Anna Veronika Wendland
Ist die Kernenergie eine Klimaschutztechnologie? Die „Scientists for Future Germany“ beantworten diese Frage in einem 100-Seiten-Papier mit einem eindeutigen Nein. Doch diese Antwort stand wahrscheinlich schon vor der Diskussion fest. Das Papier hat einen deutlichen Bias zu Ungunsten der Kernenergie, der durch Verstöße gegen Wissenschaftsstandards erzeugt wurde: dazu gehören eine selektive Kenntnisnahme der Fachliteratur und des Forschungsstandes zu Problemen der Reaktorsicherheit und des Kernkraftwerksbetriebs, voreingenommene Interpretation vorliegender Daten, Doppelstandards im Vergleich von (abgelehnter) Kernenergie und (erwünschten) Erneuerbaren Energien sowie Strohmann-Argumente. Die kürzere, im Skeptiker veröffentlichte Version finden Sie hier.
1. Kontext
Seit ungefähr einem Jahr ist in Deutschland und Europa eine neue Debatte im Gange, die sich um die Frage dreht, ob die Kernenergienutzung ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung des anthropogenen Klimawandels sei. In Deutschland dreht sich diese Debatte vor allem um die Frage, ob der bis Ende 2022 zu vollendende Atomausstieg ein wesentliches Hindernis bei der Erreichung von Klimazielen sei und daher ausgesetzt werden solle. Angesichts der durch die EU und auch durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts initiierten nochmaligen Verschärfung der deutschen CO2-Ausstoß-Ziele wird kritisiert, dass ausgerechnet CO2-arme und gesicherte Leistung vom Netz genommen wird, während Kohlekraftwerke weiterlaufen und ein Backup variabler erneuerbarer Energien (EE) durch einen Zubau von Gaskraftwerken angestrebt wird.[1]
Eine weitere Randbedingung der Debatte ist der starke Anstieg der Energiepreise seit dem 3. Quartal 2021, der auf mehrere Faktoren zurückgeht: CO2-Bepreisung, Wiederhochfahren der Volkswirtschaften nach der Corona-Depression sowie Drosselung der Erdgaslieferungen durch Russland. Laut aktuellen Umfragen[2] ist inzwischen die Hälfte der Deutschen für eine Revision des Atomausstiegs.
In der Europäischen Union dreht sich die Debatte derzeit vor allem um die Finanztaxonomie der Europäischen Union, ein Nachhaltigkeitszertifikat für Finanzprodukte, das es ermöglichen soll, Kapital in nachhaltige, klimafreundliche Investments zu lenken und klimaschädliche Investments zu entmutigen. Im April 2021 bescheinigte der EU-Kommissions-Forschungsrat JRC der Kernenergie, dass sie mit gleicher Berechtigung wie die EE in diese Taxonomie gehöre, da sie nicht nur CO2-arm sei, sondern auch in ihren Auswirkungen auf Mensch und Natur den Erneuerbaren nicht nachstünde.[3]
Die Bundesregierung widersprach dieser Auffassung in einer Fachstellungnahme durch das Nuklearsicherheitsamt BASE, die Zweifel an den Befunden des JRC äußerte, vor allem hinsichtlich der Bewertung schwerer kerntechnischer Unfälle.[4] Das Bundesumweltministerium hatte bereits im Frühjahr 2021 einen „12-Punkte-Plan für die Vollendung des Atomausstiegs“ vorgelegt, in dem es auch grenzüberschreitende Ansprüche bei dieser Aufgabe anmeldete. Das betrifft die Beendung jedweder atomindustriellen Tätigkeiten auf dem Boden der Bundesrepublik (etwa die Brennelemente-Fertigung und Urananreicherung für Auftraggeber im Ausland) sowie ein Eintreten für die Ausschließung der Kernenergie aus der EU-Taxonomie, ferner die Unterstützung anderer Länder bei der Durchsetzung ähnlicher Agenden sowie „Informationsangebote“ mit dem Ziel, Positionen der Atomindustrien oder pro-nuklearer Regierungen und Organisationen in Europa kritisch entgegenzuwirken.[5]
Auch in der deutschen Klimabewegung Fridays for Future (F4F) wurde die Frage, ob Kernenergie eine Klimaschutztechnologie sei, diskutiert. Pro-nukleare Gruppen wie Nuklearia und Critical Climate Action positionieren sich seit dem Sommer 2020 mit dezidiert klimaschutz-bezogenen Kampagnen, ohne aber bei F4F auf nennenswerte Resonanz zu stoßen. Sprecherinnen von F4F sprachen sich vereinzelt öffentlich gegen die Kernenergie aus und folgten im Wesentlichen der Position etlicher deutscher NGOs aus dem Anti-AKW-Bewegungs-Kontext, die vor einer Wiedereinführung der Kernenergie durch die Hintertür des Klimaschutzes warnen.[6]
Gleichwohl wurde in der Klimabewegung der Bedarf erkannt, sich in dieser Debatte mit wissenschaftlich begründeten Argumenten positionieren zu müssen. Aus diesem Grunde legte Scientists for Future Germany (S4F) Ende Oktober 2021 ein umfangreiches Papier über „Kernenergie und Klima“ vor.[7] S4F ist der deutsche Zweig einer vorwiegend auf die deutschsprachigen Länder konzentrierten Wissenschaftler-Initiative zur Unterstützung der Klimaschutzbewegung Fridays for Future. Sie wurde 2019 von dem Berliner Botaniker Gregor Hagedorn ins Leben gerufen. Den Gründungsaufruf unterzeichneten rund 23.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. [8]
Die Autoren des Papiers geben an, es sei in einem längeren Diskussionsprozess entstanden und von weiteren Wissenschaftlern „peer reviewed“ worden, die in Autorenzeile und Danksagung benannt werden.[9] Es kam also nicht zu einer Peer Review im Sinne eines doppelt-blinden Begutachtungsverfahrens. Auch war offensichtlich der Diskussionsprozess in der Organisation nicht gesamtöffentlich.[10] Es werden keine Angaben zur Berufung der 16-köpfigen Autorengruppe durch S4F gemacht. Von der Verfasserin befragte S4F-Mitglieder erinnerten sich an keine öffentlich kommunizierten Arbeitsstände oder Möglichkeiten der Kommentierung. Eine Anfrage an die Pressestelle der S4F sowie an die drei als Ansprechpartner benannten Autor:innen, Ben Wealer, Claudia Kemfert und Christian Breyer, blieb unbeantwortet.
2. Die Hauptaussagen des Papiers
In ihrer Gründungserklärung der S4F benennt die Gruppe ihr prioritäres Ziel: „Die Verbrennung von Kohle sollte bereits 2030 fast vollständig beendet sein, die Verbrennung von Erdöl und Erdgas gleichzeitig reduziert werden, bis alle fossilen Energieträger durch klimaneutrale Energiequellen ersetzt worden sind.“[11] Ausweislich dieses Ziels wäre erwartbar, dass die S4F der Position des Weltklimarats ganz oder in Teilen folgen, der in seinen Sachstandsberichten die Kernenergie in der Reihe der Instrumentarien zur Reduzierung des Treibhausgasausstoßes nennt. Ihre CO2-Bilanz (Life Cycle Analysis) ist laut IPCC-Datenblättern mit 12 g CO2/kWh (median) so gut wie jene der Windkraft und rund viermal besser als die der Photovoltaik (41-48 g/kWh).[12]
Doch die deutschen S4F positionieren sich in ihrem Papier dezidiert gegen die Kernenergienutzung. Sie begründen das mit vier Argumenten: Kernenergienutzung
1) sei mit Blick auf die Gefahrenpotenziale möglicher Unfälle und ungelöster Entsorgung zu gefährlich,
2) sei mit Blick auf ihre Wirtschaftlichkeit zu teuer,
3) sei mit Blick auf die Bauzeit neu gebauter Kernkraftwerke „in den für die Bekämpfung der Klimakrise relevanten Zeiträumen“ zu langsam verfügbar,
4) blockiere den Weg zu einem „gesellschaftlich gestützten…klimaneutralen Energiesystem“, das ausschließlich auf Erneuerbaren Energien aufbauen solle. Letzteres Argument wird eingebettet in den Verweis auf eine nach Auffassung der Autoren wünschenswerte „sozial-ökologische Transformation“, welche von einem „Lock-in“ in einer auf Großkraftwerken, insbesondere Kernkraftwerken, basierenden Elektrizitätswirtschaft verhindert werde. Daraus leiten die Autoren Forderungen nach einer „Atomwende“ (S. 85) ab, die in ihren Zielen mit dem Forderungskatalog des BMU nach einer europaweiten Vollendung des Atomausstiegs übereinstimmt.[13]
Die Studie erhebt den Anspruch, „eine Vielzahl von Argumenten geprüft und am bestehenden Stand der Forschung abgeglichen“ und auf dieser Grundlage zu ihren Schlussfolgerungen gekommen zu sein. Ich habe in diesem Gutachten untersucht, ob sie diesem Anspruch tatsächlich gerecht wird, und die Studie nach folgenden Gesichtspunkten geprüft:
- Einhaltung wissenschaftlicher Standards
- Sachlich-fachliche Richtigkeit der Argumentation
- Konsistenz der Argumentation unter Maßgabe des prioritären Schutzziels Emissionsreduktion
Ich werde zunächst entlang der von den Autoren angeführten Argumente – Reaktorsicherheit, Kostenargument, Zeit- und Flexibilitätsargument – untersuchen, ob die Arbeit den Prüfkriterien genügt. In einem Bewertungs- und Schlussteil erfolgt eine Einordnung der Befunde.
3. "Technologie und Gefahrenpotenziale": die Argumentation zur Reaktorsicherheit
3.1 Sicherheitskonzepte und Sicherheitsebenen
Da ein zentrales Argument der Autoren gegen die Aufnahme der Kernenergie in klimafreundliche Energiesysteme deren „Gefährlichkeit“ ist, was zur negativen Beantwortung der Frage führt, ob die Kernenergie ein Beitrag zum Klimaschutz sein könne, muss besonderes Augenmerk auf die Prüfung der Argumentation im Feld der Reaktorsicherheit gelegt werden. Da der größte Anteil kerntechnischer Risiken auf laufende Kernkraftwerke entfällt, konzentriere ich mich auf die Überlegungen der Autoren zu Fragen der Reaktorsicherheit (es gibt auch weitere zur Entsorgung). In diesen Überlegungen gehen sie auf die Rolle von Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen bei der Einschätzung kerntechnischer Risiken ein und konfrontieren das mit einer, wie sie formulieren, Realität real eingetretener Beinahe-Störfälle und Unfälle. Sie ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass die „Befürworter der Kernenergie“ in unzulässiger Weise Risiken kleinrechneten und Gefahren verharmlosten.
Die Ausführungen beginnen (S. 21-23) mit Einlassungen zum Sicherheitskonzept der gestaffelten Sicherheitsebenen. Ich erläutere anhand der von den Autoren zitierten Sicherheitsrichtlinie 2014/87EURATOM[14] und am Beispiel eines deutschen KKW, was damit gemeint ist: Auf der Ebene des bestimmungsgemäßen Normalbetriebs sind betriebliche Systeme im Eingriff. Das ist in einem deutschen KKW mit Druckwasserreaktor beispielsweise das System der Reaktorleistungsregelung. Auf der zweite Ebene des „anormalen Betriebs“ gehen bei einer Störung die Reaktorbegrenzungen in Eingriff und sorgen dafür, dass harte Reaktorschutzmaßnahmen nicht erfolgen müssen. Das ist zB der Fall, wenn eine Hauptkühlmittelpumpe ausfällt und die Anlage durch Teilabfahren auf ca. 60 Prozent Reaktorleistung angepasst wird, aber weiter bestimmungsgemäß betrieben werden darf. Die dritte Ebene behandelt Störfälle, etwa den Bruch einer Hauptkühlmittelleitung, welche die Anlage mit dem leittechnischen Reaktorschutzsystem und speziellen Sicherheitssystemen, z.B. Notkühl- und Zusatzboriersystemen, beherrschen kann. Das bedeutet, dass die drei Schutzziele Reaktivitätskontrolle, Aktivitätsrückhaltung und Kernkühlung eingehalten werden. Die vierte Ebene, die im deutschen Regelwerk dreigeteilt ist, betrifft die Beherrschung sehr seltener schwerer Unfälle, etwa bei Mehrfachversagen von Sicherheitseinrichtungen, bzw. die Maßnahmen des präventiven und mitigativen anlageninternen Notfallschutzes.[15] Schließlich tritt im europäischen Regelwerk eine fünfte Schutzebene hinzu, die Abmilderung der radiologischen Auswirkungen erheblicher anlagenexterner Freisetzungen durch anlagenexterne Notfallmaßnahmen.[16]
Dieses Konzept wird von den Autoren nun auf sehr seltene Unfälle wie das Versagen des Reaktordruckbehälters angewendet und – fälschlich – behauptet, es könnten „Sicherheitsebenen übersprungen“ werden. In Wirklichkeit geht bei anlageninternen Ereignissen wie dem genannten ein Versagen der vorgelagerten Sicherheitsebenen voraus.[17] Offensichtlich schwebte den Autoren ein durch Fachliteratur nicht begründbares Spontanversagen ohne vorherige Symptome vor. Durch das Highlighten und falsche Begründen dieses Extremfalls entsteht eine problematische False Balance.
Die Autoren schreiben, diesen „Überspringungen“ werde durch die nach Fukushima eingeführte EURATOM-Sicherheitsrichtlinie von 2014 Rechnung getragen, in dem sie zwischen „2 Unfallkategorien“ unterscheide, jene mit frühzeitiger Freisetzung, die externe Notfallschutzmaßnahmen erforderlich machten, die dann nicht rechtzeitig ergriffen werden könnten, und jene mit großer Freisetzung, welche unbefristete Maßnahmen in Raum und Zeit erforderlich machten. In Wirklichkeit steht in diesem Regelwerk eine Zielsetzung, keine Unfallkategorisierung auf Grundlage der Sicherheitsebenen. Ziel der Sicherheitsmaßnahmen soll es sein, solche Freisetzungen zu verhindern. Die EURATOM-Sicherheitsrichtlinie wurde also weder richtig wiedergegeben, noch richtig verstanden. In Wirklichkeit beruhte das Neue der Sicherheitsrichtlinie in der Verpflichtung zu Vorkehrungen für den anlageninternen Notfallschutz, die in Deutschland lange vorher Standard waren, und in der Vorschreibung von sechsjährlichen themenspezifischen Peer Reviews in KKW.[18]
3.2 Unfallstatistiken
Statistisch belegbare Schadensbilanzen der Kernenergie nach Opfern pro produzierter Einheit Energie „sollen“, so die Autoren mit unzweideutiger Zweifelsanmeldung, belegen, dass die Kernenergie ungefähr so viele Opfer fordere wie die Erneuerbaren Energien. Sie suggerieren damit, es handle sich um eine unbelegte Aussage. Die Aussage an sich ist jedoch in mehreren Publikationen gut belegt.[19] Sie sagt aber zunächst gar nichts über Fragen der Reaktorsicherheit aus, sondern nur über die historisch feststellbare Empirie der Folgen des KKW-Normalbetriebs und der Folgen von kerntechnischen Unfällen, die man sodann in einem Abwägungsprozess mit den Folgen anderer Industrien vergleicht. Befunde über Unfallfolgen besagen, dass selbst nukleare Großunfälle wie Three Mile Island (TMI) und Fukushima höchstwahrscheinlich ohne (gegenüber nicht betroffenen Vergleichsgruppen) statistisch erkennbare Strahlenopfer ausgingen. Bei TMI weiß man, dass die Strahlenbelastung für die Zivilbevölkerung unter den gesetzlichen Grenzwerten blieb; im Falle Fukushima legt das der vorläufige Befund der UN-Strahlenforschungs-Organisation UNSCEAR nahe. UNSCEAR hat auf Grundlage von Langzeitstudien auch die Zahlen über zu erwartende Krebs-Spätfolgen in Tschernobyl im Laufe der Zeit von 4000 auf „statistisch nicht feststellbar“ zurückgenommen.[20] Diese Befunde werden von den Autoren implizit angezweifelt („sollen“), ohne aber dem Widerspruch auch Belege beizugeben, warum es anders sei.
3.3 Probabilistische Sicherheitsanalysen
Im Zentrum der S4F-Argumentation steht das Sicherheitsrepertoire der Risikoanalysen von Kernkraftwerken (S. 24-27). Die Autoren beklagen, „auch“ der Forschungsrat der EU-Kommission JRC versuche wie „die Befürworter der Kernenergie“ das Herunterrechnen von Unfallrisiken mit dem Verweis auf sogenannte Probability Safety Analyses (PSA), d.h. Sicherheitsanalysen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Doch diese erfassten die wirklich riskanten Ereignisse, die trotzdem passierten, gar nicht; sie bildeten auch „die Realität nicht ab“, z.B. sei es „unmöglich“, das Handeln von Menschen (Terror oder Sabotage) oder nicht vorhersehbare chemische Prozesse beim Einsatz neuer Werkstoffe in den Komponenten zu modellieren. Die PSA seien also zu unzuverlässig. Nun hat aber die oben erwähnte Empirie der Ermittlung von Todesfällen nach Energieträgern nichts direkt mit den PSA zu tun. Zudem weist die Argumentation zur PSA zwei wesentliche Mängel auf:
1) Es werden den PSA-Anwendern Ziele wie die allumfassende Realitätsabbildung oder gar die Prognose kommender Ereignisse unterstellt, die aber nie Ziel und Funktion der PSA waren oder aber, wie im Falle der Wasserchemie und der Werkstoffe, aber auch der Standortsicherheit von Fukushima Daiichi, Gegenstand anderer Sicherheitsrepertoires sind (z.B. Wiederkehrender Prüfungen auf Werkstoffsicherheit oder laufender Überwachung; Erdbeben-Assessments). Die Autoren verlegen sich hier also auf eine Strohmann-Argumentation, indem sie die Unzulänglichkeit der PSA für Ziele konstatieren, die diese gar nicht anstrebt.
2) Entgegen ihrer eigenen Feststellung, PSA kämen „eine zentrale Rolle in der Diskussion um die Kernenergie zu“, diskutieren die Autoren sie nicht auf der Höhe des Forschungsstandes. Weder wird die international einschlägige Fachliteratur diskutiert noch einschlägige Studien, so die für die laufenden deutschen Anlagen relevante Studie der GRS von 2001.[21] Die Autoren stützen ihr – kritisches – Urteil im Abschnitt über die PSA vielmehr auf zwei Quellen, beides nicht referierte NGO-Publikationen, an denen wiederum zwei Autoren der Autorengruppe beteiligt waren. Die anderen zitierten Quellen dienen dem Nachweis von Fakten wie einzelner Ereignisse in KKW.[22] Nur eine einzige Quelle aus der Fachliteratur (Wheatley et al. 2017) kommt in einem späteren Abschnitt zum Tragen, aber auch hier nur zwecks Herauspickens einer besonders dramatischen Zahl über Unfallhäufigkeiten ohne Kontextualisierung (s.u.) Das kann man angesichts der apodiktischen Aussagen, die auf knapp 2 Seiten über die PSA gemacht werden – unter anderem über ihre „Subjektivität“ – nicht als Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand bewerten.
PSA haben wohldefinierte Aussagebereiche, aber Prognosen oder allgemeine Aussagen über das Sicherheitsniveau „der Kernenergie“ gehören nicht dazu, anders als die S4F-Autoren unterstellen, um dann eine Liste der von den PSA nicht erfassten und wie sie meinen, nicht erkannten Beinahe-Unfälle zu präsentieren. Vielmehr sind PSA immer anlagenspezifische, aber ganzheitlich-systemische Untersuchungen, welche in der Lage sind, Schwachstellen zu ermitteln, die von den herkömmlichen Prüfverfahren an Einzelkomponenten nur schwer erfasst werden können. Man kann mit ihnen Aussagen über das Sicherheitsniveau der betrachteten Anlage im Vergleich zu anderen machen; man kann mit ihnen in einer einzelnen betrachteten Anlage jene Szenarien ermitteln, die mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einem Kernschmelzunfall führen als andere, um die beteiligten Systeme sodann zu ertüchtigen (so geschah das z.B. mit den Notstromsystemen in vielen KKW) oder für diese Systeme häufigere Prüfintervalle anzusetzen, um ihrem Versagen vorzubeugen. Daneben werden PSA auch genutzt, um bei Anlagenänderungen zu prüfen, ob und welche Auswirkungen auf die Anlagensicherheit damit verbunden sind.[23]
Konkret betrachten PSA Ereignisabfolgen mit Kerngefährdung und berechnen die Kernschadensfrequenz von Reaktoranlagen (Level 1 PSA) – was noch nicht gleichzusetzen ist mit Freisetzung[24] – und danach Verläufe schwerer Kernschäden mit Freisetzung, etwa durch Versagen des Sicherheitsbehälters (Level 2) sowie die Folgen von Freisetzungen (Level 3). Doch keineswegs werden PSA genutzt, um große Risiken kleinzurechnen. Während Einwirkungen von außen wie Erdbeben und Flugzeugabsturz in neueren PSA als Eingangsereignis behandelt werden, können willkürliche menschliche Handlungen, wie z.B. Sabotage, in ihrer Häufigkeit zwar nicht beziffert, aber ihre Folgen untersucht werden. In einem solchen Falle definiert man ein menschengemachtes Eingangsereignis (z.B. „Innentäter sabotiert mit Maßnahme x System y“ ), setzt seine Häufigkeit auf 1 und berechnet mit der PSA die Wahrscheinlichkeit, mit der die so ausgelöste Ereignissequenz zum Kernschaden führt.[25]
Der von den Autoren kritisierte EU-Kommissions-Forschungsrat JRC wiederum, dessen Aufgabe es war, den Umwelt-Impact der Kernenergie zu bewerten, befasste sich besonders mit PSA des Levels 3, also den Wahrscheinlichkeitsanalysen über Freisetzungen und ihre Folgen. Die S4F nun behaupten, das sei ein Indiz, dass der JRC Risiken kleinrechne und dass die PSA eine zentrale Rolle bei der Suggestion von Sicherheit spiele. Beides kann man als Strohmann-Argumentation zurückweisen. Ebenfalls nicht zutreffend ist die Behauptung, PSA beruhten größtenteils auf „subjektiven“ Zuschreibungen (S. 24). Anders als bei dem genannten Beispiel mit der Modellierung eines menschlichen Faktors beruhen Eingangsdaten über die Versagenswahrscheinlichkeit von Komponenten auf langjährigen Betriebserfahrungen und Datensammlungen darüber.
Was die Autoren unterschlagen, ist, dass man sich beim Betrieb von KKW natürlich nicht nur auf PSA verlässt – und dass man deren Unsicherheiten sehr wohl berücksichtigt. In PSA werden Angaben über den Grad der Sicherheit einer ermittelten Kernschadensfrequenz gemacht, etwa „Kernschadenshäufigkeit bei Szenario x mit 90%iger Sicherheit zwischen 1*10-7/ra und 1*10-6/ra“.[26] Bei Komponenten, über die es wegen ihrer Hochzuverlässigkeit kaum Versagensdaten in der Datenbank und daher mit Unsicherheiten behaftete Versagensraten gibt, wird überdies mit sehr konservativen Sicherheitsaufschlägen arbeitet. So ist zum Beispiel das deutsche Basissicherheitskonzept für Reaktordruckbehälter und druckführende Umschließungen entstanden, in dem von der Fertigung bis zur Wiederkehrenden Prüfung bei den Kraftwerksrevisionen eine ganze Kette von Vorkehrungen zur Gewährleistung von Sicherheit mit großen Reserven vorgegeben wird.[27]
Doch auch die schon genannten tiefengestaffelten Sicherheitsebenen und deterministischen Auslegungsprinzipien wie Redundanz (Vielfach-Vorhandensein von Sicherheitssystemen und Festlegung von Mindestverfügbarkeiten), Diversität (unterschiedliche Wirkprinzipien oder Fabrikate von Sicherheitssystemen) und räumliche Trennung von Sicherheitssystemen zur Vermeidung von common-cause-Mehrfachversagen sind solche Vorkehrungen. So ist etwa ein Notkühlsystem in unseren Anlagen vierfach 50%ig ausgelegt, weil vorher festgelegt („determiniert“) wurde, dass ein Strang in Reparatur sein könnte und zusätzlich einer wegen eines Einzelfehlers ausfällt – die verbleibenden reichen aber im Anforderungsfalle zur 100%igen Gewährleistung des Schutzziels Kernkühlung aus. Das ist eine deterministische Sicherheitsauslegung n+2, wobei n die Zahl der zur Beherrschung notwendigen Stränge meint, 2 die Anzahl zusätzlicher Systeme; osteuropäische Anlagen erreichen dasselbe Ziel mit einer dreifach 100%igen Auslegung ihrer Notkühlsysteme. Derlei Vorkehrungen werden von den Autoren entweder nur gestreift oder ganz ignoriert, obwohl sie selbst vorher noch kurz von deterministischen „Anforderungen“ gesprochen haben.[28] Im Effekt müssen die Leser des Papiers annehmen, die kerntechnische Katastrophe sei jeden Augenblick erwartbar, weil sich die Designer von KKW nur auf PSA verlassen hätten.
Die Autoren bekräftigen diesen Eindruck mit einer Liste von Beinahe-Störfällen, die dem Absatz über die PSA beigegeben sind (S. 25), als Beweis, das hätte keine PSA vorausgesehen. Das ist richtig, aber dafür wurden die PSA auch nicht gemacht. Bei einer Durchsicht der Near misses fällt eine gewisse Willkürlichkeit auf, die dem zeitlichen Rahmen (Fälle ab 2000) geschuldet ist. So wird zwar ein minder relevanter Fall mit falsch verbauten Dübeln im (seit 2011 abgeschalteten) KKW Biblis in dieser Liste genannt, es fehlt aber ein anderer Fall in derselben Anlage, der die Fachwelt tatsächlich stark beschäftigt hat, nämlich ein Kühlmittelverlust-Ereignis mit einem nicht vorausgesehenen Containment-Bypass in Biblis-A 1987.[29]
Legt man die Perspektive der Autoren zugrunde, erscheint auch der Unfall von Fukushima als Beleg für die Trugschlüsse der Sicherheitsanalysen, obwohl er in Wirklichkeit ein Beleg für ein nicht modellierbares Systemversagen der japanischen Atomaufsicht und -gesetzgebung war. Es handelte sich also nicht um ein Problem unberechenbarer Kerntechnik, die von ihrem Restrisiko überwältigt wurde, wie es auch Angela Merkel formulierte.[30] Dies war ein Fehlschluss, denn in Fukushima handelte es sich um einen Auslegungsfehler, und die Fachliteratur ist sich in dieser Bewertung einig. Während deutsche Kernkraftwerke für das 10.000-jährige maximale Hochwasser ausgelegt werden müssen, reichte in Japan zum Genehmigungszeitpunkt der Anlage Fukushima Daiichi Ende der 1960er Jahre eine Rückschau bis in die 1890er Jahre. Da aus diesem Zeitraum kein Mega-Tsunami aktenkundig war, resultierte dies in der mangelnden Hochwasserauslegung der Anlage Fukushima Daiichi. Auch viele andere Sicherheitsfeatures sind in deutschen KKW robuster ausgelegt als sie es in Fukushima Daiichi waren, so die doppelte und teilweise verbunkerte Notstromversorgung, Wasserstoffrekombination, gefilterte Druckentlastung und andere. Selbst wenn man eine Überflutung zugrunde legt, wäre die Unfallsequenz von Fukushima also mit anderen Maßnahmen, über die Fukushima nicht verfügte, blockiert gewesen. In Fukushima, so kann man bilanzieren, kam gerade nicht das „Restrisiko“ zum Tragen, sondern ein kriminell vernachlässigtes, relativ hohes Überflutungsrisiko, vor dem Experten auch gewarnt hatten, und dessen Missachtung zur Fehlauslegung der Anlage führte. Trotzdem führte der Unfall von Fukushima auch in den deutschen Anlagen zu Nachbesserungen, etwa mobilen Pumpen und Außenanschlüssen für die externe Versorgung der Nachkühlkette und mobilen Notstromdieseln.[31]
In der Fachliteratur wurde Fukushima daher auch, wie Tschernobyl, als „Dragon King“-Ereignis gewertet, also als Ereignis, das sich in Größe und Entstehungsweise von verwandten Ereignissen aus demselben System und ihrer Normalverteilung krass unterscheide, aber anders als die berüchtigten „Black Swans“ mit entwickelten Analysemethoden auch quantifizierbar sei.[32] Die S4F-Autoren entnehmen der zitierten Publikation die Aussage, solche schweren und kostenträchtigen Unfälle passierten „mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit alle 60 bis 120 Jahre“ (S. 27)[33], gehen dabei aber weiter als die Verfasser des zitierten Artikels. Diese nämlich betonten, dass auf eine Fortschreibung historischer Befunde referiert werde, aber angesichts eines sich wandelnden technischen Felds keine Prognose abzugeben sei und Maßnahmen der Industrie nach Fukushima noch nicht abgebildet worden seien. In der Zukunft, in der der Anteil neuerer und sicherheitstechnisch robusterer bzw. nachgerüsteter KKW zunimmt, könnte sich diese Rate ändern. Die Verfasser des Aufsatzes kontextualisierten zudem ihre Befunde mit weiteren Aussagen, nämlich der – abseits der Dragon-King-Ereignisse - historisch abnehmenden Störfallrate bei nuklearen Unfällen sowie den um Größenordnungen mehr Opfer und Kosten erzeugenden Formen von fossiler Stromerzeugung, vor allem der Kohlekraft. Dies wiederum lassen die S4F-Autoren unter den Tisch fallen; auch eine weitere Hauptstoßrichtung des Aufsatzes, die (berechtigte) Kritik an der Ungenauigkeit der INES-Skala für nukleare Störfälle und Unfälle, wird nicht weiter diskutiert.[34]
3.4 Extremwetter und Stromausfall
Des Weiteren erörtern die Autoren kritische Situationen für Kernkraftwerke bei Extremwetterlagen (S.30-31). Im Zentrum des Arguments steht hier die Anlagenzuverlässigkeit und Verfügbarkeit, mit Blick auf Stromausfälle aber auch die Reaktorsicherheit. Mit Blick auf die Verfügbarkeit unterlassen die Autoren den Hinweis, dass die Erneuerbaren Energien ebenfalls von solchen Ereignissen getroffen werden, mitunter härter als die Kernkraftwerke. Das ist insofern ein Doppelstandard, als die Hauptargumentationslinie des gesamten Papiers der Vergleich der Kernenergie mit einer Vollversorgung durch Erneuerbare Energien ist, die einem System mit Kernenergie vorgezogen wird. Die Autoren argumentieren, dieses System verspreche ein niedrigeres Gefährdungspotenzial und gleich gute Zuverlässigkeit. In einem solchen Falle müsste also auch die Vulnerabilität von nur-EE-Systemen durch Extremwetter analysiert werden.[35]
Dies aber unterbleibt. Die betrachteten Ereignisse werden ausschließlich auf Kernkraftwerke bezogen, obwohl in denselben Ereignissen auch die EE zum Teil massiv beeinträchtigt waren. So wurden in den Hitzeperioden der vergangenen Jahre in Frankreich einige wenige KKW mit Flusswasser-Direktkühlung, d.h. ohne dazwischengeschaltete Kühltürme, abgeschaltet, in Deutschland einzelne KKW gedrosselt, aber nicht abgeschaltet. Das dient vor allem der Schonung der Gewässerökologie in den zur Kühlung genutzten Flüssen. Kritiker der Kernenergie nahmen diese Ereignisse zum Anlass, die Zuverlässigkeit und die Reaktorsicherheit der Kernkraftwerke wegen fehlender Kühlung in Frage zu stellen, letzteres vor allem in Unkenntnis der sehr variablen Kühlprogramme von KKW mit Kühltürmen verschiedener Bauarten.[36]
Doch stellen Niedrigwasser und / oder zu hohe Flusswassertemperaturen allenfalls einen wirtschaftlichen Verlust dar, wenn die Anlage wegen Nichtverfügbarkeit genügender Mengen als Kühlwasser für die Turbinenkondensatoren abgefahren werden müsste. Ein solches Ereignis stellt aber keine Bedrohung der kerntechnischen Sicherheit dar. Die sicherheitsrelevante Nachkühlkette kann auch bei Abschaltung der Anlage ihre Systemfunktionen für die Nachwärmeabfuhr aufrechterhalten. Die Nebenkühlwassersysteme, welche die nuklearen Zwischenkühler versorgen, haben einen weit geringeren Durchsatz als die riesigen Kühlwasserpumpen und können auch bei den in Sicherheitsbetrachtungen angenommenen extremen Niedrigwasserständen und hohen Temperaturen fördern.[37]
Dasselbe gilt für die Zwischenkühlung von Notstromdieseln, weil das Ereignis „Notstromfall während Hitzeperiode“ unterstellt werden muss: auch hier werden die kritischen Kühlwassertemperaturen (Grenzwerte des Aggregateschutzes) nicht erreicht.[38] Im besonders betroffenen Frankreich wurden nach den Hitzewellen 2003 und 2006 Ertüchtigungsmaßnahmen der KKW vorgenommen, z.B. Erhöhung der Kapazität von Wärmetauschern.[39] Doch die S4F-Autoren betrachten weder diese vorliegenden Erkenntnisse, noch erwähnen sie, dass in Hitzeperioden auch die Windkraft (wegen Flaute-Wetterlage) sowie die Wasserkraft (bei gleichzeitiger Dürre) starke Einschränkungen erleiden kann. Zur selben Zeit, als beispielsweise im Juli und August 2019 über die Abschaltung des KKW Grohnde wegen zu warmer Wassertemperaturen in der Weser spekuliert wurde[40], lag die Windkraft-Leistung wegen Hitzeflaute tagelang nur noch bei einem Bruchteil ihrer Nennleistung, was besonders in den Abend- und Nachtstunden, wenn die Photovoltaik-Leistung wegfiel, zur Mehrproduktion von Braunkohlestrom führte.[41]
Ferner rekurriert S4F auf das Schneesturm-Ereignis in Texas im Februar 2021, als in einem Block des KKW South Texas Project (STP) wegen eingefrorener Drucksensoren die Speisewasserpumpen ausfielen, was wiederum eine Reaktorschnellabschaltung auslöste. Auch hier verschweigen die Autoren, dass die Erneuerbaren Energien im Texas-Ereignis wegen Vereisung und Schneebedeckung in ungleich größeren Schwierigkeiten waren: sie stellten ihre Stromproduktion weitgehend ein. Ähnlich erging es den nicht winterfesten texanischen Gaskraftwerken, von denen die Stromversorgung in Texas am meisten abhängig ist. Der Nachbarblock des vom Netz gegangenen Kernkraftwerks South Texas Project sowie die beiden Blöcke im texanischen KKW Comanche Peak arbeiteten derweil ohne Störung weiter, bildeten also de facto eine wichtige Rückfallposition. Als eine der Hauptursachen für den Blackout wurde die Isolation des texanischen Stromnetzes vom US-Verbund aufgrund neoliberaler Strommarkt-Kirchturmpolitik ausgemacht. Wir können also konstatieren, dass weder KKW noch EE ursächlich für den Systemzusammenbruch waren, sondern vor allem das Versagen der Gaskraft und die Besonderheiten der texanischen Infrastruktur.[42]
Als inkonsistent ist die Einlassung zu bewerten, der zufolge die KKW durch die Zunahme der Wahrscheinlichkeit von „langdauernden Blackouts“ besonders gefährdet seien, während ausgeblendet wird, dass in Deutschland vor allem der zunehmende Anteil variabler EE, welcher von den Autoren begrüßt wird, die Instabilität und somit auch die Anzahl von Regeleingriffen im Verbundnetz steigert, was wiederum eine mögliche Fehlerquelle darstellt (S. 31).[43] Oben wurde bereits ausgeführt, dass deutsche KKW aufgrund ihrer notstromtechnischen Robustheit[44] auch auf solche Situationen gut vorbereitet sind; darauf gehen die Autoren aber nicht weiter ein. Auf diese Weise wird auf diskursivem Wege aus einem Risiko, das von der Umstrukturierung des Systems hin zu höheren Anteilen variabler Einspeisung, d.h. von den EE ausgeht, ein Risiko der Kernenergie.
3.5 Small Modular Reactors
Unter Small Modular Reactors versteht man Leistungsreaktoren verschiedener Brennstoff- und Kühlmittelkonzepte mit einer elektrischen Leistung unter 300 MW. „Modular“ bezeichnet die Einsatzmöglichkeit solcher Kleinreaktoren in schlüsselfertigen Modulen, die einfach transportabel und zu Kernkraftwerken verschiedener Leistungsklassen kombinierbar sein sollen. Die Anlagen weisen bestimmte Sicherheitsfeatures auf, die in gängigen KKW mit großen, leistungsstarken Reaktorkernen nicht oder nur bedingt anwendbar sind. Dazu zählt etwa die Möglichkeit eines Leistungsbetriebs im Naturumlauf (d.h. ohne elektrisch betriebene Hauptkühlmittelpumpen) in kleinen Druckwasserreaktoren oder die Nutzung von Flüssigsalzbrennstoffen, die keiner Kernschmelze unterliegen können und in Notfallsituationen durch Ablassen in einen Tank gesichert und unterkritisch gehalten werden können.
Der S4F-Bericht lehnt jedoch auch diese Anlagen mit Reaktorsicherheitsargumenten ab (S. 33-35). Dabei stützt er sich auf eine einzige Quelle, ein Gutachten des Öko-Instituts im Auftrag des BMU, das wiederum, wie oben gezeigt, ausweislich eigener Strategiepapiere mit dieser Form kerntechnischer Kompetenz vor allem eine Mission zur Verhinderung von neuen Kernkraftwerken dieses Typs erfüllen will.[45] Außer dieser kernenergiekritischen Quelle gibt es keine Lektüre, mit der die Autoren (von denen zwei wiederum Autoren der zitierten Studie sind) sich auseinandergesetzt haben.
Einige Einwände erscheinen bemüht, so die Behauptung, es gebe in der Kerntechnik nur begrenzte „Erfahrungen mit dem Betrieb passiver Systeme“ (S. 34). Dies trifft nicht einmal auf die großen KKW zu, wo regulär passive Systeme genutzt werden (z.B. Turbo-Notkühlpumpen in Siedewasserreaktoren, die mit Dampf aus dem Reaktor betrieben werden; Druckspeicher in Notkühlsystemen, die Reaktorschnellabschaltung, oder eigenmediumgesteuerte Sicherheitsventile). Auch sind bestimmte Sicherheitsfeatures der SMR, z.B. Nachwärmeabfuhr über Dampferzeuger im Wasser-Wasser-Naturumlauf im VVER-440 schon seit den 1980er Jahren und in den neuen VVER-1200 implementiert.[46] Überdies erscheinen Bedenken ungerechtfertigt, bei Small Modular Reactors könnten „Gefahren nicht umfassend und belastbar“ abgeschätzt werden und es fehlten PSA, um Ungewissheiten zu beseitigen, da in der frühen Entwicklungsphase solcher Anlagen derartige Studien noch gar nicht vorliegen können (S. 33).
3.6 Fehler und Ungenauigkeiten
Es gibt es in dem Text auch eine Reihe von sachlichen und fachlichen Fehlern und Ungenauigkeiten, die anzeigen, dass die Autoren ihr Material nicht in der gebotenen Umfänglichkeit beherrschten und die hauseigenen Peer Reviewer der S4F-Autoren nicht sorgfältig genug gelesen haben, um Fehler zu entdecken. Gleichwohl werden diese Ungenauigkeiten und Fehleinschätzungen mit apodiktischen, pauschalen Aussagen verknüpft, was streckenweise einen eher aktivistischen als wissenschaftlichen Eindruck hinterlässt.
1) So sind Laufzeitverlängerungen kein Sicherheitsrisiko an sich, wie es die Autoren mit Hinweis auf Alterungsprozesse suggerieren (S. 26) – sie führen im Gegenteil zu umfassenden Nachrüstungen und zum Austausch alter Komponenten. Es muss im Zuge einer Laufzeitverlängerung natürlich nachgewiesen werden, dass die Anlage die Regularien einhalten kann – kann sie es nicht, gibt es auch keine Laufzeitverlängerung; auch solche Fälle wird es in Zukunft geben. In einem KKW ist prinzipiell alles austauschbar außer dem Reaktorsicherheitsbehälter und dem Reaktordruckbehälter, d.h. die Integrität dieser beiden Großkomponenten bildet eine Muss-Anforderung, die darüber entscheidet, ob eine Laufzeitverlängerung genehmigungsfähig ist.
2) Im Falle der versehentlichen Beschädigung des Containments im KKW Leibstadt bei Handwerksarbeiten für Feuerlöscher-Halterungen kommen die Autoren ohne Beleg zur entgegengesetzten Schlussfolgerung der Schweizer Atomaufsicht ENSI über die Sicherheitsrelevanz des Falls (S. 29).
3) Bei einem Notstromfall im KKW, der zum Anlaufen der Notstromdiesel führt, müssen keinesfalls die summarisch bis zu 20 Megawatt Leistung aufnehmenden Hauptkühlmittelpumpen mit Strom versorgt werden, um den Reaktor zu kühlen – sie würden tatsächlich viel zu viel Strom fressen. Daher werden im Notstromfall – anders als beim Lastabwurf auf Eigenbedarf, mit dem der Fall offensichtlich verwechselt wurde – die großen betrieblichen Verbraucher (im Druckwasserreaktor: Hauptkühlmittelpumpen, Speisewasserpumpen, Kühlwasserpumpen) abgeworfen. Für die Kühlung sorgen dann die Nach-, Zwischen- und Nebenkühlpumpen der Nachkühlkette, deren elektrische Verbraucher aber weit weniger Strom verbrauchen und von Dieseln versorgt werden können (S. 31).
4) Die Behauptung, die Ausstattung des EPR mit einem Core Catcher, was immerhin bedeutet, dass die Folgen eines Kernschmelzunfalls auf die Anlage beschränkt bleiben, hätte „lediglich zu begrenzten Verbesserungen“ geführt, „die grundlegenden Probleme der Reaktorsicherheit“ blieben „auch bei Generation III bestehen“ (S. 33), ist nicht nachvollziehbar, da keine Argumente genannt werden, auf welche Weise es trotz Core Catcher zu einer Freisetzung kommen könne.
5) Brennelemente in Nasslagern (Abklingbecken) sind nicht notwendigerweise ungeschützter als in Castor-Behältern; in den deutschen und osteuropäischen KKW befinden sie sich innerhalb des Containments, in anderen Anlagentypen in verbunkerten Brennstoffgebäuden. Das Szenario des Brandes im Abklingbecken scheint aus einem atomkritischen Sachbuch zu stammen und wird nicht begründet. (S. 22, 37)
6) Die Abschnitte über Radioaktivtransporte und Endlagerung (38-41) wirken streckenweise, als seien sie aus Bürgerinitiativliteratur abgeschrieben, mit schwammigen, aber umso furchteinflößenderen Begriffen ohne Quantifizierung wie „große“ Gefahr oder „hohes“ Unfallpotenzial, „weite Streuung der Gefährdung“, „einer der giftigsten Stoffe“ und gegenstandslosen Mutmaßungen über falsche Anwendung von probabilistischen Methoden.[47]
7) Schließlich ist die Behauptung anfechtbar, es habe noch nie einen Rückbau „klassischer KKW“ gegeben (S.53), weil diese Zuschreibung willkürlich erst bei Anlagen ab einer Leistung von 1 GW definiert wird. Doch vor Errichtung der Anlage Biblis gab es natürlich auch Leistungskernkraftwerke geringerer Leistung, in Deutschland z.B. Stade, Würgassen oder Obrigheim, die man als Großkernkraftwerke bezeichnen kann und in denen sich die Rückbauanforderungen nicht wesentlich von denen der größeren Anlagen unterscheiden. In Stade ist der nukleare Rückbau 2025 abgeschlossen, in Würgassen ist er bereits beendet und die Gebäudefreigabe erfolgt.[48]
3.7 Zwischenfazit "Gefahrenpotenziale"
Die Betonung der Gefahrenpotenziale von Kernkraftwerken, auch von SMRs, beruht in Teilen auf selektiver Quellenauswahl und auch auf Strohmann-Argumentationen, die wiederum auf falsch verstandenen oder bewusst falsch interpretierten Funktionen von probabilistischen Sicherheitsanalysen für die Gewährleistung der kerntechnischen Sicherheit beruhen. Komplementäre Sicherheitsrepertoires werden unzureichend berücksichtigt. Eine Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Forschungsstand zu Risikoanalysen, komplexen technischen Systemen, Resilienz fehlt weitgehend. Lediglich „Normal Accidents“ von Charles Perrow wird mehrmals zitiert – wie D’haeseleer kritisch anmerkt, das einzige Werk über technische Risiken, das von den „soft sciences“ rezipiert worden sei, während die technische Fachliteratur, die eine andere Risikowahrnehmung habe, größtenteils links liegen bliebe.[49] Ergänzt wird diese Auswahl durch Publikationen größtenteils atomkritischer Autoren, von denen mehrere wiederum zur Gutachtergruppe der S4F gehören. Hinzu treten mehrere fehlerhafte Darstellungen, die vermuten lassen, dass das Papier von kerntechnischen Fachleuten gar nicht oder nur oberflächlich geprüft wurde.
Die Evidenz zu sicherheitskritischen Ereignissen erscheint willkürlich gewählt. Differenzierungen zwischen Anlagen, die insbesondere im Fall der deutschen Anlagen gegen eine Übertragbarkeit des Unfallgeschehens von Fukushima sprechen würden, werden nicht vorgenommen. Statistische Evidenz zur Ermittlung der Opferzahlen von Energieanlagen im Vergleich, welche die Kernenergie gleichauf mit Wind- und Solarkraft einordnet, wird ohne nähere Begründung verworfen. Bei der Bewertung von Risiken durch Extremwetter wird ein Doppelstandard angewendet, welcher großflächige Ausfallrisiken von EE-Anlagen ausblendet.
Selbst für Leser mit gewisser Fachkunde ist schwer durchschaubar, ob die Autoren diese Vorgehensweise aufgrund mangelnder Materialbeherrschung oder absichtsvoll verfolgen; in jedem Falle aber erzielen sie damit den Eindruck, die Unfall- und Gesundheitsrisiken der Kernkraftwerke seien unzumutbar hoch. Verstärkt und visuell unterstrichen wird dieser Eindruck durch einen Abschnitt mit exemplarischen Karten über die Verbreitung von radioaktiven Schadstoffen bei einem „hypothetischen Unfall“ mit Versagen des Reaktorsicherheitsbehälters im KKW Neckarwestheim.
4. "Wirtschaftlichkeit"
Die Berechnung der Kosten von Kernkraftwerken ist wegen der in den unterschiedlichen Studien angesetzten unterschiedlichen Kategorisierungen und Metriken anspruchsvoll, insbesondere, wenn man Kernkraftwerke untereinander oder Kernkraftwerke mit anderen Stromerzeugern vergleichen will. Das betrifft insbesondere die Vergleichbarkeit von Systemkosten (z.B. Netzausbau und Speicher) und externen Kosten (zB. Unfall, Emissionen, CO2-Ausstoß), die in verschiedenen Studien unterschiedlich kategorisiert werden und stark divergieren. So sind etwa Endlagerkosten bei der Kernenergie in manchen Studien unter externen Kosten, in anderen Studien unter Brennstoffkreislaufkosten subsumiert. So kommen sehr große Streubreiten der Angaben über Stromgestehungspreise und externe Kosten oder gar „verdeckte Subventionen“ zustande.[50]
Daher gibt es in Metastudien, wie zum Beispiel bei der Internationalen Energieagentur, Übersichten mit Daten aus vielen Studien, in denen transparent gemacht wird, welche die oberen und unteren Extremwerte sind und wo der Median liegt, d.h. jener Wert, unter bzw über dem 50% der Datenpunkte liegen.[51] Auf diese Weise vermeidet man, dass Ausreißer nach oben oder unten als repräsentativ gewertet werden. Genau das macht aber das S4F-Papier: es stützt sich vor allem auf Quellen, welche sich auf die schlechte Performance von Extremfällen konzentrieren, die für Kernenergie günstigen Befunde unterschlagen oder sich auf Metriken beschränken, bei denen KKW gegenüber EE vordergründig schlecht abschneiden.
4.1 Konzentration auf Outlier
Das Argument der Unwirtschaftlichkeit stützt sich vor allem auf eigene Publikationen der beteiligten Autoren aus dem Fachgebiet der Wirtschaftswissenschaften sowie auf den World Nuclear Industry Status Report (WNISR). Dieser wird von einem industriekritischen Fachinformationsdienst herausgegeben. Der WNISR ist wegen seines Detailreichtums, seiner Länderberichte und seiner exzellenten Informiertheit eine in Fachkreisen respektierte, aber keine unparteiische Quelle. So interpretiert der WNISR die langen Revisionszeiten der französischen KKW in der Corona-Krise 2020 als düstere Bilanz über die „Nichtverfügbarkeit“ von KKW, als ob es sonst keine Industriestillstände in der Coronakrise gegeben hätte. Dem wird die frohe Botschaft von der Pandemie-Festigkeit der wartungsarmen EE gegenübergestellt, deren inhärente Nichtverfügbarkeiten wegen Nichtverfügbarkeit von Wind und Sonne nicht weiter thematisiert werden.[52]
Dieses Framing von objektiven Befunden zu deplorablen Botschaften über die Atomindustrie durch Dekontextualisierung oder isolierte Betrachtung kennzeichnet weite Strecken des S4F-Papiers. Aus dem WNISR entnehmen die Autoren die Informationen über besonders extreme Kostenexplosionen bei KKW-Projekten wie Flamanville und Olkiluoto. Die beiden KKW mit dem „Europäischen Druckwasserreaktor“ EPR wurden tatsächlich von erheblichen Bauverzögerungen heimgesucht, was viele Gründe hat: fehlende Bauroutine und Fertigungsfehler bei first-of-its-kind-Anlagen, die auch mit einem Know-how-Abriss zwischen den 1980er und den 2000er Jahren einhergingen; Baubeginne vor Abschluss der Planungsphase; geänderte Mindestanforderungen und Normen durch die Regulierungsbehörde während des Baus. Doch Befunde über Kernkraftwerksbauten in Vergangenheit und Gegenwart, die mit Serialisierung, Standardisierung und stringenter Planung zum Erfolg kamen, finden im S4F-Papier keine Erwähnung, obwohl es sonst gerne auf historische Befunde rekurriert. Dazu zählen etwa die im Zeit- und Kostenplan gebliebenen deutschen KWU-Druckwasserreaktoren, die nie Subventionen erhielten und bis heute als Benchmark der Reaktorsicherheit gelten, oder die Generation3+-Anlagen russischer oder koreanischer Hersteller, sowie die im Zeitrahmen gebliebenen EPR-Blöcke in China.[53] So entsteht der Eindruck, die geschilderten Probleme seien inhärente Eigenschaften aller Kernkraftwerksprojekte.
4.2 One installation fallacy
Doch auch ohne die Konzentration auf Extremwerte und Ausreißer steht der prinzipielle Ansatz der S4F in deutlichem Gegensatz zu Studien, in denen Kernenergie-EE-Mixsysteme mit Nur-Erneuerbaren Systemen verglichen werden.[54] Während letztere zu dem Resultat kommen, dass komplementäre Systeme im Endeffekt günstiger und schneller dekarbonisieren, verwerfen die S4F jene Studien, die Kernenergie enthalten, als intransparent, unrealistisch und in ihren Projektionen zu optimistisch. Sie begründen das mit den Erfahrungen der Vergangenheit, z.B. über nicht erfüllte Erwartungen an die Kostendegression. (S. 56-62).
Es wird gleichzeitig aber optimistisch von einer Fortschreibung der seit 2000 zu beobachtenden Kostendegression und Expansion der EE ausgegangen, ohne Signale über Rohstoff-Preissteigerungen, Engpässe und globale Verteilungskämpfe um EE-Rohstoffe aufzunehmen. Auch die ökologischen Kollateralfolgen (und somit Kosten) der EE-Rohstoffwirtschaft, insbesondere der Materialbedarf, der Flächenbedarf und die Masseströme, welche extensive, wenig leistungsdichte Energietechnologien bei steigendem Strombedarf zwangsläufig erzeugen, werden nicht thematisiert. Befürchtungen über strukturelle Probleme und potenzielle Kostentreiber (Fachkräftemangel, Planungshemmnisse, Cybersicherheit des neuen EE-Systems, schiere Überforderung der Gesellschaft mit der Kraftanstrengung eines Systemwechsels in kurzer Zeit) werden nicht berücksichtigt.[55]
Ausgehend von diesen optimistischen Annahmen über gänzlich unproblematische EE werden Machbarkeitsstudien über eine EE-Vollversorgung, darunter auch von den Autoren und ihren Mitarbeitern selbst verfasste Studien, ausführlich und affirmativ zitiert. Man setzt überdies im Feld der EE stark auf Zukunftsentwicklungen, die man aber im Feld der Kernenergie als zu optimistisch ablehnt. Das betrifft Effizienzgewinne, ohne Rebound-Effekte einzukalkulieren, sowie den Verweis auf eine zukünftige Kreislaufwirtschaft. Doch diese Effizienzgewinne sind teilweise nur Rechenkonventionen[56] geschuldet, teilweise dürften sie angesichts rapide steigenden Strombedarfs aufgefressen werden[57], und auch die Kreislaufwirtschaft ist noch fern von der Realisierung.
Es steht außer Frage, dass Windparks oder Photovoltaik-Farmen in den Errichtungs-, Betriebs- und Kapitalkosten weit günstiger sind als Kernkraftwerke; auch sind sie weit schneller gebaut. Doch erliegen die Autoren im Systemvergleich einer Verwechslung von Kosten einzelner EE-Anlagen und KKW mit den Kosten eines NetZero-Stromsystems – eine Art one installation fallacy. So benötigen intermittierend einspeisende EE heute in der Regel noch fossiles Backup, wenn es keine Kernkraft sein darf und man Speicher noch nicht im nennenswerten Umfang besitzt. Die Kosten der Backup-Kraftwerke und Speicher müssten streng genommen also den EE zugeschrieben werden. S4F (S. 48-49) argumentieren aber vor allem mit den betriebswirtschaftlichen Stromgestehungskosten (LCOE, in denen Bau-, Kapital-, Betriebs-, Brennstoffkosten enthalten sind) als Metrik. Hier bezieht sich S4F auf eine Quelle (Lazard 2020, vgl. S. 52), die diese Kosten für KKW besonders hoch einschätzt, während die Übersichten anderer Autoren darunter bleiben. Grundsätzlich fällt der Stromgestehungspreis für Kernenergie stets höher aus als jener für EE, weil die Kapitalkosten weit höher sind und weil bei EE keine Brennstoffkosten anfallen; auf der anderen Seite fallen aber bei den variablen EE die genannten Speicher-, Netzausbau- und Förderkosten ins Gewicht, welche in ihrem LCOE nicht abgebildet werden.[58]
Bei den Kosten der KKW für Rückbau und Endlagerung, die mit gesetzlich vorgeschriebenen Rückstellungen[59] aus den Stromerlösen bezahlt werden, bringt der Bericht Endlagerkosten für die USA und Deutschland im niedrigen zweistelligen Milliardenbereich, verschweigt aber die Kostenangaben für das bereits im Bau befindliche Endlager Onkalo (2,6 Mrd. EUR[60]). Bei den Systemkosten der EE wird der Bericht wortkarg. Die Autoren nennen keine konkreten Speicherkosten, obwohl diese etwa für Batteriespeicher und Power to Gas verfügbar sind, mit ernüchternden Befunden für die Kosten von Speicherbedarfen, selbst unter der Maßgabe von Kostendegression.[61] Stattdessen beklagen sie, dass Speicherkosten in der, wie sie meinen, kernenergie-affirmativen Literatur (S. 59) zu hoch angesetzt seien, weil die Literatur veraltet sei.[62] Indes führen sie eine Publikation ihres Mitautors Hennicke von 2010[63] an, die ebenfalls veraltet ist. Sie diente vor allem der Kritik der damaligen Laufzeitverlängerung von KKW und hoffte auf „norwegische Pumpspeicher“, welche die deutschen Windkraft-Überschüsse puffern sollten. Seit dieser Publikation hat sich an den verfügbaren rund 1400 MW norwegischer Pumpspeicherleistung nichts geändert, das letzte PSW ging 2005 in Betrieb, und die Norweger machen keine Anstalten, ihre Landschaften durch Pumpspeicher-Neubau der deutschen Energiewende dienlich zu machen.[64] Auch ist die damalige Prognose Hennickes, dass der Strombedarf 2050 derselbe sei wie heute, etwas über 500 TWh, längst überholt; heute geht man vom doppelten bis dreifachen Strombedarf aus.[65]
4.3 Eindrucksvolle Zahlen: die Versicherungsproblematik
Das S4F-Papier lässt sich streckenweise zur Betonung furchterregender, aber hypothetischer Zahlen hinreißen, ähnlich wie bei der Konzentration auf überteuerte KKW-Projekte. So kommt eine „Leipziger Versicherungsstudie“[66] zur Zitation, die vom Erneuerbare-Energien-Bundesverband in Auftrag gegeben wurde und zu exorbitanten Haftpflicht-Versicherungsprämien gelangt, indem sie Extremwerte maximal denkbarer Schäden und hunderttausender Krebsopfer, für die Entschädigung gezahlt werden müsste, mit willkürlich festgelegten hohen Unfall-Eintrittswahrscheinlichkeiten wegen Terroranschlägen kombiniert. Weder die Erfahrungswerte über Atomunfälle noch jene über versuchte, aber nicht erfolgreiche Anschläge geben aber diese Annahmen her. Tschernobyl forderte laut UNSCEAR 6000 (heilbare) Schilddrüsenkrebsfälle und keine feststellbaren Krebsfälle darüber hinaus; in Fukushima werden gar keine Krebsfälle erwartet; erfolgreiche Terroranschläge auf KKW gab es in den ca. 18.000 Reaktorbetriebsjahren weltweit nicht, wohl aber Sabotagefälle mit hohem ökonomischem Schaden innerhalb der Anlage, allerdings ohne nukleares Sicherheitsrisiko.[67]
Trotzdem setzt die Leipziger Studie für ihre Berechnungen die Freisetzungshäufigkeit kurzerhand um drei bis vier Größenordnungen hoch (von einer Kernschadenshäufigkeit bei deutschen Reaktoren zwischen 2·10-7 bis 5,3·10-6 pro Reaktorbetriebsjahr[68] auf 10-3/ra wegen Terroranschlägen). Wenn dann auch noch eine minimale Bereitstellungszeit der maximalen Entschädigungssumme von über 5 Billionen (!) Euro binnen 10 Jahren angesetzt wird, erhalten wir astronomische 67 Euro pro Kilowattstunde „wirklicher“ AKW-Versicherungskosten.[69] Andere Quellen als diese finden wir in den Überlegungen der S4F nicht; die Autoren behaupten, dies „ergebe sich logisch als Ergebnis der technisch nicht beherrschbaren Risiken“, was allerdings ein Werturteil der Autoren auf Grundlage teilweise nicht verstandener oder nicht beachteter Sicherheitsrepertoires darstellt (vgl. Abschnitt 3). Auch verkennt dieser Ansatz, dass die Nuklearindustrie durchaus nicht die einzige Industrie ist, die nicht für alle ausdenkbaren Unfallextreme versichert ist.[70] Vergleichen wir die angesetzten hypothetischen Kosten mit einer Aufstellung realer Fukushima-Unfallkosten aus einer anderen Quelle (270 bis 617 Milliarden Euro über 40 Jahre) und mit Tschernobyl, das mit schätzungsweise 340 Milliarden US-Dollar zu Buche schlug, so erkennt man, dass diese Werte weit entfernt von den Extremwerten des Versicherungsforums Leipzig sind.
Die Autoren machen auf Grundlage der Maximalannahmen die apodiktische Aussage, KKW seien am Markt „nicht versicherbar und Schäden daher immer sozialisiert“ (S.2). Das ist unzutreffend, da der größte denkbare Unfall nur eine winzige Teilmenge aller möglichen Unfälle unterschiedlicher Schadensklassen darstellt, deren Mehrzahl sehr wohl von den KKW-Versicherungen gedeckt wird. Auch haben wir am Beispiel der PSA gesehen, dass pauschale Aussagen über die Unfallsicherheit aller Anlagen gar nicht möglich sind. Die Übertragbarkeit von Fukushima auf deutsche KKW ist beispielsweise aus der Fachliteratur nicht belegbar (s.o. Abschnitt 3). Dass und wie deutsche KKW tatsächlich versichert sind, wird nicht diskutiert (nämlich mit 2 Mrd. EUR im deutschen Atompool sowie unbegrenzter Betreiberhaftung), weitere Literatur nicht angeführt, Diskussionen über Lösungen mit globalen Versicherungspools nicht referiert. Auch Kontextualisierungen mit ähnlich gelagerten Fällen in anderen Industrien, etwa den externen Kosten der Kohleverstromung, unterbleiben.[71]
4.4 Kosten-Bias
In Vergleichen zwischen EE und Kernenergie betonen die Autoren an mehreren Stellen, dass die Kernenergie nie wirtschaftlich gewesen sei und nur dank staatlicher Privilegierung und Subventionierung überhaupt ökonomisch bestehen könne (z.B. S. 2, 44, 49-50).[72] Was auffällt, ist jedoch der gleichzeitige Verzicht auf eine Benennung von staatlicher Privilegierung und Förderung der EE als Kostenfaktor. Diese wird nur kurz gestreift und als legitimes Mittel gegen „Investitions- und Innovationsblockaden auf dem Strommarkt“ bezeichnet (S. 75), während es bei der Kernenergie umgekehrt ist – hier wird dieselbe Förderpraxis als Innovationsblockade kritisiert.
Bekanntlich genießen EE in Deutschland einen gesetzlich garantierten Einspeisevorrang; die EE-Förderung in Deutschland kostet Stromkunden und Steuerzahler laut Bundesrechnungshof pro Jahr inzwischen über 30 Milliarden Euro, bis 2025 wird mit 520 Milliarden aufgelaufener Kosten gerechnet.[73] Zum Vergleich: die Baukosten des britischen KKW Hinkley Point C mit zwei Blöcken werden von den S4F (S. 51) mit 27 Milliarden US-Dollar (2018) angegeben, das sind ca. 23 Milliarden Euro. Man könnte also von den deutschen EE-Fördersummen jedes Jahr zwei überteuerte 1600-MW-Reaktoranlagen bauen und als Dreingabe sogar noch jedes Jahr ein finnisches Endlager (Kosten Onkalo 2,6 Milliarden Euro[74]). Dies wird in der Klage der Autoren, dass Kernkraftwerke „spezifischer Unterstützung bedürfen, um gebaut und betrieben zu werden“, unter anderem mit Privilegien wie „Gebietsmonopolen und Abnahmegarantien“ (S. 65) nicht berücksichtigt. Angesichts der Affirmation fester Einspeisegarantien für EE durch die Autoren des Papiers wirkt es widersprüchlich.[75] Wiederum verschwiegen wird, dass die kommerzielle Stromerzeugung aus deutschen KKW nie eine Form von Förderung durch Strompreisumlagen und auch keine Subventionierung erhielt, von staatlichen Forschungsausgaben für die Reaktorsicherheit abgesehen.[76]
Auch eine weitere Kontextualisierung fehlt bei der Kostenbetrachtung: Da KKW wegen ihrer langen Laufzeiten (heute erreicht > 40 Jahre, Neuanlagen 60 Jahre, Schätzungen bis 80 Jahre) mehrere Generationen von Windparks und PV-Farmen (25 Jahre, optimistische Schätzungen 40 Jahre) überleben, die in dieser Zeit neu gebaut werden müssten, schrumpft auch der Kostenvorteil der EE über lange Zeiträume betrachtet. Die S4F-Autoren verwenden jedoch nur Belege, welche ihre eigenen optimistischen Projektionen über die Lebensdauern von PV-Anlagen, aber pessimistische über jene von KKW bestätigen. Eine Erörterung der Rolle von Verfügbarkeit bzw. gesicherter Leistung und der sich daraus ableitenden Speicherproblematik der EE, deren Technologien ebenfalls auf ihre Lebensdauern und folglich Mehrkosten hin befragt werden müssten, fehlt.[77] Auch Finanzierungsmodelle, welche die Kapitalkosten von KKW als Hauptkostentreiber senken, so das sogenannte Regulated Asset Base-Modell, wo bereits bei Bau- und nicht erst bei Betriebsbeginn Gewinne an die Kapitalgeber ausgeschüttet werden können, werden nicht diskutiert.[78] Insgesamt ergibt sich so ein erheblich zu Ungunsten der Kernenergie verzerrtes Bild.
4.5 Zwischenfazit "Wirtschaftlichkeit"
Den Annahmen der Autoren über ein kostengünstiges EE-System, das Systemen mit Kernenergie überlegen sei, liegt eine angreifbare Schlussfolgerungs-Operation von Bauzeit und Kosten klimafreundlicher Einzelanlagen auf Bauzeit und Kosten von Net-Zero-Energiesystemen zugrunde. Dieser Trugschluss entsteht durch die selektive Zitation von Forschungsliteratur und Studien, welche für die EE günstige und für die KE ungünstige Annahmen in Zukunftsszenarien machen bzw. entsprechende Evidenz präsentieren, ferner durch das Fortlassen von weniger günstigen Befunden über System- und Förderkosten der EE. Stützende Verfahren (Privilegien, Einspeisevergütungen) werden im Falle der EE affirmiert, im Falle der Kernenergie delegitimiert, obwohl man sie im Lichte einer reinen Klimaschutz-Fragestellung für alle CO2-armen Stromerzeuger gleich bewerten könnte. Ungeklärte Probleme und mögliche Kostenfaktoren, die mit der vergleichsweise niedrigen Arbeitsverfügbarkeit intermittierender EE und der Speicherung von EE-Strom zusammenhängen, werden unzureichend beleuchtet, während gleichgelagerte Ungewissheiten im Falle der Kernenergie, etwa Entsorgungskosten, betont werden. Im Resultat erscheint der Weg in eine EE-Vollversorgung als unproblematischer und günstiger Pfad, die Kernenergie als Investitionsfalle.
5. "Zeitliche Verfügbarkeit"
5.1 Bauzeiten
Unter „Zeitliche Verfügbarkeit“ verstehen die Autoren nicht die Zeitverfügbarkeit von Kraftwerken, sondern die Frage der schnellen Verfügbarkeit neuer KKW in der für das Klimaziel bedeutenden nächsten Zukunft bis ca. 2030. Die Autoren konstatieren wie im Abschnitt über die Wirtschaftlichkeit auf der Grundlage selektiv betrachteter Forschungsstände und mit einer Konzentration des Blicks auf Bauzeiten-Outlier, dass neue KKW nicht mehr ins Klimaschutzgeschehen eingreifen könnten. Andere Befunde mit kürzeren Bauzeiten werden ignoriert.[79]
Angesichts des gegenwärtigen Mangels an Speichertechnologien im Industriemaßstab und des auch in den deutschen Energiewendestudien prognostizierten Langzeit-Backups mit Erdgas[80] wird jedoch die Zeit bis zur Erreichung der Klimaneutralität von EE-Systemen voraussichtlich noch Jahrzehnte dauern. Unter solchen Umständen erscheint es unplausibel, zu behaupten, ein nur-EE-System sei schneller bei der Dekarbonisierung und KKW-Neubauten viel „zu langsam“, um noch vor 2035 ein Klimaziel zu erreichen. Studien über komplementäre Systeme aus KKW und EE (z.B. OECD/NEA 2019) finden keine Berücksichtigung.
Überdies lehren uns historische Beispiele, dass mit Kernenergie-Bauprogrammen binnen zweier Jahrzehnte Jahre erstaunliche Dekarbonisierungseffekte erreicht werden konnten.[81] Das Ergebnis können wir jeden Tag beim Vergleich von Frankreichs und Deutschlands CO2-Bilanz bei der Stromproduktion beobachten: Frankreichs Treibhausgasausstoß in diesem Sektor beträgt im Jahresdurchschnitt nur ein Sechstel der Emissionen von Deutschland, das seit 20 Jahren seine Erneuerbaren Energien mit speziellen Förderprogrammen aufbaut und derzeit bei einem jahresdurchschnittlichen Anteil von 50% EE-Strom angelangt ist.[82]
5.2 Zwischenfazit "Zeitliche Verfügbarkeit"
Auch im Abschnitt über die zeitliche Verfügbarkeit ist ein deutlicher Bias zu Ungunsten der Kernenergie zu beobachten, der wiederum durch die one installation fallacy erzeugt wird, hier als Verwechslung von Anlagenbauzeiten der Einzelanlagen mit der weit längeren Errichtungszeit eines NetZero-Systems. Mit Blick auf Deutschland und das gleichzeitige Plädoyer der S4F-Autoren für einen raschen Atomausstieg ist das Argument überdies inkonsistent. Der Atomausstieg bringt Deutschland gleich zu Beginn des von der Autorengruppe identifizierten „entscheidenden Zeitraums“ einen Verlust von jährlich 60 Terawattstunden klimafreundlicher und gesicherter Stromproduktion, die voraussichtlich durch die weiterlaufenden Kohle- und neu zu errichtende Gaskraftwerke ersetzt werden wird. Der Mehrausstoß durch diese Operation wird auf bis zu 60 Mt/a CO2 geschätzt.[83] Dies aber bedeutet eine Verlangsamung, keine Beschleunigung bei der Dekarbonisierung.
6. "Kernkraft in der sozial-ökologischen Transformation"
6.1 Das Blockade-Argument
Ein prinzipielles Problem der Herangehensweise der S4F-Studie ist, dass die vorgegebene Themenstellung - die Bewertung der Kernenergie als Klimaschutztechnik – streckenweise hinter andere und den Autoren eigentlich wichtigere Vorhaben zurücktritt: nämlich die Beweisführung, die Kernenergienutzung passe nicht zu einer von den Autoren gewünschten Form der Gesellschaftsentwicklung. Dieses Argument gründet sich auf mehrere Unterargumente:
a) die durch rückschauende, aber ahistorische Konstatierung einer „Innovationsblockade“ durch die Kernenergie (S. 75). Es suggeriert aus der Perspektive des im Nachhinein Klügeren, die im Zeitraum 1974-2019 international für Kernenergie investierten Forschungsgelder und Subventionen seien „Innovationsblockaden“ und „Fehlallokationen“, welche die Entwicklung der EE behindert hätten. Als Beleg für dieses Argument gilt der durch das EEG bewerkstelligte Kick-Off für PV und Wind in Deutschland, der sodann auf die Zeit bis in die 1970er zurückprojiziert wird – in Verkennung der Tatsache, dass damals einige Grundvoraussetzungen für EE-Technologien im Großmaßstab auf dem Gebiet der Halbleitertechnik, der Leistungselektronik, der Werkstofftechnik und der Batteriespeichertechnik noch nicht zur Verfügung standen. (S.75).
So konstruiert man auf Umwegen das Gegenteil des empirischen Befundes, nämlich die Behauptung, Kernenergie sei in Wirklichkeit klimaschädlich, da sie den Ausbau der EE verhindere und verzögere. Auch diese Auffassung beruht auf einem Werturteil, da man mit derselben Berechtigung behaupten könnte, die EE seien kein Beitrag zum Klimaschutz, da sie privilegiert würden und daher den Ausbau der Kernenergie behinderten; die CO2-Bilanz einzelner EE, die höher ist als jene der Kernenergie, würde für eine solche Argumentation sprechen.
b) die Konstatierung der Blockade wünschenswerter gesellschaftlicher Entwicklungen durch Energiesysteme, die dazu nicht passten, was ein Werturteil darstellt, aber keine wissenschaftlich valide Begründung, warum die Kernenergie nicht als Beitrag zum Klimaschutz gelten könne, sowie
c) die behauptete technische Blockade eines von variablen EE dominierten Stromnetzes durch die „unflexible“ Kernenergie. Diese technische Begründung des S4F-Papiers besagt, KKW passten nicht zu EE, da sie aus ökonomischen Gründen nicht im Lastfolgebetrieb eingesetzt würden und daher die Entfaltung der EE im Stromnetz behinderten (S. 48). Diese Aussage ist insbesondere mit Bezug auf Deutschland unzutreffend, wie Fachliteratur und Empirie zur Lastfolge in KKW belegen. Diese Fachliteratur ignorieren die Autoren und zitieren lediglich eine einzelne – kritische – Publikation des Bundesamtes für Technikfolgen-Abschätzung. In Wirklichkeit waren deutsche KWU-KKW schon in der Planung als lastwechselfähige Anlagen konzipiert worden, weil die damaligen EVU diese Anforderung in die Ausschreibungs-Lastenhefte setzten. In Frankreich, wo man die KKW für ein nuklear dominiertes Stromsystem vorgesehen hatte, gehörte Lastwechsel ebenfalls zum Auslegungsprinzip.
Vor 2000 wurden die deutschen KKW aber wegen ihrer günstigen Brennstoffkosten vor allem in Grundlast eingesetzt. Das änderte sich mit dem Aufkommen der Erneuerbaren. Heute stabilisieren KKW mit CO2-armer Regelleistung und einer digitalisierten, auf die Lastfolge zugeschnittenen Reaktorleistungsregelung das Netz, unterstützen und ermöglichen also die variable EE-Einspeisung, und verdienen damit auch mehr Geld, weil Regelleistung besser vergütet wird. In der Regel erfolgt dies im Leistungsbereich zwischen 1000 und 1400 MW mit Gradienten von bis zu 30 MW/min in Primär- und Sekundärregelung, d.h. für die Absicherung kurzfristiger Netzdynamiken im Sekunden- und Minutenbereich. Dank eines regeltechnischen Grundprinzips der KWU-Anlagen, der Fahrweise mit konstanter mittlerer Kühlmitteltemperatur (KMT-Regelung), tun sie das auch sehr komponentenschonend; Verschleißerscheinungen betreffen vor allem das Turbinensystem, weniger die Primärkreislaufkomponenten. Auch die auf Lastfolgebetrieb zurückgeführte Brennelement-Hüllrohrkorrosion im KKW Brokdorf betraf nur einige BE-Chargen mit besonderer Einsatzgeschichte.[84]
Diesen Betrachtungen ist hinzuzufügen, dass in einem EE+Kernenergie-System natürlich auch eine ganz andere Lösung denkbar wäre, d.h. das konstante Betreiben von KKW am Vollast-Arbeitspunkt; bei guter EE-Leistung in sonnen- und windreichen Zeiten könnte der überschüssige Atomstrom für die Elektrolyse genutzt werden, was dasselbe ist, was man als Lösung für Windkraft-Überkapazitäten ins Auge fasst. Darüber hinaus könnten KKW den kostenträchtigen Speicherbedarf für variable EE auch direkt verringern: gibt es gesicherte KKW-Leistung, muss nachts die fehlende PV-Leistung nicht durch Speicher kompensiert werden, sondern kann von KKW (mit sogar geringerer CO2-Bilanz als PV) bereitgestellt werden. Das aber lehnen die S4F-Autoren aus prinzipiellen Erwägungen ab, da es einen ökonomischen Vorteil im Sinne der KKW-Betreiber gegenüber den EE darstelle. Aus Sicht einer Klimazielerreichung ist ein solches vom Kampf um Marktanteile geleitetes Argument aber nicht als valides Argument zu betrachten.
Zusammenfassend ist anzumerken: KKW sind ein technisch mögliches Backup für variable EE, überdies sind sie jenes mit der besten CO2-Bilanz, von der Bandenergie aus Wasserkraft abgesehen, welche aber in Deutschland nur begrenzt verfügbar ist. Auch aus der Systemerhaltungslogik eines Verbundnetzes (Spannungs- und Frequenzhaltung) ist nicht abzuleiten, warum ein Kernkraftwerk nicht zu einem Windpark passe. Während man in einer EE-dominierten Philosophie das KKW bei Starkwindlagen zum Abregeln zwingen müsste, wäre es in einer KE-dominierten Philosophie der Windpark. Stellt nun auch noch einer von zwei Erzeugern mit ähnlich niedriger CO2-Bilanz gesicherte Leistung bereit, könnte man übrigens auch mit einiger Berechtigung davon sprechen, dass der gesicherte Erzeuger, also die Kernenergie, Vorrang habe.
Auch durch diesen Befund fällt das oben beschriebene Narrativ von der nichts oder nicht schnell genug zur Dekarbonisierung beitragenden Kernenergie in sich zusammen. Kernkraftwerke, die sich komplementär zu EE einsetzen lassen, erhöhen das Tempo der Dekarbonisierung. NetZero in Deutschland könnte man mit einem komplementären Ansatz (Erneuerbare plus Kernenergie) wesentlich schneller erreichen als mit dem Ansatz „nur EE-Ausbau ohne Kernenergie“.[85]
Wahrscheinlich leitet sich auch die dezidierte Ablehnung von Small Modular Reactors implizit aus der Vorstellung der Blockade ab (S. 33-35, 71-73). Eigentlich würden diese SMR technisch in das von den Autoren gewünschte dezentrale Energiesystemkonzept passen; da man aber kategorisch keine Kernenergie nutzen möchte, werden gegen diese kleinen Anlagen die gegen die konventionellen KKW gerichteten Sicherheits-, Wirtschaftlichkeits- und das (allerdings berechtigte) Schnellverfügbarkeitsargument ins Feld geführt.
6.2 Ökosoziale Transformation ohne Kernenergie
Die S4F betten ihre Position in einen größeren Zusammenhang ein und berufen sich auf das Große-Transformations-Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) von 2011. Dieser postuliert, ebenfalls mit Blick auf die Klimaziele, einen ko-evolutiven wissenschaftlich-technischen und sozialen Umbruch, der in seiner Reichweite allenfalls der Neolithischen und der Industriellen Revolution vergleichbar sei. Ziel ist eine Postwachstums-Gesellschaft, in der ein von oben implementierter Wertewandel dazu führt, dass die Menschen nachhaltiger konsumieren. Die Argumentation des WBGU zur Kernenergienutzung des WBGU scheint auch S4F inspiriert zu haben. Der WBGU bezieht sich fast wortgleich auf Gefahrenpotenziale und die Inkompatibilität der Atomkraft mit den EE, welche zur Leittechnologie des neuen Systems erhoben werden.[86]
Diese wertgeleitete Transformationsidee verdrängt im Verlauf der S4F-Studie die Ursprungsfrage, ob die Kernenergie als Klimaschutztechnologie zu klassifizieren sei. Integraler Bestandteil des Transformationsprojekts sind bestimmte Technik-Narrative, so eben die Auffassung vom unflexiblen, nicht mehr zeitgemäßen, „blockierenden“, zentralistischen Kernkraftwerk, das als Antagonist der gleichsam masselosen, dezentralen, smarten und flexiblen EE daherkommt. Dasselbe Werturteil von den EE als Selbstzweck einer sich transformierenden Gesellschaft erkennt man auch im Argument gegen die nukleare Wasserstoffproduktion. Es bleibt unbegründet, warum es wünschenswerter sein soll, überschüssigen Windstrom in die Wasserstoffproduktion zu stecken, aber nicht überschüssigen Atomstrom – Kernkraftwerke könnten ja in Dunkelflauten mit ihrer gesicherten Leistung das Netz stützen, während sie bei guter Wind- und Solarproduktion Wasserstoff produzieren. Der Grund der Ablehnung ist einzig die Befürchtung: „Wird dies zum Credo der herrschenden Energie-, Industrie - und Förderpolitik, wäre eine langfristige nukleare Pfadabhängigkeit vorprogrammiert“ (S. 83) Hier geben die Autoren offen zu, dass ihnen keinesfalls das CO2-Reduktionsziel prioritär ist, sondern die Etablierung der EE als Selbstzweck eines erwünschten Energiesystems und die Lenkung der Investitionen zugunsten der EE.
6.3 Das Endlager-Junktim
Doch es gibt noch ein weiteres Argument, mit dem das Blockade-Narrativ begründet wird, und das ist ein – wiederum ohne internationale Nachahmung gebliebenes – Junktim von Atomausstieg und Endlagerung. Der Atomausstieg, so die Lesart, sei eine notwendige Bedingung für die Endlagersuche. Diese Behauptung hat keinerlei Sachgrund, wie die viel weiter fortgeschrittene Endlagersuche in Schweden und der Schweiz sowie der Endlagerbau in Finnland zeigen, die allesamt an keinen festen Atomausstiegstermin gebunden sind. Das Junktim ist vielmehr historisch begründet, in der Strategie der Anti-AKW-Bewegung, die Betriebsgenehmigungen der KKW mit dem Argument der ungelösten Entsorgung anzufechten.
Vor dem Atomausstiegsbeschluss gab es also gar kein Interesse dieser Akteure an einer erfolgreichen Endlagersuche; bestätigt sahen sie sich durch die jahrelange Festlegung der Betreiber auf einen wissenschaftlich umstrittenen Standort, Gorleben. Um nach 2011 auch die Opposition ins Boot zu holen, wurde die Maxime vom Atomausstieg als Voraussetzung eines Endlagerkonsenses der deutschen Endlagersuche eingeschrieben. Sie war die Vorbedingung der Grünen und der SPD für ihre Beteiligung am Neustart der Endlagersuche.
Nun, in der wieder aufflammenden Diskussion um den Atomausstieg, dient sie als Druckmittel. Eine neue Atomdiskussion, so die auch offizielle Lesart der Bundesregierung und ihrer nachgeordneten Behörden sowie des Nationalen Begleitgremiums für die Endlagersuche, gefährde den parteiübergreifenden Endlagerkompromiss. Die Akteure berufen sich auf einen gesellschaftlichen „Konsens“ über das Junktim, ohne den das Gesetz nicht hätte verabschiedet werden können; das NBG machte sich 2019 überdies die Aussage zu eigen, ein Atomausstieg sei kein Beitrag zum Klimaschutz, ohne das weiter zu begründen.[87] Aus dem Standortauswahlgesetz sind all diese Aussagen jedoch nicht ableitbar. Trotzdem machen sich die S4F auch diese sachlich unbegründete Position zu Eigen. Auf die Möglichkeit, dass Konsense und Diskurse Veränderungen unterliegen, wie jüngste Umfragen belegen (siehe Punkt 1), wird nicht eingegangen.
6.4 Zwischenfazit "Sozial-ökologische Transformation"
Der Abschnitt über die Inkompatibilität der Kernenergie mit einer von den Autoren bevorzugten sozial-ökologischen Transformation verfehlt die ursprüngliche Fragestellung nach der Eignung der Kernenergie als Klimaschutz-Instrument. Denn es wird eine ganz andere, zwar berechtigte, aber mit Blick auf das eigentliche Erkenntnisziel sachfremde Frage gestellt, nämlich die Frage nach der Art und Weise, wie wir in Zukunft leben wollen. Die Autoren argumentieren hier mit Technologien als Symbolen erwünschter oder nicht erwünschter sozialer Ordnungen, statt im Einzelnen zu begründen, warum die Kernenergie einer Alternative zum heutigen kapitalistischen Modell intrinsisch fremd sein soll.
Die Kernenergie, der neben ihrem Gefahrenpotenzial auch Inflexibilität, Innovationsblockierung und aufgrund der Entsorgungsfrage auch ethische Verwerflichkeit attestiert werden, erscheint so als Exponentin einer alten, unerwünschten Ordnung, die EE, die als minimalinvasiv, dezentral und sozialverträglich imaginiert werden, sind Exponenten einer angestrebten neuen Ordnung. Die Autoren blenden dabei sowohl Vorteile der Kernenergie als auch Nachteile der EE aus. Desgleichen ignorieren sie, nachdem sie sich einmal an das Formulieren wünschenswerter technosozialer Transformationen gemacht haben, dass nicht nur der von ihnen präferierte Pfad zu einer Erreichung der Paris-Ziels geeignet wäre, sondern auch andere Transformationskonzepte, etwa mit Kernenergie in einer sozialisierten Energiewirtschaft.
Die Grundprobleme des Kapitalismus, der Treibers der Erderwärmung ist, tasten die Autoren hingegen nicht an; das verrät die marktlich-neoliberale Diktion, die immer dann in Eingriff kommt, wenn es gilt, die Kernenergie als träge, altmodische, an (angeblich) freien Märkten versagende Staatstechnik und die EE als smarte, marktkonforme, investorenfreundliche Technik darzustellen. Aus Sicht eines Klimaschutzziels oder aus der Logik von elektrischen Netzen sind solche Überlegungen aber allesamt Werturteile, die sich nur durch apriorische Festlegungen erwünschter oder nicht erwünschter Optionen aufrechterhalten lassen. Auch erscheint diese Argumentation immer dann inkonsistent, wenn sich die Autoren für staatliche Förderung der EE aussprechen.
7. Zusammenfassung und Einordnung
7.1 Allgemeine Befunde
Nach dieser Begutachtung ist zusammenfassend zu konstatieren: Das Papier verfehlt seine eigene Fragestellung in Teilen, weil es die Frage nach der Eignung der Kernenergie als Klimaschutztechnologie mit der Frage nach wünschenswerten bzw. nicht erwünschten Gesellschaftsformen vermengt, die dann anhand der Stellvertreter-Technologien EE vs. Kernenergie verhandelt werden.
Solche Festlegungen wiederum beruhen auf einer Vorstellung von der Kernenergie, die in Teilen durch unzulässige Methoden erzeugt wurde. Cherrypicking sorgt für eine unzureichende Kenntnisnahme von Datenlagen und Forschungsständen, Strohmann-Argumente und Doppelstandards verschleiern und verzerren Sachverhalte, sachliche Fehler sind eine Hypothek des Papiers. Im Resultat entsteht ein deutlicher Bias gegen die Kernenergie und zugunsten der Erneuerbaren Energien, der sich auch auf die Ignorierung bzw. Ablehnung komplementärer Systeme mit Kernenergie und EE erstreckt. Dieses Vorgehen weckt Zweifel an der Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der Autoren. Es widerspricht überdies den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, denen sich die S4F mit ihrem Bekenntnis zum DFG-Kodex unterworfen haben.[88]
7.2 Konsistenz der Argumentation unter Maßgabe
des Schutzziels Emissionsreduktion
Betrachtet man zur Einordnung nun zusammenfassend die Argumentationsstruktur und Logik des Papiers, fallen einige Ungereimtheiten ins Auge, vor allem eine Diskrepanz der Argumentation und der Ausgangsfragestellung.
1) Es wird, anders als von S4F angekündigt[89], nicht die Frage beantwortet, welche die gesellschaftliche Debatte beschäftigt, nämlich ob man die Kernenergie als Beitrag zum Klimaschutz klassifizieren und folglich im System lassen solle, sondern es wird die Kompatibilität der Kernenergie mit einer von den Autoren gewünschten Energiesystemtransformation diskutiert. In dieser wiederum wird die Kernenergie a priori für unerwünscht erklärt, da das gewünschte System zu 100% auf Erneuerbaren Energien basieren soll. Dies aber ist nicht aus einer mangelnden Klimaschutzqualität der Kernenergie oder einer in jedem Falle überlegenen Klimaschutzqualität der EE ableitbar. Daher begeben sich die Autoren in deutlichen Widerspruch zum IPCC, der Kernenergie und Erneuerbaren eine bedeutende Rolle beim Klimaschutz zuweist, wenn auch der erwartete Anteil der Kernenergie am Weltenergieumsatz geringer beziffert wird ist als der EE-Anteil.
Doch die Vorfestlegung der Autoren, der zufolge Kernenergie inkompatibel mit dem von ihnen gewünschten System sei, ist ein Werturteil, welches das Arrangement der Ergebnisse bestimmt. Dieses Vorgehen wird sekundär legitimiert durch das Argument der „Gefährlichkeit“ und der „Unwirtschaftlichkeit“ sowie der nicht rechtzeitigen Verfügbarkeit von Neubauten. Es wurde in diesem Gutachten geprüft, ob diese Behauptungen unter Beachtung der Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis belegt wurden. Es wurde festgestellt, dass dies über weite Strecken nicht der Fall ist.
2) Nicht diskutiert wird aufgrund der prinzipiellen Vorbehalte der Autorengruppe der empirisch nachweisbare Beitrag der Kernenergie zur Dekarbonisierung in Vergangenheit und Gegenwart. Eine solche Betrachtung hätte Aufschluss über die reale Performance dieser Technologie für die Emissionsreduktion in einer Elektrizitätswirtschaft geben. So hätte man in einem direkten Vergleichsverfahren mit Realdaten (Wetterdaten, Anlagenverfügbarkeiten u.a.) Systeme mit variierenden Kernenergie- und EE-Anteile simulieren können, oder man hätte Realdaten im Ländervergleich betrachten können. Auch eine kritische Auseinandersetzung mit den real existierenden CO2-Bilanzen einzelner Kraftwerkstypen und ihrer funktionellen Bedeutung in Stromnetzen fehlt. Man erhielte in einem solchen Falle das Ergebnis, dass die Kernenergie mit 12 g CO2/kWh gleichauf mit der Windkraft liegt[90], allerdings dank ihrer hohen Arbeitsverfügbarkeit (Capacity factor (CF) zwischen 70% im östlichen Europa und Frankreich und bis zu 90% in Deutschland) gesicherte Leistung darstellt, welche der Windkraft (CR rund 25-45% on- bzw. offshore) und erst recht der Photovoltaik (CF 10% in Deutschland) bei der Aufgabe der Netzstabilisierung weit überlegen ist, solange es noch keine Speichertechnik im Industriemaßstab gibt.
3) Die Situationsbeschreibung der Autoren, die „verbleibende Zeit“, in der noch Maßnahmen zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels erreicht werden könnten, sei knapp und umfasse im Wesentlichen 15 Jahre ab heute,[91] steht im Widerspruch zu ihrer Forderung nach der raschen Vollendung von „Atomwenden“ in Deutschland und in Europa. Sie ignorieren den Beitrag der existierenden Kernenergie, die nach der Wasserkraft den zweitgrößten Beitrag zur weltweiten CO2-armen Stromproduktion und den größten Anteil in den OECD-Staaten leistet.[92] Es erscheint unplausibel, angesichts der Dringlichkeit der Situation eine Stromerzeugungsform abzuschaffen, die bereits klimaneutral vorgehalten wird, um stattdessen unter großen Anstrengungen und Ungewissheiten eine andere aufzubauen, die, anders als von den Autoren behauptet, samt CO2-armen Backups mindestens so lange Errichtungszeiten hat wie der Bau von Kernkraftwerken.
4) In diesem Lichte erscheint insbesondere der deutsche Atomausstieg, dessen Vollendung die Autoren fordern, im „verbleibenden“ Zeitraum als kontraproduktiv, denn er resultiert ja gerade in diesem Zeitraum, nämlich der Zeit ab 2022, in einem Mehr-, nicht einem Minderausstoß von CO2. Deutschland wird in dieser Zeit 60 TWh pro Jahr Atomstrom verlieren. Für Deutschland und Japan nach 2011 ist der Zusammenhang von Atomausstiegen und Rekarbonisierung nachgewiesen worden.[93] Diese Befunde ignorieren die Autoren.
5) Das zentrale Argument der „Blockade“ wünschenswerter Energiesystementwicklungen bzw. Gesellschaftsentwicklungen durch die Kernenergie ist der Aufgabenstellung „Evaluierung der Qualität der Kernenergie als Klimaschutzinstrument“ fremd, da es ein Werturteil darstellt, statt die Qualitäten der Kernenergie als Klimaschutzinstrument zu diskutieren. Dieses Argument wird von den Autoren in drei Teilaspekte unterteilt: die Kernenergie als angebliche historische Innovationsblockade und Antagonistin der EE, als Transformationsblockade sozialer Systeme sowie als technische Blockade der EE in Stromnetzen, wo sie wegen ihrer Unflexibilität die Entfaltung der EE behindere.
Keines dieser drei Argumente konnte einer Überprüfung standhalten. Weder kann ohne eine Vorschaltung von Werturteilen über wünschenswerte oder abzulehnende Technologien argumentiert werden, die Kernenergie habe Förder- und Investitionsmittel von den EE abgezogen, welche diese Mittel eher verdient hätten, noch konnten die Autoren schlüssig belegen, dass Kernenergie und EE in Stromverbünden nicht kompatibel seien, oder dass die Kernenergie nicht auch in einer alternativen Gesellschaftsordnung funktionieren könnte. Diese Argumente beruhen, wie gezeigt wurde, auf einer selektiven Auswahl von Fachliteratur und einer Ignorierung realer Fahrweisen und Potenziale von Kernkraftwerken.
So aber ergeben sich eklatante Selbstwidersprüche im Gutachten der Scientists for Future, die sich so auf Konfliktkurs mit ihrem eigentlichen Ziel begeben, das folgendermaßen formuliert wurde:
„Die Verbrennung von Kohle sollte bereits 2030 fast vollständig beendet sein, die Verbrennung von Erdöl und Erdgas gleichzeitig reduziert werden, bis alle fossilen Energieträger durch klimaneutrale Energiequellen ersetzt worden sind[94]…Wir bewerten aktuelle Entwicklungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, beleuchten Zusammenhänge, benennen mögliche Zielkonflikte, treten Falschbehauptungen entschieden entgegen“.[95]
Stattdessen machen sich S4F eine Nullsummenspiel-Argumentation EE vs. Kernenergie zu eigen, die nicht zielführend für die Erreichung des Treibhausgas-Reduktionsziels in Deutschland und Europa ist. Sie ignorieren wissenschaftliche Erkenntnisse und mögliche Zielkonflikte und treten Falschbehauptungen nicht entgegen, sondern produzieren sie selber.
Die Autoren argumentieren auf S. 76 folgendermaßen:
„Unterschiedliche Energiesystemszenarien zeigen übereinstimmend, dass (1) Strategien zur Steigerung der Energieeffizienz und auch des Stromsparens besonders vorteilhaft sind, sowie dass (2) die möglichst rasche Markteinführung erneuerbarer Stromerzeugung und (3) generell eine CO2-freie Elektrifizierung auch des Verkehrsund Gebäudesektors sowie einiger Industriebranchen entscheidende Strategieelemente einer Transformation zur Dekarbonisierung darstellen. Der Kern der Fehleinschätzung „Kernenergie als Klimaoption“ liegt darin, dass die Schnelligkeit und Wirksamkeit der Strategieelemente (1) und (2) gebremst werden, je dominanter der Kernenergieanteil in der Elektrifizierungsstrategie ist. Beide Strategieelemente stehen dem Betreiberinteresse an maximaler Auslastung von Kernkraftwerken in der Grundlast entgegen. Energiepolitische Maßnahmen zugunsten der Strategieelemente (1) und (2) wie z. B. der massive Ausbau der EE und Stromsparprogramme, die die Rentabilität von nuklearer Grundlast in Frage stellen könnten, sind daher aus KKW-Betreiberperspektive unerwünscht.“ (Hervorhebungen AVW)
An dieser Argumentationskette zeigt sich deutlich, dass die S4F-Autoren, statt ihr Material kritisch zu evaluieren, eigentlich genau das tun, was sie kritisieren: sie machen sich die EE-Betreiber-Perspektive zu eigen, derzufolge die Beibehaltung und der Ausbau der Konkurrentin Kernenergie unerwünscht sei.
Entsprechend sind die von den Autoren genutzten Szenarien im Wesentlichen 100%-EE-Szenarien, in denen die Kernenergie gar keinen Platz hat; konsequent komparativ wurde nicht gearbeitet, weil Studien unter Einschluss der Kernenergie nicht behandelt wurden. Dass die gewählten 100% EE-Szenarien zu dem Schluss kommen, dass „eine möglichst rasche Markteinführung erneuerbarer Stromerzeugung“ der beste Weg zur Dekarbonisierung sei, liegt auf der Hand. Eine „CO2-freie Elektrifizierung des Verkehrs und Gebäudesektors“ hängt jedoch nicht vom Erzeuger des CO2-armen Stroms ab; im Gegenteil könnten angesichts der unter Sektorkopplung benötigten zukünftigen Strommengen gerade Kernkraftwerke als kompakte, leistungsstarke Erzeuger ihre Stärken ausspielen, etwa bei der Versorgung der Industrie.
Die Grundlast-Argumentation der Autoren würde in einem System, das CO2-Armut und Bereitstellung von gesicherter CO2-armer Leistung und CO2-armer Regelenergie belohnt, gar nicht greifen, und sie trifft schon heute nicht zu: KKW können erfolgreich mit EE zusammengespannt werden. Überdies wurde gezeigt, dass aus Sicht eines Klimaschutzziels irrelevant ist, welche Industrie profitiert oder „gebremst“ wird, sondern einzig, ob sie ein klimafreundliches Resultat liefert, nämlich eine Kilowattstunde mit minimaler CO2-Last und maximaler Versorgungssicherheit und möglichst hoher Umweltverträglichkeit.
Ob diese Sicherheit und Klimafreundlichkeit per planbarer Stromproduktion hergestellt wird wie bei einem KKW oder durch die Errichtung einer Speicher-Infrastruktur für variable EE, das ist eine politische Entscheidung. Sie ist aber nicht aus der Technologie selbst begründbar – es sei denn, man begegnet der einen Technologie mit Vorbehalten und affirmiert die andere.
Dies in der Arbeit der S4F der Fall. Sie haben deutliche Vorbehalte gegenüber der Kernenergie, können diese aber nur begründen, indem sie ihre Befunde einem bereits vorher feststehenden gewünschten Ergebnis anpassen: indem sie Forschungsstände unbeachtet lassen, Fachliteratur selektiv zitieren, Differenzierungen und Abwägungen vermeiden und neutrale Befunde aus der Literatur stets zu Ungunsten der Kernenergie interpretieren, häufig auch missverstehen, wie im Falle der Reaktorsicherheitsdiskussionen. Gegenüber den Erneuerbaren Energien wiederum haben die Autoren keinerlei Vorbehalte, was bedeutet, dass sie ungünstige Befunde im Bereich der EE, so ihre Rohstoffbilanz, ihre Extensivität, die bislang ungelöste Speicherfrage, die auch bei diesen Erzeugern vorkommenden Kostentreiber ignorieren.
7.3 Empfehlungen
Dies aber kann nicht in Sinne eines wissenschaftsbasierten Beitrags zu der Frage sein, wie eine möglichst zügige Dekarbonisierung von Industrieländern, insbesondere Deutschlands, leistbar wäre. Alle Optionen vorzulegen und sie alle kritisch zu diskutieren, wäre die Chance eines unvoreingenommenen und unabhängigen Ansatzes der S4F gewesen. Diese Chance wurde verpasst. Vielmehr haben sich die Autoren auf eine Nullsummenspiel-Argumentation Erneuerbare versus Atomkraft eingelassen, die in der deutschen Realität derzeit darauf hinausläuft, eine Allianz Erneuerbare plus fossile Erzeuger in Kauf zu nehmen oder gar zu fördern.
Es ist S4F daher zu empfehlen, eine nochmalige Bewertung aller Technologien für den Klimaschutz durchzuführen, welche die hier aufgezeigten Mängel abstellt. Das Papier in seiner jetzigen Form leidet an einem nicht reparablen inhärenten Bias. Es würde nicht reichen, einige Korrekturen der sachlichen Monita vorzunehmen. Es wird daher vorgeschlagen, das Papier zurückzuziehen und einen Diskussionsprozess durchzuführen, in dem die Kritikpunkte erörtert und Möglichkeiten einer Neufassung sowie die Auswahl der Autorinnen und Autoren für eine solche Neufassung erwogen werden.
[1] Stoppt den Atomausstieg! Die Zeit, 16.07. 2020. Das Memorandum, auf das der Artikel referiert, wurde allen Abgeordneten des Deutschen Bundestags im Juli 2020 zugestellt: Warum wir die deutschen Kernkraftwerke jetzt noch brauchen, www.saveger6.de, 2020. Das SaveGER6-Memorandum wurde zum Ausgangspunkt etlicher nationaler und internationaler Aufrufe zum Stopp des deutschen Atomausstiegs.
[2] „Jeder zweite Deutsche will, dass Atomkraftwerke weiterlaufen“, Die Welt, 30.10. 2021, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus234739030/Umfrage-Jeder-zweite-Deutsche-will-dass-Atomkraftwerke-weiterlaufen.html
[3] Technical assessment of nuclear energy with respect to the ‘do no significant harm’ criteria of Regulation (EU) 2020/852 (‘Taxonomy Regulation’), European Commission Joint Research Centre, Petten, 2021, JRC124193
[4] BASE, Fachstellungnahme zum Bericht des Joint Research Centre der Europäischen Kommission „Technical assessment of nuclear energy with respect to the ‘do no significant harm’ criteria of Regulation (EU) 2020/852
(‘Taxonomy Regulation’)” . Unter besonderer Berücksichtigung der Kriterieneignung für die Aufnahme der Kernenergie in die EU-Taxonomie, Berlin, September 2021
[5] BMU, 12 Punkte für die Vollendung des Atomausstiegs – die Position des Bundesumweltministeriums, https://www.bmu.de/download/12-punkte-fuer-die-vollendung-des-atomausstiegs.
[6] Exemplarisch die Position von ausgestrahlt.de zur EU-Taxonomie: „EU-Taxonomie retten: Kein Öko-Label für Gas und Atom!“, https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/
[7] B. Wealer, C. Breyer, P. Hennicke, H. Hirsch, C. von Hirschhausen, P. Klafka, H. Kromp-Kolb, K. Müsche (2021), Kernenergie und Klima. Diskussionsbeiträge der Scientists for Future, 9, 98 pp. doi: 10.5281/zenodo.5573719, im folgenden zitiert als Wealer et al.
[8] Stefan Rahmstorf, 12.000 Wissenschaftler stellen sich hinter die streikenden Schüler, https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/12-000-wissenschaftler-stellen-sich-hinter-die-streikenden-schueler/.
[9] Wealer et al., 1.
[10] Wealer et al., 1: „durch Kolleginnen und Kollegen…ausführlich geprüft (peer reviewed), 19: „ Nach einer eingehenden Diskussion hat sich Ende 2020 eine Arbeitsgruppe gebildet, die im Juni 2021 einen Entwurf vorgelegt hat. Nach einem Review-Prozess wird dieser Beitrag nunmehr veröffentlicht.“
[11] Stellungnahme von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu den Protesten für mehr Klimaschutz – #Scientists4Future: Die Anliegen der demonstrierenden jungen Menschen sind berechtigt, https://de.scientists4future.org/ueber-uns/stellungnahme/. (März 2019)
[12] Bruckner T., I. A. Bashmakov, Y. Mulugetta, H. Chum, A. de la Vega Navarro, J. Edmonds, A. Faaij, B. Fungtammasan, A. Garg, E. Hertwich, D. Honnery, D. Infield, M. Kainuma, S. Khennas, S. Kim, H. B. Nimir, K. Riahi, N. Strachan, R. Wiser, and X. Zhang, 2014: Energy Systems. In: Climate Change 2014: Mitigation of Climate Change. Contribution of Working Group III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Edenhofer, O., R. Pichs-Madruga, Y. Sokona, E. Farahani, S. Kadner, K. Seyboth, A. Adler, I. Baum, S. Brunner, P. Eickemeier, B. Kriemann, J. Savolainen, S. Schlömer, C. von
Stechow, T. Zwickel and J.C. Minx (eds.)]. Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom and New York, NY, USA.IPCC, https://www.ipcc.ch/report/ar5/wg3/, 538-539; Annex III, Technology-specific Cost and
Performance Parameters, Table A.III.2 (Emissions of selected electricity supply technologies (gCO2eq / kWh)).,
[13] Wealer et al., Zusammenfassung, 1-3
[14]Richtlinie des Rates 2014/87/EURATOM vom 8. Juli 2014 zur Änderung der Richtlinie 2009/71/Euratom über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0087&from=bg)
[15] 4 a betrifft Maßnahmen zur Beherrschung solcher seltener Fälle, 4b präventive Maßnahmen des anlageninternen Notfallschutzes, damit keine schweren Brennelementschäden auftreten, etwa primär- und sekundärseitige Druckentlastung und -bespeisung, 4c mitigative Maßnahmen des anlageninternen Notfallschutzes mit dem Ziel, bei Unfällen mit schweren Brennelementschäden die Integrität des Sicherheitsbehälters zu erhalten – eine solche Maßnahme wäre die gefilterte Druckentlastung des Sicherheitsbehälters, Sicherheitsanforderungen an Kernkraftwerke vom 22. November 2012, Neufassung vom 3. März 2015 (BAnz AT 30.03.2015 B2); Eigene Einsichtnahme Schulungsunterlagen Anormaler Betrieb, Störfälle für das KKW Grohnde, 2020; Eigene Einsichtnahme Notfallhandbuch KKW Grohnde; Zustands- und Notfallübersicht KKW Grohnde, 2020.
[16] Richtlinie des Rates 2014/87/EURATOM, Präambel, Abschnitt (17). Anlagenexterne Notfallmaßnahmen und Katastrophenschutzmaßnahmen sind, anders als von Wealer et al. formuliert, nicht identisch, da unterschiedliche zuständige Behörden beteiligt sind.
[17] Bei externen Ereignissen wie Einwirkung von außen (EVA) durch Erdbeben ist das anders, hier wird bei der Betrachtung des Sicherheitserdbebens gleich auf der Ebene 3 eingestiegen.
[18] Richtlinie des Rates 2014/87/EURATOM, Punkt 7, Punkt 9.
[19] Anil Markandya, Paul Wilkinson, Electricity generation and health, in: The Lancet 370 (2007), Nr. 9591, 979 – 990 http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(07)61253-7/; Hannah Ritchie, What are the safest and cleanest sources of energy?, https://ourworldindata.org/safest-sources-of-energy; B. Sovacool, M. Kryman, E. Laine, Profiling technological failure and disaster in the energy sector: A comparative analysis of historical energy accidents. Energy, 90 (2015), 2016-2027.
[20] W. D’haeseleer, Synthesis on the economics of nuclear energy, Leuven 2013, 148; UNSCEAR, UNIS/OUS/419, 9 March 2021: A decade after the Fukushima accident: Radiation-linked increases in cancer rates not expected to be seen; UNSCEAR über Tschernobyl: https://www.unscear.org/unscear/en/chernobyl.html: “Apart from the dramatic increase in thyroid cancer [6000 Fälle, AVW] incidence among those exposed at a young age, and some indication of an increased leukaemia and cataract incidence among the workers, there is no clearly demonstrated increase in the incidence of solid cancers or leukaemia due to radiation in the exposed populations. Neither is there any proof of other non-malignant disorders that are related to ionizing radiation. However, there were widespread psychological reactions to the accident, which were due to fear of the radiation, not to the actual radiation dose”.
[21] Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit (GRS), GRS-175: Bewertung des Unfallrisikos fortschrittlicher Druckwasserreaktoren in Deutschland. Methoden und Ergebnisse einer umfassenden
Probabilistischen Sicherheitsanalyse (PSA), Köln 2001; D. Sornette, T. Maillart, W. Kröger, Exploring the Limits of Safety Analysis in Complex Technological Systems. International Journal of Disaster Risk Reduction, 6(0) (2013I, 59-66; W. Kröger, D. Sornette, A. Ayoub, Towards Safer and More Sustainable Ways for Exploiting Nuclear Power, World Journal of Nuclear Science and Technology, 10 (2020), 91-115; D. Sornette, W. Kröger, S. Wheatley, New Ways and Needs for Exploiting Nuclear Energy, Berlin – New York 2019; W. Kröger, Achieving resilience of large-scale engineered infrastructures, in: Farsangi et al. (eds.), Resilient Structures and Infrastructures, Berlin – New York 2019; W. Kröger, C. Nan, Addressing Interdependencies of Complex Technical Networks, in: G. D'Agostino, A. Scala (eds.), Networks of Networks, Berlin – New York 2014; W. Kröger, C. Nan, Power systems in transition: dealing with complexity, in: Energy as a Sociotechnical Problem, London 2018.
[22] Pistner, C., Englert, M., & Wealer, B. (2021). Sustainability at risk. Heinrich Böll Stiftung. Brussels office, European Union, Heinich Boell Stiftung. eu.boell.org/en/2021/09/01/
nuclear-energy-eu-taxonomy, ein Papier der deutschen grünen Parteistiftung gegen die Einbeziehung der Kernenergie in die EU-Taxonomie; Hirsch, H., & Indradiningrat, A. Y. (2012). Schwere Reaktorunfälle — Wahrscheinlicher als bisher angenommen (S. 66). Greenpeace Germany e.V. www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/20120229-Studie-WahrscheinlichkeitReaktorunfaelle.pdf
[23] GRS-175, 15-33; eine gute Zusammenfassung bei Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS): PSA: Risikoanalysen in der Kerntechnik, http://www.grs.de/content/risikoanalysen_psa.
.
[24] Die Freisetzungsfrequent LERF Large Early Release Frequency wird auf den Faktor 5 bis 10 mal seltener angesetzt als die Kernschadensfrequenz, vgl. D’haeseleer, Synthesis, 143; Preiss et al., 2013, 18, nach INSAG-3, IAEA 1983.
[25] GRS-175, 53-56; Technical assessment of nuclear energy, 175-180; Paul Laufs, Reaktorsicherheit für Leistungskernkraftwerke. Die Entwicklung im politischen und technischen Umfeld der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 2013, 652-653. Ich danke an dieser Stelle Andreas Zühlke und Ulrich Waas für die gemeinsame Diskussion dieser Problematik.
[26] ra = Reaktorbetriebsjahre.
[27] Laufs, Reaktorsicherheit, 715-824.
[28] S. 24 .“Deterministische Anforderungen” sind kein fachlicher Begriff der Reaktorsicherheitsforschung. Das zitierte Original, WENRA, Practical Elimination Applied to New NPP Designs - Key Elements and Expectations, 4, spricht nicht von „deterministischen Anforderungen“ sondern von „Betrachtungen“ (considerations). Regelwerke sprechen von organisatorischen Anforderungen an Organisationseinheiten oder Personen oder von technischen Anforderungen an Anlagenteile, Systeme und Komponenten zur Gewährleistung eines sicheren Anlagenbetriebs im Normalbetrieb wie im Störfall (definiert durch das grundsätzliche Ziel des Schutzes von Mensch und Umwelt vor den schädlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung und der anlagenbezogenen Schutzziele Reaktivitätskontrolle, Kernkühlung und Aktivitätsrückhaltung). So z.B. ist die Mindestanforderung an die Verfügbarkeit eines ND-Notkühlsystems bei der Betrachtung des Störfalls „kleines Leck im Primärkreislauf“ 1v4 Stränge, vgl. Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B, Köln 1990, 180-187.
[29] 4.2 Recent Precursors to Interfacing System LOCA, in: CEOG Combustian Engineering Owners Group CE NPRSD-550, Risk evaluation of removal of shutdown cooling system auto-closure interlock. CEOG task 582, Sepember 1989, , 4-9, 4-13; “German officials defend Bibls Accident Precursor Handling”, Nucleonics Week, 08.12. 1988.
[30]P. Preiss et al., Die Risiken der Kernenergie in Deutschland im Vergleich mit Risiken anderer Stromerzeugungstechnologien, Universität Stuttgart IER 2013, 18.
Amardeo Sarma/ Anna Veronika Wendland, 10 Years of Fukushima Disinformation, The Skeptical Enquirer, 45 (2021), No. 4, https://skepticalinquirer.org/2021/06/ten-years-of-fukushima-disinformation/
[31] Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI, ENSI Vertiefende Analyse des Unfalls in Fukushima am 11. März 2011, (2011), S. 3. Diese Berücksichtigung der Zeit ab 1896 für eine um 1970 genehmigte Anlage liegt also noch unter der Anforderung der Zugrundelegung des 100-jährigen Hochwassers. Zur Auslegung der deutschen KKW vgl. Kerntechnischer Ausschuss, Sicherheitstechnische Regel des KTA, Fassung 11/04, KTA 2207: Schutz von Kernkraftwerken gegen Hochwasser: PoFuku-Maßnahmen: KKW Grohnde, Zustands- und Notfallübersicht; eigene Begehung., 14.10. 2021.
[32] S. Wheatley, B. Sovacool, D. Sornette, Of Disasters and Dragon Kings: A Statistical Analysis of Nuclear Power Incidents and Accidents, in: Risk Analysis 37 (2017), Nr. 1, 99-115, hier 108-109: „DK is a double metaphor for an event that is both extremely large in size or impact (a “king”) and born of unique origins (a “dragon”) relative to other events from the same system. For instance, a DK can be generated by a transient positive feedback mechanism”, 108-109. Ob TMI-2 mit seiner zwar DK-ähnlichen Ereignissequenz (Komponentenversagen trifft auf menschliche Fehlhandlungen), aber seinen auf die Reaktoranlage beschränkten Schäden dazu gehört, könnte diskutiert werden, ebenfalls die Aussage der Autoren, Unfälle der kleineren Schadensklassen unter 20 Millionen US-Dollar seien mit 50%iger Wahrscheinlichkeit jedes Jahr erwartbar.
[33] Wheatley et al., Dragon kings.
[34] Wheatley et al., Dragon Kings, 112-113.
[35] Zu Sicherheitsanalysen kritischer Infrastrukturen allgemein vgl. die Einführung bei W. Kröger, Methods of Technical Risk Assessment in a Regional Context, Zürich 2011, http://www.lsa.ethz.ch/education/vorl/mtrarc_slides/02-RegionalRiskChallenges.pdf
[36] OECD/NEA 2021, Climate Change: Assessment of the Vulnerability of Nuclear Power Plants and Approaches for their Adaptationm 59-64; Eigene Einsichtnahme KKW Grohnde, Systembeschreibung VC Rückkühlanlage, sowie der Tagesaufschreibungen Wasserrecht.
[37] Reaktorsicherheitskommission (RSK): RSK-Stellungnahme Einschätzung der Abdeckung extremer Wetterbedingungen durch die bestehende Auslegung, 462. Sitzung am 06.11.2013.
[38] Im Notfall kann der Aggregateschutz auch unwirksam gemacht werden und ein Notstromdiesel mit höheren Temperaturen zur Not bis an die Versagensgrenze gefahren werden. GRS-474, Weiterführende Untersuchungen zur deterministischen Bewertung naturbedingter Einwirkungen von außen auf Kernkraftwerke, Köln 2018, 96-102.
[39] OECD/NEA 2021, Frankreich 101-108.
[40] Westdeutsche Zeitung, 27.07. 2019, Atomkraftwerk Grohnde muss nicht abgeschaltet werden - Kritik von Umweltschützern, https://www.wz.de/panorama/atomkraftwerk-grohnde-muss-nicht-abgeschaltet-werden-kritik-von-umweltschuetzern_aid-44502579.
[41] Fraunhofer ISE, Energy Charts, Stromproduktion aus Windkraft in Deutschland KW 30, 31/2019, https://energy-charts.info/charts/power/chart.htm?l=de&c=DE&stacking=stacked_absolute_area&year=2019&week=30&legendItems=00110000000011100&source=all; https://energy-charts.info/charts/power/chart.htm?l=de&c=DE&stacking=stacked_absolute_area&year=2019&week=31&legendItems=00110000000011100
[42] S&P Global, 18.02.2021, Texas nuclear unit returns to service after outage related to cold weatherhttps://www.spglobal.com/platts/en/market-insights/latest-news/electric-power/021821-texas-nuclear-unit-returns-to-service-after-outage-related-to-cold-weather; The Electrical Worker, May, 2021,The Texas Power Crisis of 2021 and What Needs to Happen; Dionne Searcey, No, Wind Farms Aren’t the Main Cause of the Texas Blackouts, the New York Times, 17.02. 2021 http://www.ibew.org/articles/21ElectricalWorker/EW2105/TexasSNOVID21.0521.html; No, wind farms were not the https://www.nytimes.com/2021/02/17/climate/texas-blackouts-disinformation.html
[43] Eidgenössisches Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS). (2020). Bericht zur nationalen Risikoanalyse. Katastrophen und Notlagen, www.babs.admin.ch/content/babs-internet/de/aufgabenbabs/gefaehrdrisiken/ natgefaehrdanalyse/_jcr_content/contentPar/tabs/items/fachunterlagen/tabPar/download
list/downloadItems/109_1604480153059.download/KNSRisikobericht2020-de.pdf. Übrigens sind PSA auch und gerade nicht nur mit Blick auf KKW, sondern auch auf die Systemsicherheit von Stromnetzen durchgeführt worden, vgl. E. Zio, Critical Infrastructures Vulnerability and Risk Analysis, European Journal for Security Research 1(2) (2016), DOI: 10.1007/s41125-016-0004-2
[44] Notstromauslegung der deutschen KKW: D1 Notstromnetz und D2 Notspeise-Notstromnetz, zusätzlich eine 3. Netzanbindung mit 30 kV-Erdkabel und Batteriestromversorgung für sicherheitswichtige Leittechnik und Stellantriebe: KKW Isar-2, Abschlussbericht für den Europäischen Stresstest, Hannover 2011, 17.
[45] C. Pistner, M. Englert, C. Küppers, B. Wealer, B. Steigerwald, C. v. Hirschhausen, R. Donderer. (2021). Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors) (Wissenschaftliches Gutachten im Auftrag des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) urn:nbn:de:0221-2021030826028). Öko-Institut e.V., www.base.bund.de/SharedDocs/Downloads/BA
SE/DE/berichte/kt/gutachten-small-modularreactors.pdf?__blob=publicationFile&v=2Pistner
[46] M. Kolesničenko, P. Kovtonjuk et al, Povyšenie bezopasnosti i prodlenie sroka ėkspluatacii ėnergoblokov 1 i 2 OP „Rivnenskaja AĖS“ Itogovyj otčet, Kuznecovsk 2011; VE Kombinat Kernkraftwerke „Bruno Leuschner“, Betriebsteil KKW Rheinsberg – Lehr und Trainingszentrum: Lehrgangsmaterialien Heft 10, 440-MW-Kernkraftwerksblock, Technologie des 2. Kreislaufs, Block 1-4; Rheinsberg 1988, 93-94; IAEA, Status report 107 – VVER-1200 (V-392M); Aleksander S. Vanin (OKB Gidropress), Obosnovanie priemočnych kriteriev ispytanij sistem i oborudovanija reaktornoj ustanovki dlja AĖS-2006 (GE 1, SPOT), Podolsk 2014, 12, 14-15; V. V. Bezlepkin / S. E. Semaško / S.B. Alekseev / T.G. Vardanidze / Ju. Ju. Petrov (OAO „Atomėnergoproekt“), Soveršenstvovanie sistemy passivnogo otvoda tepla čerez parogeneratory na reaktornoj ustanovke s VVĖR-1200 v svete sobytij na AĖS „Fukusima“, Sankt-Peterburg 2013, 1-2.
[47] GRS, Detaillierte Analyse und Bewertung der intac-Studie „Fachliche Bewertung der Transportstudie
Konrad 2010 von der GRS“ vom November 2012 Bericht im Rahmen des Vorhabens 3611R03300 Arbeitspaket 7 . Die Autoren des S4F-Berichts folgen offensichtlich der intac-Studie, die die GRS hier widerlegt.
[48] PreussenElektra, Jahresbericht 2020: Rückbau im Fokus, Übersicht, 7, https://www.preussenelektra.de/de/unsereaufgabe/Kraftwerkezurueckbauen.html
[49] W. D’haeseleer, Synthesis of the economics of nuclear energy, Leuven 2014, 145: “Especially the work by [Perrow, 1999] – which is an update of an earlier 1984 version – has been pertinent in “soft-science” circles. With a title ‘Normal Accidents’, it defends the thesis that systems are characterized by complex interactions and that accidents are just waiting to happen. As a matter of fact, it is interesting to see that analyses of almost-accidents make plenty of use of words like “could”, “should”, “might”, etc. Very rarely, quantitative estimates are made. In contrast to such viewpoint, the more technically-oriented literature quoted accepts that components and humans fail, leading to incidents, but they try to figure out what is the probability that such incidents evolve into accidents.”
[50] Gamboa Palacios / Jansen: Nuclear energy economics: An update to fact finding nuclear energy, Amsterdam 2018, https://repository.tno.nl/islandora/object/uuid%3A76dba37c-e6aa-493e-80c1-298faa63125e; D’haeseleer, Synthesis, 18-25; 33.43;152-160.
[51] IEA, Projected Costs of generating electricity, 2020, https://www.iea.org/reports/projected-costs-of-generating-electricity-2020.
[52] WNISR 2021, 87, 18. Infolge der Pandemiemaßnahmen verlängerten sich die Revisionsstillstände von KKW europaweit aufgrund von Restriktionen über die zulässige Anzahl von Fremdpersonal auf den Anlagen, Entflechtung von Wartungs-Workflows und Grenzschließungen, welche das stark internationalisierte Wartungsgeschäft beeinträchtigten: Eigene Beobachtung, KKW Grohnde, Revision 2020 (42 Tage statt 17 Tage).
[53] J. Lovering, A. Yipab, T. Nordhaus, Historical construction costs of global nuclear power reactors, in: Energy Policy 91 (2016), April 2016, 371-382, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0301421516300106; ETI Nuclear Cost Drivers Project – Full Technical Report, https://es.catapult.org.uk/report/nuclear-cost-drivers/).
[54] OECD / NEA 2019, The Costs of Decarbonisation: System Costs with High Shares of Nuclear and Renewables https://www.oecd.org/publications/the-costs-of-decarbonisation-9789264312180-en.htm; „Projected Costs of generating electricity“, https://www.iea.org/reports/projected-costs-of-generating-electricity-2020; Überblick in Peter Clack, Staffan Qvist et al., Evaluation of a proposal for reliable low-cost grid power with 100% wind, water, and solar, PNAS PNAS June 27, 2017 114 (26), 6722-6727; https://doi.org/10.1073/pnas.1610381114
[55] Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung / Fraunhofer ISE, Ariadne-Report: Deutschland auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045 – Szenarien und Pfade im Modellvergleich, Oktober 2021; N. Malik, Supply-Chain Woes Threaten to Drive Up Clean-Power Costs, Bloomberg, 28.10. 2021, https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-10-28/supply-chain-crisis-may-reverse-slide-in-renewable-power-costs?utm_content=energy&utm_campaign=socialflow-organic&cmpid%3D=socialflow-twitter-energy&utm_source=twitter&utm_medium=social; IEA 2019, Material efficiency in clean energy transitions, https://www.iea.org/reports/material-efficiency-in-clean-energy-transitions, 41-42; E. Sayed, T. Wilberforce, K. Elsaid, M. Rabaia, M. Abdelkareem, K. Chae, A. Olabi, A critical review on environmental impacts of renewable energy systems and mitigation strategies: Wind, hydro, biomass and geothermal, in: Science of The Total Environment 766 (2021), 144505, https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2020.144505. Vgl. auch das Dossier über die Problematik der Extraktionsindustrien für EE-Rohstoffe, in: Der Spiegel, 30.10. 2021
[56] S. 62: „Da die erstmalige Entnahme von Energie aus der Natur den Begriff Primärenergie definiert, stellt die von Photovoltaik, Windkraft und Wasserkraft erzeugte Elektrizität direkt Primärenergie dar“. Auf dieser Konvention beruht die Veranschlagung der 100%-Wirkungsgrade von Wind- und Solaranlagen. Der Wirkungsgrad ist aber eigentlich nur für thermische Kraftwerke, die Primärenergie in Form von Brennstoffen entnehmen und dann mit Wärmeverlusten in Strom umwandeln, eine aussagefähige Kenngröße.
[57] Rebound-Effekte können konservativ gerechnet bis zu 50% von Effizienzgewinnen wieder auffressen, vgl. die kritische Auseinandersetzung mit den Szenarien von Energiewende-Thinktanks: Michael Müller, Rainer Baake verspricht die Quadratur des Kreises, https://www.klimareporter.de/deutschland/rainer-baake-verspricht-die-quadratur-des-kreises.
[58] So Gamboa/Jansen, 2018, mit MIT 2018 bei 7,3 EUR-ct/kWh vs. Lazard 15,1 US-ct/kWh
[59] Laut Deutschem Atomforum betragen die Gesamtrückstellungen der deutsche AKW-Betreiber für den Rückbau 20 Milliarden Euro. 24 Milliarden Euro aus Rückstellungen mit Risikozuschlag haben die Betreiber an den staatlichen Endlagerfonds überwiesen und so die Verantwortung für die Endlagerung an den Staat abgetreten, https://www.kernd.de/kernd/themen/Entsorgung/finanzierung/05_index.php https://www.kernd.de/kernd/themen/Rueckbau/Finanzierung/05_index.php ; Laut Business Insider liegen die Rückbau-Rückstellungen bei 39 Milliarden Euro, https://www.businessinsider.de/wirtschaft/stichwort-die-atom-rueckstellungen-der-energiekonzerne-4753213/; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, WD 3 - 3000 - 312/14 (2015), Rückbau von Atomkraftwerken und Entsorgung radioaktiver Abfälle. Rechtsgrundlagen und Fragen der finanziellen Vorsorge.
[60] T. Kukkola / T. Saanio, ost estimate of Olkiluoto disposal facility for spent nuclear fuel, 2005: 2,542 Mrd. Euro, https://inis.iaea.org/search/searchsinglerecord.aspx?recordsFor=SingleRecord&RN=36090684; James Conca, “Finland Breaks Ground On World’s First Deep Geologic Nuclear Waste Repository”, Forbes, 31.05. 2021: 2,6 Mrd. Euro, https://www.forbes.com/sites/jamesconca/2021/05/31/finland-breaks-ground-on-its-deep-geologic-nuclear-waste-repository/?sh=26939b8d6103.
[61] P. Ausfelder et al.: »Sektorkopplung« − Untersuchungen und Überlegungen zur Entwicklung eines integrierten Energiesystems (Schriftenreihe Energiesysteme der Zukunft), München 2017, Abb. 17, 75; K. Kosowski / F. Diercks, Quo vadis, grid stability? Challenges Increase as Generation Portfolio Changes, atw-International Journal for Nuclear Energy atw Vol. 66 (2021), Nr. 2 (March), 16-26, gibt Battriespeicherkosten von 750 EUR/kWh für 2020, von 300 EUR/ kWh für 2030, zit. n. Brandstätt, C., Gabriel, J., Jahn, K., Peters, F.: Innovation Energiespeicher – Chancen der deutschen Industrie. Study Nr. 404. November 2018. Hans-Böckler-Stiftung. https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_404.pdf. Die LUT-Studie des S4F-Mitautors Breyer geht von wesentlich günstigeren Speicherkosten aus, siehe Datenblatt, 285, mit 134 EUR/kWh für 2030, vgl. Ram M., Bogdanov D., Aghahosseini A., Gulagi A., Oyewo A.S., Child M., Caldera U., Sadovskaia K., Farfan J., Barbosa LSNS., Fasihi M., Khalili S., Dalheimer B., Gruber G., Traber T., De Caluwe F., Fell H.-J., Breyer, C. Global Energy System based on 100% Renewable Energy – Power, Heat, Transport and Desalination Sectors. Study by Lappeenranta University of Technology and Energy Watch Group, Lappeenranta, Berlin, March 2019, Table A3, 285.
[62] „Die Szenarien, die von einem deutlichen Anstieg der Stromerzeugung von Kernkraft ausgehen, weisen im Regelfall mindestens eines der folgenden Merkmale auf: unrealistisch niedrige Investitionskosten für Kernkraft, deutlich veraltete und damit zu hohe Stromkosten aus Erneuerbarer Energien, und deutlich zu hohe Systemintegrationskosten von Erneuerbaren Energien insbesondere im Bereich Speicherung und Abregelung“.
[63] Peter Hennicke / Sascha Samadi / Tobias Schleicher, Ambitionierte Ziele, untaugliche Mittel: Deutsche Energiepolitik am Scheideweg (VDW-Materialien 1), Berlin 2011, https://www.yumpu.com/de/document/read/4500191/ambitionierte-ziele-untaugliche-mittel-deutsche-vdw
[64] Livia Pitorac , Kaspar Vereide, Leif Lia, Technical Review of Existing Norwegian Pumped
Storage Plants, in: Energies 2020, 13, 4918, 1-20. Die norwegischen PSW mit Gesamtkapazität von 5 TWh sind stark jahreszeiten-abhängige Speicherkraftwerke. Sie füllen in der Zeit der Schneeschmelze ihre Reservoirs und liefern dann in der Zeit geringer Durchflussraten der Flüsse zusätzlichen Strom. Der HGÜ-Interkonnektor Nordlink dient daher auch nicht der Stromspeicherung deutschen EE-Stroms in norwegischen PSW, sondern liefert in Windkraft-Überschusszeiten Strom für den norwegischen Direktverbrauch, während in dieser Zeit die norwegischen Wasserkraftwerke gedrosselt werden; aus ihnen bezieht dann auch Deutschland seinen Strom. https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/energie/ab-2020-fliesst-strom-wind-sonne-nordsee/.
[65] Ausfelder et al.: »Sektorkopplung« – Optionen für die nächste Phase der Energiewende, München 2017 (=Acatec ENSYS-Sektorenkopplungs-Studie 2017), Abb. 7, Strombedarf beim Szenario 85% CO2-Reduktion in 2050, 39; Fraunhofer ISE 2020, Strombereitstellung nach Erzeuger, Szenario „Referenz“ („kostenoptimales Transformations-Szenario mit Atomausstieg 2022, Kohleausstieg 2035, ohne ein ausgeprägtes gesellschaftliches Verhalten hinsichtlich Akzeptanz für Veränderungen oder ein geändertes Konsumverhalten.
[66] Versicherungsforen Leipzig, Berechnung einer risikoadäquaten Versicherungsprämie zur Deckung
der Haftpflichtrisiken, die aus dem Betrieb von Kernkraftwerken
resultieren. Studie im Auftrag des Bundesverbandes Erneuerbarer Energien, https://www.bee-ev.de/fileadmin/Publikationen/Studien/110511_BEE-Studie_Versicherungsforen_KKW.pdf
[67] UNSCEAR, UNIS/OUS/419, 9 March 2021. Selbst die konservativen und frühen Annahmen über Tschernobyl (9000-33.000 Krebsopfer), vgl. Übersicht in D’haeseleer, Synthesis, 148, bleiben weit unter den Annahmen der Leipziger Versicherungsstudie zurück. Reaktorbetriebsjahre nach: World Nuclear Association, Nuclear Power in the World Today (Updated October 2021), https://world-nuclear.org/information-library/current-and-future-generation/nuclear-power-in-the-world-today.aspx. Literaturüberblick zu Kriminalität in der Nuklearindustrie in WNISR 2021, 2018-2035.
[68] Angaben nach Preiss et al. 2013, S. 18; die Freisetzungsrate leigt 5-10mal darunter, also im Bereich 10E-7/ra.
[69]Versicherungsforen Leipzig, 45; 62-80; Anhang viii-ix. Übersichten über CDFs deutscher KKW nach verschiedenen Studien auf S. 79. Der EPR liegt bei Freisetzungsfrequenz (LERF) zwischen 5*10E-9 und 1*10E-7/ra (vgl. D’haeseleer, Synthesis, 143), da wäre der Unterschied also noch größer.
[70] Überblick des Forschungsstandes zur Industrie- und KKW-Versicherung: D‘haeseleer
[71] D’haeseleer, Synthesis, 155-160; World Nuclear Associaltion, Liability for Nuclear Damage (Updated March 2021) https://world-nuclear.org/information-library/safety-and-security/safety-of-plants/liability-for-nuclear-damage.aspx.
[72] Die Autoren stützen sich dabei größtenteils auf Publikationen ihrer Mitautoren vom DIW, so B. Wealer et al.,Investing into third generation nuclear power plants - Review of recent trends and analysis of future investments using Monte Carlo Simulation, Renewable and Sustainable Energy Reviews, Volume 143, June 2021, 110836.
[73] Bundesrechnungshof, Bericht nach § 99 BHO zur Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit bei Elektrizität, Berlin 2021, 5: „Eine Studie aus dem Jahr 2016 geht davon aus, dass in den Jahren 2000 bis 2025 einschließlich der Netzausbaukosten insgesamt rund 520 Mrd. Euro für die Energiewende im Bereich der Stromerzeugung aufgebracht werden müssen. Der Bundesrechnungshof schätzte die der Energiewende zurechenbaren Ausgaben und Kosten allein für das Jahr 2017 auf mindestens 34 Mrd. Euro.“
[74] T. Kukkola / T. Saanio, ost estimate of Olkiluoto disposal facility for spent nuclear fuel, 2005: 2,542 Mrd. Euro, https://inis.iaea.org/search/searchsinglerecord.aspx?recordsFor=SingleRecord&RN=36090684; James Conca, “Finland Breaks Ground On World’s First Deep Geologic Nuclear Waste Repository”, Forbes, 31.05. 2021: 2,6 Mrd. Euro, https://www.forbes.com/sites/jamesconca/2021/05/31/finland-breaks-ground-on-its-deep-geologic-nuclear-waste-repository/?sh=26939b8d6103.
[75] Mitautor Christian Breyer fordert überdies in den Schlussfolgerungen der LUT-Studie (deren Befunde wiederum in das Papier einflossen), dass Ausschreibungsverfahren ohne Zusatzfinanzierung für EE wieder durch Einspeisevergütungen ersetzt werden sollten, womit aber eines der wichtigsten Argumente zugunsten der Reife von EE für liberalisierte Strommärkte wieder entfiele: Ram et al (2019), XII, Policy recommendations.
[76] Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/8084, 16, Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Siegmar Mosdorf auf die Anfrage des Abgeordneten Dr. Paul Laufs (CDU) vom 15. Januar 2002.
[77] Ram et al. 2019, 283, Table A3: Technical and financial assumptions of energy system technologies used in the energy transition from 2015 to 2050, nennt für zukünftige Dach-PV Lebenszeiten 40a (heute: 20-25a) und für KKW ebenfalls 40a, was im einen Falle der einen Zukunftsprojektion eine optimistische, im Falle der anderen Projektion eine pessimistische Annahme ohne Berücksichtigung der Lebenszeiten neuer Anlagen sowie laufzeitverlängerter Anlagen ist, die auf bis zu 80a veranschlagt werden, vgl. U.S. Office of Nuclear Energy,
What's the Lifespan for a Nuclear Reactor? Much Longer Than You Might Think, April 16, 2020, https://www.energy.gov/ne/articles/whats-lifespan-nuclear-reactor-much-longer-you-might-think. Von den S4F-Autoren zitiert wurde der Aufsatz, der aus dieser Studie abgeleitet wurde, D. Bogdanov et al., Low-cost renewable electricity as the key driver of the global energy transition towards sustainability, in: Energy 227 (2021), 15 July 2021, 120467, 1-12. Auch der Hauptautor der S4F-Studie, Wealer, wird mit einer Publikation zitiert, in der mit einer Monte-Carlo-Simulation die Kosten von KKW-Neubauten ermittelt wurden: B. Wealer et al.,Investing into third generation, deren Eingangsdaten in einer Power-Point-Präsentation öffentlich einsehbar sind: B. Wealer, C. v. Hirschhausen, C. Kemfert, “Economics of Nuclear Power Plants:Review of recent trends and analysis of future trends, https://www.greenpeace.org.94fc739-wealer_ppt.pdf. Hier werden 60 a veranschlagt.
[78]Gov.UK, press release 26.10. 2021, New finance model to cut cost of new nuclear power stations, https://www.gov.uk/government/news/new-finance-model-to-cut-cost-of-new-nuclear-power-stations; Dieter Helm, Utility Regulation, the RAB and the Cost of Capital, SLIDES Competition Commission Spring Lecture 2009, http://www.dieterhelm.co.uk/regulation/regulation/utility-regulation-the-rab-and-the-cost-of-capital-2/,
[79] Lovering, Yipab und Nordhaus 2016.
[80] Ausfelder et al., Sektorkopplung, 51 Abb. 12: „Zusammensetzung der chemischen Energieträger (einschließlich Biomasse) in den Modellrechnungen im Jahr 2050“ sieht im günstigsten Fall rund 400 TWh Erdgas, im ungünstigsten rund 1100 TWh. Philip Sterchele et al. (Fraunhofer ISE), 2020 (überarb. 2021) Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem. Die deutsche Energiewende im Kontext gesellschaftlicher Verhaltensweisen, S. 5: „Und nicht zuletzt wird auch langfristig eine Kapazität regelbarer Stromerzeuger benötigt, insbesondere hochflexible Gasturbinen, deren installierte Leistung zwischen 100 GWel und über 150 GWel liegt“.
[81] Rauli Partanen, Eine Milliarde Tonnen. CO2 -Ausstoß senken und Deutschlands Kohleausstieg beschleunigen, Abb. 10, S. 45.
[82] https://app.electricitymap.org/map, CO2-Bilanz Stromverbrauch, Jahresaufstellungen. Exemplarische Einsichtnahmen für Sommer- und Winterhalbjahr: 04.08. 2021: Frankreich 33 g/kWh, Deutschland 406 g/kWh; 01.11. 2021, 02. 11. 2021 jeweils 19:00 Uhr: Frankreich 52 g / 98 g CO2/kWh, Deutschland 312 g / 447 g.
[83] Partanen, Eine Milliarde Tonnen, 6.
[84] Die von den Autoren zitierte kritische Studie, die auf Komponentenverschleiß abhebt, ist Reinhard Grünwald / Claudio Caviezel (Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag), Lastfolgefähigkeit deutscher Kernkraftwerke. Hintergrundpapier Nr. 21, Berlin März 2017, https://www.tab-beim-bundestag.de/de/pdf/publikationen/berichte/TAB-Hintergrundpapier-hp021.pdf; nicht zitiert werden die Studien, welche die Betriebserfahrung auswerten und zu günstigen Schlussfolgerungen kommen: Holger Ludwig, Tatiana Salnikova und Ulrich Waas, Lastwechselfähigkeiten deutscher KKW, in: Sonderdruck aus Jahrgang 55 (2010), Heft 8/9 August/September Internationale Zeitschrift für Kernenergie, 2–9; mit Einbeziehung von Erkenntnissen über neue Reaktorleistungsregelung: Kuhn, Andreas / Peter Klaus, Improving automated load flexibility of NPP with ALFC, in: VGB PowerTech 96 (2016), Nr. 5, 48–52; Kosowski / Diercks (2021), Quo vadis; Internationale Übersicht: Aliki van Heek, Hybrid systems: mixing things up, in: Nuclear Engineering International, 20.06.2019, https://www.neimagazine.com/features/featurehybrid-systems-mixing-things-up-7267616. Außerdem A.V. Wendland, eigene Aufzeichnungen der Anlagenparameter in Lastfolge in Primär- und Sekundärregelung im KKW Grohnde (konstante KMT, variabler FDD), 18.-22.10. 2021, Laborbuch Bd. X; Einsichtnahme Aufstellung des Wärmetechnischen Büros, Leistungsverlauf der PreußenElektra-KKW vom 14.-20.10. 2021; Land Schleswig-Holstein, Fragen und Antworten zu überhöhten Oxidschichtdicken an Brennstäben im Kernkraftwerk Brokdorf https://www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/R/reaktorsicherheit/faq_KKW_Brokdorf_Oxidschichtdicken.html; KKW Grohnde, Informationsgespräch Bereichsleiter Produktion über Lastfolge und Oxidschichten, 15.06. 2017, LBA VII, 3.
[85] R. Partanen,2021.
[86] Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation, Hauptgutachten 2011 des WBGU, https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-gesellschaftsvertrag-fuer-eine-grosse-transformation, 87-89.
[87] So Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, https://www.base.bund.de/DE/themen/kt/ausstieg-atomkraft/ausstieg_node.html, aber auch Pressemitteilung des Nationalen Begleitgremiums vom 05.06. 2019: „Der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland ist in einem breiten politischen Konsens beschlossen worden. Das Ende ist gesetzlich auf 2022 festgeschrieben. In diesem Zusammenhang ist auch die Suche nach einem Endlager auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt worden. […]Wer jetzt einer Verlängerung der Laufzeiten das Wort redet, bringt den Klimaschutz nicht voran. Aber er setzt leichtfertig den erzielten Kompromiss zum Ausstieg aufs Spiel und gefährdet das schwierige Unterfangen, einen Standort für die Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle zu finden“. Die Beschlussvorlage für die 56. Sitzung des NBG am 05.11. 2021 wiederholt die Darstellung der „Konsensgefährdung“, versucht aber, das NBG aus der Debatte herauszuhalten: „Dieser nationale Konsens steht auf dem Spiel, wenn der Atomausstieg um des Klimaschutzes willen rückgängig gemacht würde. Man könnte jedoch auch argumentieren, dass der im Standortauswahlgesetz definierte Auftrag des Nationalen Begleitgremiums unabhängig von der Frage einer Rückkehr zur Kernenergie bestehe, da ein Endlagerstandort für die hoch radioaktiven Abfälle in jedem Fall gefunden werden muss. Eine Positionierung des Gremiums zu den Forderungen, den Atomausstieg aus Gründen des Klimaschutzes rückgängig zu machen, erscheint daher nicht zwingend notwendig. Zu bedenken ist auch, ob bei einer Positionierung die dem NBG im Standortauswahlgesetz zugewiesene vermittelnde und unabhängige Rolle gewahrt würde.“ beide in: NBG, Unterlage zu TOP 6 /56. Sitzung des NBG „Wie verhält sich das NBG zu neuen Forderungen, den Atomausstieg um des Klimaschutzes willen rückgängig zu machen? (Diskussion, Beschluss: Markus Dröge)“, https://www.nationales-begleitgremium.de/SharedDocs/Bildergalerien/DE/Bildergalerien_Sitzungen/BG_56-NBG-Sitzung_5_11_2021.html;jsessionid=3C4D4000DF7BCCEE8320A621FFE925DC.intranet242.
[88] Relevant sind hier die Leitlinien 11 und 12 (Methoden und Darstellung von Forschungsergebnissen). https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rahmenbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf
[89] Erklärung der S4F-Öffentlichkeitsarbeit am 27.10. 2021 auf Twitter: „Wir als S4F werden oft gefragt: "Ist Kernenergie eine Technologie zur Lösung der #Klimakrise?" Kurz gesagt: Nein.“
[90] Übrigens folgen die Autoren ausweislich Fn. 246 nicht einmal dem IPCC-Befund von 12g CO2/kWh Medianwert, sondern wählen den Mittelwert einer Outlier-Studie (Sovacool 2008) von 66 g kWh, die von veralteten, stromfressenden Verfahren bei der Urananreicherung ausgeht. .
[91] S. 14: „Wenn, wie in Deutschland, ein Zielkorridor bis zur Klimaneutralität 2035 –
2045 vorausgesetzt wird”
[92] OECD/NEA, Climate Change, 11.
[93] P. Kharecha, M. Sato, Implications of energy and CO2 emission changes in Japan and Germany after the Fukushima accident, Energy Policy, Volume 132, September 2019, 647-653
[94] Stellungnahme von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu den Protesten für mehr Klimaschutz – #Scientists4Future: Die Anliegen der demonstrierenden jungen Menschen sind berechtigt, https://de.scientists4future.org/ueber-uns/stellungnahme/. (März 2019)
[95] Was wir tun - Mission Statement der S4F, https://de.scientists4future.org/