von Amardeo Sarma
Seit Ende März informieren wir als GWUP über Mythen und Verschwörungstheorien rund um die Coronakrise. Das ist ein Kernbereich der GWUP, bei der wir mit besonderer Kompetenz sprechen und schreiben können. Zudem zeigen wir Grafiken über die Entwicklung der Pandemie, sowohl in Deutschland, als auch anderswo in der Welt. Zuvor hatten Nikil Mukerji und ich in einem Beitrag die Wichtigkeit von Wissenschaft und Fakten betont.
Was bleibt jetzt, fast einen Monat danach, zu sagen?
Die GWUP als Organisation ist keine Fachstelle für Virologie oder Epidemiologie. Wir können aber nach unseren Grundsätzen fordern, dass sich Politik und Entscheidungsgremien an den Erkenntnissen der Wissenschaft und an Fakten ausrichten. Was wir nicht können, ist, empfehlen, welche konkreten Maßnahmen getroffen werden sollten. Auch unsere Beiträge im Blog, hier auf dieser Seite oder im Skeptiker reflektieren unseren Anspruch, zuverlässige Informationen zu liefern und eine rationale Diskussion zu fortzuführen.
Wissenschaft und Forschung
Die Forschung hat in den vergangenen 200 Jahren enorme Erkenntnise zur Entstehung und Entwicklung von Krankheiten gewonnen. Viele Infektionskrankheiten, die früher für die Betroffenen das Todesurteil bedeuteten, wurden besiegt. Andere noch nicht oder nicht vollständig, wie Influenza, Malaria oder nun Covid-19.
Das Coronavirus SARS-CoV-2 ist neu. Manches über die Infektionswege wissen wir, vieles aber noch nicht. Hier sind wir weit vom Forschungsstand zu Influenza entfernt, für die es Impfungen gibt und gegen die viele Menschen eine Grundimmunität besitzen. Konkret heißt das für alle, nicht nur uns, dass wir derzeit in einem Umfeld von großen Unsicherheiten agieren und informieren müssen.
Politik und Wissenschaft müssen jetzt alles tun, um zu besseren Grundlagen für Entscheidungen zu gelangen. Zum Beispiel müssen die Testkapazitäten um Größenordnungen ausgebaut werden. In die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen muss massiv investiert werden. Alles Geld, das wir jetzt für Forschung und Wissenschaft ausgeben, ist angesichts der völlig unüberschaubaren Kosten eines weitreichenden und langandauernden Lockdowns gut angelegt.
Quellen
Wo finden wir aber den Stand der Forschung am besten wiedergegeben? Welche Quellen sind vertrauenswürdig und zuverlässig?
Institutionen in Deutschland und weltweit, wie das Robert-Koch-Institut und die Weltgesundheitsorganisation WHO, sind sehr gute Adressen für verlässliche Informationen zu Infektionskrankheiten, auch mit dem Wissen darüber, das wir weiterhin mit Unsicherheiten leben müssen. Nebenbei: Das hält uns nicht von Kritik ab, wo wir das Fachwissen haben, wenn etwa die WHO Pseudomedizin mit dem Etikett "traditionell" zu verkaufen versucht.
Sehr gute Übersichten der Datenlage liefert Our World in Data, auf die wir auch in unserer Zusammenstellung verweisen.
Nicht empfehlenswert sind gerade in einer solchen dringlichen Situation Außenseitermeinungen, wie die von Wodarg, Bhakdi und Co. Diese gehen über einen gewöhnlichen Dissens, auch unten normalen Umständen, hinaus.
Die Politik
Es ist durchaus verständlich, dass die Politik und ihre Entscheidungsgremien nicht die neuesten Forschungsergebnisse in Fachpublikationen abwarten können, die Monate, wenn nicht Jahren für ihrem Peer-Review-Prozess benötigen. Da wir es mit einem akuten Problem zu tun haben, sind Handlungen nach Szenarien in Richtung „worst case“ durchaus nachvollziehbar.
Grundsätzlich ist deshalb auch der Lockdown in Deutschland nachvollziehbar. Es ist gut, dass dabei Politik und Entscheidungsgremien den Stand der Wissenschaft berücksichtigen und Rat bei fachkundigen Fachleuten einholen. Die deutsche Bundesregierung steht derzeit besser da als die Regierungen anderer EU-Staaten. Sie hat zwar vergleichsweise spät reagiert, aber Deutschland scheint im Gegensatz zu anderen EU-Staaten derzeit keinen Mangel an Behandlungsplätzen für schwer Erkrankte zu haben. Allerdings haben viele asiatische Staaten, wie Südkorea, deutlich besser auf die Krise reagiert. Es kann daher nicht schaden, den deutschen oder europäischen Hochmut beiseite zu schieben und von den Erfahrungen anderer zu lernen - auch was die Rückkehr zur Normalität angeht.
Gleichzeitig wäre es falsch zu fordern, "die Wissenschaft" solle der Politik oder den Entscheidungsgremien die Marschrichtung vorgeben. Fachleute sollten ihren Fokus darauf legen, was belegt ist, und auch Unsicherheiten klar benennen. Für die anschließende Abwägung aller Interessen ist dann die Politik verantwortlich, nicht die Wissenschaft. Dabei können aus der Wissenschaft selbstverständlich Lösungsvorschläge kommen, wenn klar ist, welches Ziel erreicht werden soll. Sie ist aber nicht für die Zielsetzung verantwortlich.
Die Diskussion
Kritik ist eine gute demokratische und wissenschaftliche Selbstverständlichkeit. Sie sollte aber rational sein. Man kann mit guten Gründen die staatlichen Maßnahmen auch kritisieren - ohne Covid-19 als "simple Grippe" zu verharmlosen, wie Wodarg, Bhakdi und Co. das zu Unrecht tun.
Richtig ist, dass jede Maßnahme, wie jede Medizin, auch Nebenwirkungen hat und nicht im luftleerem Raum steht. Einige Beispiele von vielen:
- Wenn Plätze mit intensivmedizinischer Betreuung für Corona-Patienten freigehalten werden, können andere eventuell nicht behandelt werden, auch bei dringenden Indikationen. Bei vielen fallen Rehas aus, Operationen werden verschoben, Behandlungen verschleppt. Eine Diskussion um Prioritäten müssen wir führen, denn andere Krankheiten machen in dieser Zeit nicht Pause.
- Ein "Shut Down" mag für Menschen wie mich mit der Option von Home Office ok sein und hat kaum Auswirkungen. Viele, nicht nur im öffentlichen Dienst, werden diese Krise ohne Verlust von Einkommen und Job durchstehen können. Für andere steht ihre Existenz im Spiel. Die Maßnahmen treffen diejenigen mit geringem Einkommen am härtesten.
- Wie bekommen wir das Problem häuslicher Gewalt und andere Folgen von Isolation, etwa Depressionen, Suchtgefahr etc., in den Griff?
- In Afrika und anderswo können bestimmte Maßnahmen bedeuten, dass Menschen verhungern. Viele Länder werden Entscheidungen treffen müssen, die zwischen schlecht und etwas weniger schlecht liegen.
- Was ist mit dem Austausch von Waren? Ist es ethisch vertretbar, wenn Europa und Amerika große Mengen von medizinischem Material aus Asien kaufen und Afrika das Nachsehen hat? Können und sollen wir dagegen den Import aus Asien und Afrika stoppen oder einschränken, wenn Bauern, Näherinnen und andere Menschen dadurch ihre Lebensgrundlage verlieren?
- Wenn manche mit ihren „Entschleunigungs“-Ratschlägen andere beglücken wollen und Durchhalteparolen predigen, kann man kritisch nachfragen. Die Leidtragenden sind dabei meist die anderen. Die Mehrheit kann nicht ins Home Office wechseln und kann die „Sehnsucht des satten Millieus“ nur als Hohn empfinden.
Das Problem ist vielschichtig, mit sehr vielen widerstrebenden vitalen Interessen. Man kann also durchaus hinter den bisherigen staatlichen Maßnahmen stehen, aber diese im Detail kritisieren oder auch fordern, dass wir wissenschaftlich abgesicherte Exit-Szenarien brauchen und in diese auch massiv investiert werden sollte.
Es ist keine Aufgabe und auch außerhalb der Kompetenz der GWUP, Lockerungen allgemeiner oder spezieller Art zu fordern. Wir können aber fordern, nicht eindimensional zu denken und auch über die Nebenwirkungen der Maßnahmen nachzudenken. Letztere dürfen am Ende nicht schädlicher sein als die Wirkung. Es ist auch nicht gerechtfertigt, Dissens und Fragen nach Ausstiegs- oder auch Worst-Case-Szenarien einfach zurückzuweisen.
Langfristiges, echtes Risikomanagement
Wir wissen um die Problematik einer möglichen Pandemie seit mehr als einem Jahrzehnt, doch echte Vorsorge gegen realistische Risiken und ein angemessenes Risikomanagement wurden in Deutschland und Europa vernachlässigt. Es wäre zu hoffen, dass wir den Rat u.a. von Bill Gates aufnehmen, um auf die nächste Pandemie besser vorbereitet zu sein. Das wird massive Investitionen brauchen, nicht nur in das Gesundheitssystem, sondern in Fertigungsanlagen für Testverfahren, Medikamente und Impfstoffe.
Ja, und wir können uns ähnliche Fragen auch zum Beispiel über einen möglichen Asteroideneinschlag stellen, wie auch andere, seltene Ereignisse, für die wir jetzt ein Risikomanagement - womöglich weltweit - aufbauen sollten.
Meine langfristige Empfehlung, bei der auch persönliche Prioritäten eine Rolle spielen wären:
- Es ist wichtig, essentielle Gefahren für die Menschheit zu erkennen, für die wir mit einem entsprechenden Risikomanagement vorsorgen können, wie Bill Gates in Sachen Pandemie fordert. Die nächste kann schlimmer und auch nicht natürlicher Art sein. Auch andere existentielle Gefahren, wie ein hoffentlich abzuwendeder Asteroideneinschlag oder der Ausbruch eines Supervulkans, werden eines Tages wieder vorkommen, vielleicht auch zu unsere Lebzeiten. Wir brauchen eine globale Liste solcher Gefahren, zu der auch die unweigerlich bevorstehende, vermutlich sehr starke Belastung der Menschheit und der Umwelt durch die anthropogene Klimaveränderung gehört.
- Wir sollten dagegen unsere absurden Null-Risiko-Szenarien zur Befriedung mancher Ideologien in die Tonne werfen. Ganz oben auf der Liste wäre die bewusste Abkehr von Schein-Risiken, die sich unter anderem im Kennzeichnen von Lebensmittel als „ohne Gentechnik“ offenbaren. Eine solche Ablehnung wichtiger Technologien bringt Gesundheit und Umwelt gar nichts und gefährdet zudem das Leben und die Gesundheit andernorts, wie in Asien oder Afrika. Da hat Deutschland und Europa der Welt einen Bärendienst erwiesen.
- Wir müssen besser, viel besser auf die nächste Krise bzw. Katastrophe vorbereitet sein und die notwendige Infrastruktur inklusive Fertigungsanlagen, potentielle Gegenmaßnahme und genügend Fachleute aus der Wissenschaft und anderswo "in Reserve" haben, die notfalls im Krisenfall verfügbar wären und von ihren sonstigen Aufgaben angezogen werden können. Bevorzugt wäre eine globale Vorgehensweise, und nur, wenn es nicht geht, auf europäischer oder gar nur auf nationale Ebene. Das bedeutet Geld, viel Geld, das im Moment wie eine unnütze Ausgabe aussieht. Hier heißt es: "better safe than sorry". Das wäre ein echtes Vorsorgeprinzip, nicht die derzeitige Variante, die auf völlig nebensächliche, minimale und nicht vorhandene Risiken starrt und in Sachen Zukunft insgesamt kontraproduktiv ist.
- Solche Aufgaben können nur Staaten und überstaatliche Organisationen annehmen. Sie haben in der Vergangenheit nicht immer ein gutes Bild abgegeben, aber andere, wirksamere Mechanismen haben wir nicht. Selbst einem Donald Trump blieb am Ende bei der Coronakrise nicht anderes übrig als "sozialistischer Staatsdirigismus". Weder der freie Markt noch eine Basisdemokratie können uns bei solchen Krisen helfen. Das bedeutet nicht, dass sie nicht in anderen Bereichen denkbare und gute Lösungen hervorbringen können, aber das wäre eine andere, politische Auseinandersetzung.
Selbstredend müssen andere in der GWUP diesen Empfehlungs-Teil nicht mit vertreten. Auch der gesamte Text sollte nicht als formal abgestimmte Meinung der GWUP verstanden werden.