Sprache und Gehirn
Symposium turmdersinne 2006
Inge Hüsgen
Jahrzehnte ist es her, seit der Schüler Werner seine Religionslehrerin erschreckte, indem er von "Johannes dem Teufel" sprach. Dabei ging es ihm gar nicht ums Provozieren. Es war auch kein Versprecher, sondern ein Verhörer. Der Junge hatte schlichtweg das ihm unverständliche Wort "Täufer" durch ein geläufiges ersetzt. Heute erforscht Werner Deutsch die Verhörer von Kindern. Beim 2006er Symposium turmdersinne stellte der Braunschweiger Professor für Psychologie seine Forschungen vor.
Das Prinzip dürfte allen Besuchern des Erlebnis-Museums turmdersinne geläufig sein: Unser Gehirn bildet Sinneseindrücke nicht einfach ab, sondern interpretiert sie. Einer von vielen guten Gründen, das Symposium 2006 dem Thema Sprache und Gehirn zu widmen. Unter dem Titel "Neuronen im Gespräch" sprachen 14 Referenten über aktuelle Erkenntnisse aus ihren Fachgebieten. Das Programm stellte der turmdersinne in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften zusammen.
Sprache begleitet den Menschen von Anfang an. Babys lernen sprechen, indem sie größere Kinder und Erwachsene beobachten, Blickkontakt aufnehmen und sich gemeinsam mit den Großen einem Objekt zuwenden. Sie zeigen "geteilte Aufmerksamkeit", wie die Entwicklungspsychologen sagen. Doch das System ist anfällig für Störungen. Bei autistischen Kindern fehlt die geteilte Aufmerksamkeit. Die Sprachentwicklung ist verzögert, Therapien zeitigen nur wenig Erfolg, erklärte Stefanie Höhl vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften.
Auch Patienten mit Aphasie (Sprech oder Sprachverstehensstörung), wie sie oft infolge eines Schlaganfalls auftritt, müssen mit einer dauerhaften Schädigung des Sprachvermögens rechnen, wie der Aachener Neurolinguistik-Professor Walter Huber in seinem Vortrag erklärte. Zwar bildet sich die Störung bei der Hälfte der Betroffenen im Laufe eines Jahres wieder zurück, auf die anderen wartet ein mühsamer Kampf um die Wiedererlangung der Sprache.
Wissenschaftler interessieren sich gerade für derartige Störungen des Sprechvermögens, denn sie erlauben Rückschlüsse auf die normalen Prozesse. Ein solcher Fall stand auch am Anfang der Neurolinguistik. Der Patient ging unter dem Namen "Tan" in die Geschichte ein, benannt nach der einzigen Silbe, die er nach einem Schlaganfall noch sprechen konnte, während andere intellektuelle Fähigkeiten unverändert geblieben waren.
Nach "Tans" Tod, in den 1860er Jahren, stellte der Chirurg Paul Broca eine Läsion in einer bestimmten Region der Großhirnrinde fest. Heute nennt man diese Hirnregion zu Ehren des Forschers Broca-Areal. Für das Sprachverständnis ist das wenige Jahre später entdeckte Wernicke-Areal zuständig. Beide sind vielfältig mit anderen Hirnregionen vernetzt.
Und sie ermöglichen offenbar Einzig artiges. Denn von allen Lebewesen besitzt der Mensch wohl als einziges die vollständige Fähigkeit zur Sprache. Bei der lautlichen Kommunikation von Tieren haben Forscher allenfalls einzelne sprachliche Elemente entdeckt, nicht aber komplexe Symbolsysteme, wie sie menschliche Sprache kennzeichnen. Eines aber fehlt im Tierreich völlig, so Manfred Bierwisch, Pionier der strukturellen Grammatik in Deutschland, in seinem Vortrag: "Wir Menschen können über alles sprechen, was eine begriffliche Struktur hat - auch über die Sprache selbst. Diese so genante Metasprache spiegelt das bewusste Denken wider." Beim Sprechen und Sprachverstehen leistet das Gehirn Enormes - von Anfang an. Die Fähigkeit dazu muss im Genom angelegt sein, vermutet Bierwisch, "irgendwo in den wenigen Prozent, die uns vom Schimpansen unterscheiden."
Angesichts dieses geringen genetischen Unterschieds dürfte nicht nur Julia Fischer vom Deutschen Primatenzentrum überrascht sein, dass sich die lautliche Kommunikation von Menschen und Tieren so stark unterscheiden. Die Ergebnisse ihrer Forschungsgruppe "Kognitive Ethologie" fasste sie folgendermaßen zusammen: "Wir haben viel mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten gefunden."
Dennoch werden nicht-menschlichen Primaten immer wieder verblüffende Sprachfähigkeiten zugeschrieben. Das Schimpansenweibchen Washoe wurde in menschlicher Obhut aufgezogen und lernte über hundert Zeichen der amerikanischen Gebärdensprache (ASL). Ver schiedenen Berichten zufolge kombinierte Washoe diese selbständig zu neuen Begriffen. Zur Bezeichnung eines Schwans soll sie etwa das zusammenge setzte Wort "water-bird" erfunden
haben. Solche Kombinationen gelten als charakteristisch für menschliche Sprache. Nicht nur deshalb zeigte sich Julia Fischer skeptisch gegenüber Washoes angeblicher Sprach-Kreativität. Die Daten seien nicht sauber ausgewertet worden, bemängelte die Verhaltensforscherin.
Dennoch entdecken die Forscher bei Tieren bisweilen intellektuelle Fähigkeiten, die man bislang dem Menschen vor behalten glaubte. Border-Collie "Rico" beispielsweise kennt die Namen von über 200 Spielzeugen und apportiert auf Zuruf das Gewünschte. Das eigentlich Verblüffende ist allerdings Ricos Fähigkeit zum "schnellen Zuordnen" oder "fast mapping". Der Hund kann die Bezeichnung des einzigen unbekannten Gegenstandes inmitten von sieben bekannten Objekten im Ausschlussverfahren ermitteln. Dies war bisher bei Tieren nicht bekannt.
Auch später erinnerte sich Rico noch an das Hinzugelernte. Selbst nach vier Wochen lag er noch in drei von sechs Durchgängen richtig. Bei einer Wiederholung des Versuchs nach zehn Minuten schaffte er sogar vier von sechs Treffern. Insgesamt schnitt Rico etwa so gut ab wie ein drei jähriges Kind. Rico wurde bereits augenzwinkernd zum "Primaten ehrenhalber" befördert.
Wie es um die Forschung zur Sprache als Alleinstellungsmerkmal des Menschen bestellt ist, war Thema der abschließenden Podiumsdiskussion. Peter Indefrey vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen unterscheidet im gegenwärtigen Diskurs drei Positionen: Die erste beharrt auf der Sonderstellung des Menschen als "Krone der Schöpfung", und hat deshalb ein Interesse, ihm allein die Fähigkeit zur Sprache zuzusprechen.
Im Gegensatz dazu sieht die zweite Gruppe Mensch und Tier als gleichwertig an und ist deshalb schnell bereit, beiden Gruppen gleiche intellektuelle Fähigkeiten zuzusprechen. Indefrey plädiert allerdings für den dritten, wissenschaftlichen Ansatz einer objektiven Erforschungvon tierischen Fähigkeiten - gleichgültig, ob der Mensch sie ebenfalls besitzt Zustimmung kam von Julia Fischer: "Sonst erzählen wir einander nur noch Geschichten darüber, wie wir glauben ,dass die Welt ist."
Wie bereits bei den beiden letzten Symposien, werden auch diesmal die Vorträge in Buchform zusammengefasst. Das Erscheinen ist für Herbst nächsten Jahres geplant.
2007 feiert das Symposium turmdersinne sein zehnjähriges Jubiläum. Unter dem Titel "Nicht wahr? Sinneskanäle, Hirnwindungen und Grenzen der Wahrnehmung" geht es vom 5. bis 7. Oktober 2007 um das klassische Thema des
turmdersinne. Das Programm wird in enger Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen zusammengestellt.Mehr dazu unter www.turmdersinne.de. Dort finden Sie auch Infos und Materialien zum Symposium 2006.