Geisterfahrer auf der Datenautobahn
Bernd Harder
Kennen Sie die Geschichte vom Döner-Wurm, der sich durch den Körper ins Gehirn frisst? Haben Sie auch schon gehört, dass Getränkedosen tödlich sind? Höchst wahrscheinlich. Denn Wander-Sagen haben wieder Hochkonjunktur - vor allem übers Internet. Hier vier aktuelle Beispiele aus dem Bereich Medizin.
Döner-Wurm - Erschreckend, oder?
"Eine Studie der deutschen Lebensmittelkontrolle hat bei Qualitätsüberprüfungen festgestellt, dass in jedem zehnten Kebab Wurmeier zu finden sind. Diese Eier und entstehenden Larven sind gegen Magensäure resistent! Sie haben die gleichen Eigenschaften wie unser heimischer Fuchsbandwurm, das heißt sie fressen sich langsam durch den Körper zum Gehirn. Diese Eier entstehen durch das lange Warmhalten am Spieß."
Tatsächlich? Glaubt heutzutage noch jemand an Ur-Zeugung? Anscheinend, denn ansonsten hätte dieser E-Mail-Kettenbrief kaum eine beachtliche Verbreitung finden können. Es mag sein, dass die tierischen Kebab-Fleischlieferanten hin und wieder Bandwurmeier mit der Nahrung aufnehmen. Und in der Tat widerstehen solche Parasiten der zersetzenden Wirkung von Magensäure - jedoch nur, wenn sie die Zubereitung des Fleisches am Spieß überleben, was äußerst unwahrscheinlich ist. Außerdem: Auf dem farbigen Schock-Foto, das der Döner-Warnung meist als Attachement angehängt ist, frisst sich kein Wurm durch ein menschliches Auge, sondern eine tropische Insektenlarve, nämlich die der Dasselfliege (Dermatobia hominis). So gesehen, gehört der Tod bringende Wurm im Döner wohl in die selbe Kategorie wie Rattenzähne oder Fingernägel im Hamburgern, von denen diverse Großstadtlegenden seit langem erzählen. Andere zeitgenössische Fast-Food-Mythen ranken sich zum Beispiel um Gen-manipuliertes, künstliches Hühnerfleisch bei „Kentucky Fried Chicken" oder um „Mayonnaise" aus Sperma, für die ein masturbierender Angestellter bei „Burger King" oder „Pizza Hut" verantwortlich ist. Möglicherweise bricht sich in solchen Ekel-Storys das latent schlechte Gewissen vieler Schnellimbiss-Fans Bahn. Dosentod Quatsch mit Dose oder Ernst zu nehmende Warnung?
„Kürzlich verstarb eine Frau unter absurden Umständen. Sie trank von Mineralgetränkebüchsen (Fanta, Cola etc.), als sie auf dem Genfer See war. Montags wurde sie ins Hospital in Lausanne eingeliefert, und am Mittwoch verstarb sie. Die Autopsie ergab, dass sie an Leptospirose fulgurante verstorben war. Sie hatte kein Glas mit aufs Schiff genommen und direkt von der Büchse getrunken. Eine Kontrolle der Büchsen hatte ergeben, dass die Büchsen mit Rattenurin, also Leptospiras, verunreinigt waren. Die Frau hatte wahrscheinlich den oberen Rand der Büchse nicht gereinigt, bevor sie trank. Diese war mit trockenem Rattenurin infiziert, welches giftige, tödliche Substanzen, so das Leptospiras, enthält, welche die Leptospirose auslöst. Diese Büchsen werden in Lagern aufbewahrt, welche voll Ratten sind, und kommen dann ungewaschen in den Handel. Die Büchsen sollten nach dem Kauf, bevor Sie sie in den Kühlschrank tun, mit Geschirrspülmittel gründlich gereinigt werden. Gemäß einer Untersuchung in Spanien sind die Büchsen stärker verseucht als öffentliche Toiletten!!! Diese Mitteilung sollte an so viele Leute wie möglich weitergeleitet werden. Mitteilung vom Kantonsspital Genf."
Natürlich ist es aus hygienischen Gründen angeraten, Dosen und andere Verpackungen zu reinigen, bevor man sie zum Mund führt. Eine Krankheit namens Leptospirose fulgurante gibt es aber gar nicht - höchstens Leptospirose, auch „Stuttgarter Hundeseuche" oder „Weilsche Krankheit" genannt. Leptospirose zählt zu den so genannten Zoonosekrankheiten, das heißt: Es handelt sich um eine bakterielle Infektionskrankheit, die von Tieren vornehmlich auf Menschen übertragen wird, die beruflich mit Tierpflege oder Tierhaltung zu tun haben. Durch getrockneten Rattenurin kann man sich allerdings nicht anstecken. Außerdem beträgt die Inkubationszeit sieben bis elf Tage, die Infektion ist mit Medikamenten heilbar, ein Krankheitsverlauf wie oben geschildert nicht möglich. Am Rande sei noch vermerkt, dass Getränkedosen in Gebinden transportiert und gelagert werden, die in Plastikfolie eingeschweißt sind. „Unfug kennt keine Grenzen", verlautbarte das Berliner Robert-Koch-Institut in einer offiziellen Stellungnahme, nachdem es „mehrfach Anfragen von besorgten Bürgern" gegeben habe. Als typische Anzeichen für eine elektronische Ente stechen vier Punkte hervor:
- Der Wahrheitsgehalt wird in der Meldung besonders hervorgehoben.
- Ort und Zeitpunkt des Ereignisses sind nicht nachvollziehbar.
- Wissenschaftliche Institutionen, Behörden etc. werden als Zeugen aufgeboten, ohne dass die Quelle nachprüfbar ist.
- Im Text wird Wert darauf gelegt, dass die Nachricht möglichst rasch und an viele Personen weiterverbreitet wird.
Busenstarren hält Männer fit
... meldete sogar Bild im Gefolge diverser Web-Gerüchte: „Zehn Minuten verbessern die Blutzirkulation wie 30 Minuten Aerobic!" Schöne Aussichten für die Herren der Schöpfung? Leider nicht. Die Quelle dieser sensationellen Erkenntnis ist das US-Juxblatt Weekly World News, dem wir normalerweise Schlagzeilen verdanken wie: „Pizza Prostituto - Neuer Service: Prostituierte bringen Pizza ins Haus". Oder: „Neues Gesetz - Blinde müssen Sturzhelm tragen". Auch eine Kettenmail, in der „Dr. Karen Weatherby" vom „New England Journal of Medicine" detailliert die Auswirkungen der im wahrsten Sinne des Wortes spannenden Männer-Sportart auf Blutdruck und Herz-Kreislauf-System erklärt, ist ein Hoax. Es existiert keine Dr. Karen Weatherby, und ihr besagter Artikel findet sich in keiner medizinischen Datenbank der Welt.
Nierenklau
Böses Erwachen: Nach einer durchtanzten Disko-Nacht irgendwo im Ausland kommt die attraktive Trisha in einer mit Eiswürfel gefüllten Badewanne zu sich. Entsetzt stellt sie eine frische, schlecht vernähte Wunde an ihrem Rücken fest. Anscheinend ist die junge Frau mit einem starken Schlafmittel betäubt und dann ihrer rechten Niere beraubt worden. Sie ruft daraufhin die Polizei an und bekommt zu hören: „Erzählen sie mir bloß nicht, dass sie in einer Badewanne voller Eis aufgewacht sind und man Ihnen eine Niere entfernt hat ... So beginnt der Teen-Horrorfilm „Düstere Legenden 2", der eine Reihe der bekanntesten Großstadtsagen effektvoll in Szene setzt. Darunter eben auch die Schauergeschichte von der unfreiwilligen Organspende. In der Sammlung des Göttinger Volkskundlers Rolf Wilhelm Brednich („Die Maus im Jumbo-Jet") liest sich das Ganze so:
Ein Ehepaar aus Bremen fährt nach Istanbul um dort einige Tage zu verbringen. Die Beiden streifen des öfteren durch den Basar, die Frau meistens dem Mann voran, der offenbar älter ist und nicht mehr ganz so schnell und beweglich wie sie. Als sie sich wieder einmal umdreht, um nach ihrem Mann Ausschau zu halten, sieht sie ihn nicht mehr. Sie geht zurück, sucht ihn, findet ihn aber nicht. Mit Hilfe von Einheimischen gelangt sie zum nächsten Polizeibüro und versucht dort klarzumachen, dass sie ihren Mann vermisst. Schließlich wird sie an die deutsche Botschaft verwiesen. Dort erkundigt man sich bei der Polizei, aber man findet keine Spur von dem Mann. Die Frau bleibt im Hotel und stellt täglich Nachforschungen an. Nach einigen Tagen wird sie schließlich angerufen und gebeten, ein Krankenhaus aufzusuchen. Dort sei ein Mann eingeliefert worden, den man bewusstlos am Strand gefunden habe. In der Tat identifiziert sie den Patienten als ihren Mann. Er befindet sich in schlechtem Zustand. Er wird sofort mit einem Flugzeug nach Bremen zurückgeflogen. Dort wird er untersucht. Der untersuchende Arzt fragt die Frau, ob der Mann in letzter Zeit operiert worden sei. Sie verneint dies. Es stellt sich heraus, dass er auf der rechten Seite in Höhe der Niere eine frische Wunde hat. Die Frau verlangt, dass man weitere Untersuchungen anstellt. Sie ergeben sehr rasch, dass ihm offensichtlich vor kurzem eine Niere entnommen worden ist.
Nichts verleiht einem urbanen Mythos mehr Stehvermögen als seine Vektorierung (zu Deutsch etwa: verbreitende Wiedergabe) in den Massenmedien. Die Vorstellung vom Organ-Klau inspirierte schon in den 1970-ern die Spielfilme „Coma" (USA) und „Fleisch" (Deutschland), in den 1990-ern die „Akte X"-Folge „Höllengeld" sowie eine Episode der TV-Serie „Law und Order". Sobald eine Geschichte im Kino, in Zeitungen oder Büchern vektoriert wird, erlebt sie einen gewaltigen Aufschwung. Nicht nur, weil die Anzahl der potenziellen Weitererzähler steigt, sondern auch weil das Erzählte mit erhöhter Glaubwürdigkeit wieder in den mündlichen Erzählkreislauf eintritt. Es spielt keine Rolle mehr, dass der Erzähler weder Namen noch Daten nennen kann - er hat es im Fernsehen gesehen oder irgendwo gelesen - also muss es auch wahr sein. Ist es aber nicht. Die „Kidney Snatchers" gehen mal in Cincinnati um, dann wieder in Los Angeles, New Orleans, Houston, Las Vegas oder New York. Deutsche Touristen fallen ihnen aber nicht nur in Amerika, sondern auch in der Türkei, in Brasilien, Mexiko, Honduras oder Guatemala zum Opfer. Varianten des Mythos - z. B. mit einer Prostituierten, die ihre Freier im wahrsten Sinne des Wortes „ausschlachtet" - finden sich praktisch überall in der ganzen Welt. Tatsache ist, dass z. B. in Indien ein lebhafter kommerzieller Handel mit Organen ohne kriminelle Handlungen oder Zwang im aggressiven Sinn blüht, obwohl seit 1994 ein strenges Transplantationsgesetz gilt. Angeblich kostet dort eine Niere bis zu $ 10 000. Doch das ist nur die Summe, die der Empfänger des Transplantats zu zahlen hat. Die Spender oder Verkäufer selbst („Donors" genannt) bekommen 5000 bis 30 000 Rupien (ca. E 400 bis 750), den Rest teilen sich „Broker" (die Vermittler der Lebendspende) und (Privat-)Klinik. Experten gehen von rund 100 000 „geheimen" Nierenverpflanzungen in den vergangenen 25 Jahren aus. Auch in einigen anderen Ländern (Osteuropa, Lateinamerika, Afrika, China) soll ein Schwarzmarkt florieren. Aber Lebend-Organdiebstahl wie der krude Nierenklau in „Düstere Legenden"? Die Entnahme einer Niere ist ein komplizierter Eingriff, der nicht auf die Schnelle in einem Badezimmer oder Hinterhof durchgeführt werden kann und erhebliche postoperative Risiken wie z. B. retroperitoneale Infektionen, Proteinurie oder lokale Glomerulosklerose birgt. Eine solche Operation erfordert schon im Vorfeld genetische Tests, dauert mehrere Stunden und braucht ein eingespieltes Team von mindestens drei Chirurgen, einem Narkosearzt und zwei bis drei OP-Schwestern. Man darf davon ausgehen, dass medizinische und pflegerische Experten dieser Güteklasse sich wohl kaum massenhaft in die dunklen Machenschaften einer „Organ-Mafia" verwickeln lassen würden. Im Dezember 1994 legte Todd Leventhal von der „United States Information Agency" in Washington den Vereinten Nationen einen Bericht über seine umfangreichen Nachforschungen in Sachen „Kidney Snatchers" vor. Darin steht unter anderem zu lesen:
„Keine Regierung, keine internationale Behörde, keine Organisation außerhalb der Regierung und kein Journalist hat je auch nur den geringsten Beweis vorgelegt, um diese Geschichte zu untermauern."
Auch drastische Ausschmückungen des Stoffs, wonach in Dritte-Welt-Ländern Kinder als menschliche Ersatzteillager „gezüchtet" und gefangen gehalten werden, entbehrten jeder Grundlage. Alles lässt darauf schließen, dass es sich bei dem Gerücht über den Organ-Klau um eine urbane Legende handelt, auch „FOAF"-Story genannt („Friend of a Friend" - „Ich hab's vom Freund eines Freundes gehört"). Dahinter verbergen sich Sagen aus der modernen Welt - Geschichten oder Gerüchte, die man sich auf Dinnerpartys, am Arbeitsplatz und in der Kneipe erzählt oder wenn man bei Freunden übernachtet. Großstadtsagen spiegeln in Form einer Erzählung weit verbreitete &Äuml;ngste, Befürchtungen und Vorurteile wider. In unserem Fall geht es wohl um eine diffuse Form von Xenophobie sowie um die moralische Botschaft, sich von dunklen Lasterhöhlen wie Diskotheken, Bordellen etc. fernzuhalten. Der Forscher und Buchautor Rolf Wilhelm Brednich hat festgestellt:
„Je gruseliger eine solche Geschichte ist, um so schneller verbreitet sie sich. Der Erzähler empfindet eine Art Angst-Lust, Schauer zu verbreiten. Er gewinnt mit einer aufregenden Geschichte Ansehen, kann sich aber auch davon distanzieren, da ja nicht er selbst, sondern der gute Freund die Geschichte erlebt hat."
Manchmal indes können frei erfundene FOAF-Stories reale und durchaus ungute Folgen zeitigen: Die Aufregung um angebliche Organdiebstähle hat mancherorts schon dazu geführt, dass immer weniger Menschen sich als freiwillige Organspender registrieren lassen. Aus Angst, die dafür gemachten Angaben würden den Verbrechern die Arbeit noch zusätzlich erleichtern.
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 2/2003.