere Schreiber. Es geht nicht um Textkosmetik, sondern um Strategien, mit denen man sich leichter tut, an Texte heranzugehen. Denn damit quälen sich so manche Lernende und auch Lehrende ganz gewaltig. Das geht mitunter so weit, dass sie seit Jahren keinen eigenen Aufsatz mehr veröffentlicht haben.
Ihr benotet also keine Texte?
Nein, wir bewerten nicht. Wir arbeiten in der Beratung daran, Schreibende zur Selbstreflexion anzuregen, etwa darüber, warum sie in ihrem Text eine bestimmte Entscheidung an einer bestimmten Stelle getroffen haben, was sie selbst zu dem Thema denken und wie sie Gedanken im Text entwickeln. Darüber hinaus wollen wir Studierenden eine Auswahl an Schreibstrategien mitgeben. Denn eine wichtige Erkenntnis der Schreibforschung ist: Es gibt nicht die eine richtige Art und Weise, zu einem Text zu kommen. Das ist hochgradig individuell. An Schreibertypen unterscheiden wir zum Beispiel „Goldgräber“ – Strukturfolger – „Eichhörnchen“ – Sammler – oder „Abenteurer“ – Drauflosschreiber – und noch einige mehr. Das ist auch vielen Professoren nicht klar, die in ihren Seminaren häufig eine Ideallösung verfechten - meistens die, nach der sie selbst gelernt haben zu schreiben. Wir sehen uns daher auch in der Mittlerfunktion, um Lehrende und Studierende zusammenzubringen.
Angeblich mangelt es ohnehin massiv „bei der Nutzung der eigenen Sprache in Wort und Schrift“, liest man immer wieder.
Das ist kompletter Blödsinn. Noch nie in der Menschheitsgeschichte wurde so viel gelesen und geschrieben wie heute, noch nie haben auch junge Menschen so viel rezipiert und produziert. Die Betrachtung hängt natürlich von der Brille ab. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass twittern, bloggen oder simsen eine geringere Wertigkeit haben als eine Buchveröffentlichung in einem angesehenen Verlag. Aber wir im Schreibzentrum sehen, dass es primär darauf ankommt, den Schreibern klarzumachen, was sie mit ihren Texten in welchem Umfeld und in welcher Situation erreichen wollen. Es knirscht nur dann, wenn sie nicht realisieren können, wann Kontext und Sprachebene sich ändern.
„Isch geh Uni …“
… ist nicht der Untergang des Abendlandes. Sätze wie „Isch geh Bibliothek“ höre ich tatsächlich öfter auf den Fluren der Universität. Dieses sogenannte Kiezdeutsch ist ein Soziolekt – genauso wie die Wissenschaftssprache eigentlich ein Soziolekt ist. Ich habe damit kein Problem, denn man versteht ja, was gemeint ist. Man könnte sich sogar eher Gedanken darüber machen, welche Funktion bestimmte Wortarten in der deutschen Sprache haben und ob man Präpositionen überhaupt braucht.
Zum Abschluss der Ausblick: Hat bald jede Uni ein Schreibzentrum?
Akademische Schreibberatung ist hier bei uns noch ein vergleichsweise junges Feld, anders als in den USA, wo es „Writing Centers“ schon seit fast 100 Jahren gibt. Trotzdem können wir sagen, dass zumindest die mittelgroßen und noch nicht so ganz alteingesessenen Universitäten in Deutschland erkannt haben, dass es sinnvoll ist, Studenten frühzeitig an das fachthematische Lesen und Schreiben heranzuführen. Dementsprechend viele Anfragen von anderen Unis bekommen wir. Das Angebot wird sich ausweiten. Unser Traum sieht so aus, dass jede Universität, FH und Hochschulen aller Art eine Anlaufstelle für Lernende und Lehrende haben. Orte also, an denen man entspannt mit anderen über seine Ideen und Fragen sprechen darf, um seinen Weg zu finden. Das kommt im Lehrbetrieb, wo es primär um ‚Credit Points‘ und Abschlüsse geht, zur Zeit ein bisschen zu kurz.
Dr. Stephanie Dreyfürst promovierte in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Schwerpunkt Frühe Neuzeit/Rhetorik. Seit 2009 ist sie Leiterin des Schreibzentrum an der Goethe-Universität Frankfurt. Dort hat sie u. a. das Programm „Writing Fellows“ aufgebaut, das im August 2014 vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft im Rahmen der Aktion „Hochschulperle“ ausgezeichnet wurde. Derzeit besteht das Team des Schreibzentrums um Dreyfürst und ihre Kollegin Dr. Nadja Sennewald aus zwei wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und 15 SchreibtutorInnen, die als studentische Schreibberater pro Jahr ungefähr 400 Schreibberatungen geben und 50 Workshops abhalten. Zu den Aktivitäten des Schreibzentrums gehören auch Events wie „Die lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten“ (1. Donnerstag im März) oder der „Akademische Schreibmonat“.