Michael Shermer
Kann eine unerfahrene Person mit wenig Vorwissen glaubhaft als „Wahrsager" auftreten und Klienten zu deren Zufriedenheit beraten? Das testete der Wissenschaftshistoriker Michael Shermer in der amerikanischen „Skeptics Society" für eine populäre TV-Sendung.
Am Mittwoch, dem 15. Januar 2003, war ich in Seattle bei den Dreharbeiten für die neue Wissenschaftsserie „Eyes of Nye" des Senders PBS mit dem populären Moderator Bill Nye. Diese Serie ist eine auf Erwachsene ausgerichtete Version von Bills unglaublich erfolgreicher Kindersendung „Bill Nye the Science Guy". In der ersten Folge der neuen Erwachsenenreihe sollte es um „Medien" und um die Kontaktaufnahme mit Verstorbenen gehen. Obwohl ich diese Phänomene ausgiebig analysiert und darüber in Skeptic, im Scientific American, in meinem Buch „How we believe" und auf www.skeptic.com geschrieben hatte, hatte ich doch wenig Erfahrung darin, selbst Wahrsagesitzungen durchzuführen. Bill und ich dachten, es wäre ein guter Test, einmal auszuprobieren, ob eine unerfahrene Person mit wenig Vorwissen überzeugend als „Wahrsager" auftreten und Klienten erfolgreich beraten kann.
Wahrsagen als Improvisationstheater
Obwohl der Tag der Fernsehaufnahmen einige Wochen im Voraus angesetzt war, bereitete ich mich absolut nicht darauf vor. Das machte mich etwas nervös, denn Wahrsagen ist eine Form des
improvisierenden Schauspielens, das sowohl Talent als auch Erfahrung braucht. Und ich machte mir die Sache sogar noch schwerer, denn ich überzeugte den Moderator Bill Nye davon, dass wir eine ganze Reihe verschiedener Techniken verwenden sollten, unter anderem Tarotkarten, Handlesen, Astrologie und Hellseherei, weil all diese Methoden eigentlich nur „Requisiten" sind, um ein Psychodrama namens „Cold Reading" zu inszenieren, bei dem man in einer Person „kalt" (also ohne sie vorher zu kennen) wie in einem offenen Buch „liest". Ich bin nun noch mehr als zuvor davon überzeugt, dass Mogeln oder Betrügen (etwa indem man vorher Informationen über die Klienten einholt) kein notwendiger Bestandteil des erfolgreichen Wahrsagens ist.
Mogeln oder betrügen? Unnötig
Ich habe in der Sendung fünf verschiedenen Personen wahrgesagt, allesamt Frauen, die das Fernsehteam ausgewählt hatte und über die ich nichts weiter erfuhr als ihr Geburtsdatum (um ein Horoskop erstellen zu können). Ich hatte mit keiner der Versuchspersonen Kontakt, bis sie für die Aufzeichnung vor mir saßen. Wir sprachen nicht miteinander, bevor die Kameras liefen. Alles fand im Aufnahmestudio von KCTS statt, dem örtlichen Partner von PBS in Seattle. Da ein Aufnahmestudio in der Regel recht nüchtern wirkt, andererseits aber die Umgebung der Wahrsagesitzung ganz wesentlich dazu beiträgt, die Klienten positiv einzustimmen, hatte ich das Fernsehteam angewiesen, zwei bequeme Sessel und einen Tisch mit einer Tischdecke aufzustellen. Brennende Kerzen standen auf dem Tisch und um ihn herum, und darunter lag ein wunderschöner Perserteppich. Weiches, warmes Licht und Weihrauch erhöhten die spiritistische Anmutung der Räumlichkeiten.
Die Hauptquelle für meine Wahrsagekünste war Ian Rowlands einsichtsvolles und umfassendes Buch „The Full Facts Book of Cold Reading" (www.ian-rowland.com). Rowland betont darin, wie wichtig es ist, vor der eigentlichen Sitzung eine einnehmende Atmosphäre zu schaffen, damit der Klient dem „Cold Reading" gegenüber aufgeschlossen wird. Er schlägt vor - und genau so bin ich vorgegangen -, eine sanfte Stimme, einen ruhigen Umgang und eine sympathische, nicht-konfrontative Körpersprache anzunehmen: freundlich zu lächeln, ständig Augenkontakt zu halten, den Kopf beim Zuhören etwas zur Seite zu neigen und dem Klienten mit geschlossenen (aber nicht überkreuzten) Beinen und offenen Armen gegenüber zu sitzen. Aber: Zum „Cold Reading" gehört viel mehr, als mir vorher bewusst war - wie ich schnell merkte, als ich das Buch sorgfältig im Hinblick darauf las, „Cold Reading" wirklich selbst anzuwenden und nicht nur passiv zu analysieren. Bitte beachten Sie daher, dass alles, was ich im Folgenden beschreibe, nur eine ganz kleine Stichprobe aus diesem umfangreichen Kompendium eines professionellen „Cold Readers" ist, der zweifellos zu den Besten in diesem Metier zählt. Wenn Sie die Techniken des „Cold Reading" wirklich verstehen möchten, sollten Sie unbedingt dieses Buch vollständig lesen und nicht nur meine oberflächliche Wiedergabe.
Der „Psychische Intuitor" aus Hollywood
Ich eröffnete jede Sitzung, indem ich mich als „Michael aus Hollywood" und als „Psychischen Intuitor" vorstellte (das war Bills schlaue Abwandlung meiner ursprünglichen Version „psychisch intuitiv", was ungut war, denn wir brauchten ein knackiges Substantiv und keine Adjektive). Ich erklärte, dass meine „Klienten" mich wegen verschiedenster Fragen konsultierten, die ihnen schwer auf dem Herzen lägen (das Herz ist das beliebteste Organ für jeglichen New-Age-Nonsens), und dass es meine Aufgabe als „Intuitor" sei, meine besondere Gabe der Intuition anzuwenden. Eine Gabe, fügte ich hinzu, die jeder besitze, die ich aber durch langjähriges Training besonders ausgebildet hätte - um so Menschen zu helfen, den Weg durch die Unwägbarkeiten des Lebens zu finden.
Ich sagte ihnen, dass wir zunächst ganz allgemein einsteigen und uns dann auf Spezielleres konzentrieren würden, beginnend mit der Gegenwart, dann die Vergangenheit betrachtend und schließlich einen Blick in die Zukunft werfend. Außerdem wies ich darauf hin, dass wir Wahrsager die Zukunft nicht perfekt vorhersehen könnten - womit ich mich vorsorglich gegen Fehlprognosen absicherte -, denn wir sähen lediglich allgemeine Tendenzen und „Inklinationen" (ein astrologisches Schlagwort). Auf dieser Absicherung aufbauend, fügte ich noch ein wenig bescheiden klingenden Humor hinzu, der außerdem eine Bindung zwischen mir und den Klienten aufbauen sollte: „Sicher wäre es schön, wenn ich immer hundertprozentig Recht hätte. Aber niemand ist perfekt. Und wenn ich mit meinen übersinnlichen Kräften die Gewinnzahlen der nächsten Lottoziehung vorhersehen könnte, dann würde ich sie ohnehin für mich behalten." Schließlich erklärte ich, dass es viele Formen des Wahrsagens gebe, unter anderem mit Tarotkarten, Handlinien, Astrologie etc. Meine Spezialität sei ... - Und hier nannte ich jeweils genau die Technik, die ich beider jeweiligen Person anwenden wollte.
Geld, Liebe, Gesundheit
Da ich die Wahrsagerei nicht als Beruf ausübe, fehlte mir ein Repertoire an Dialogen, Fragen und Kommentaren, auf die ich zurückgreifen konnte. Also gliederte ich die Wahrsagesitzung anhand der folgenden, leicht zu merkenden Themen, die sich an den Hauptfragen orientieren, die für gewöhnlich Leute zum Wahrsager führen: Liebe, Gesundheit, Geld, Beruf, Reisen, Ausbildung und persönliche Ziele. Außerdem fügte ich Aussagen zur Persönlichkeit hinzu, denn die meisten Leute wollen etwas über sich selbst erfahren.
Ich hatte keine Zeit, all die trivialen Persönlichkeitsmerkmale auswendig zu lernen, mit denen Wahrsager um sich werfen, also nutzte ich das gut erforschte Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit, das wegen der englischsprachigen Anfangsbuchstaben der Faktoren auch als OCEAN-Modell bekannt ist: Offenheit (openness), Gewissenhaftigkeit (conscientiousness), Extroversion, Verträglichkeit (agreeableness) und Neurotizismus. Da ich mit meinem Kollegen Frank Sulloway Persönlichkeitsforschung betrieben habe (vor allem mit einer von uns entwickelten Methode, mit der wir mit Hilfe von Experteneinschätzungen die Persönlichkeit historischer Personen wie etwa Charles Darwin, Alfred Russell Wallace und Carl Sagan beurteilten), fiel es mir leicht, die verschiedenen Begriffe durchzugehen, die Psychologen zur Beschreibung dieser fünf Persönlichkeitsaspekte verwenden, zum Beispiel:
- Offenheit (Fantasie, Gefühle, mag gerne Reisen)
- Gewissenhaftigkeit (Kompetenz, Ordnungssinn, Pflichtgefühl)
- Verträglichkeit (nachgiebig/starrsinnig)
- Extroversion (Umgänglichkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Abenteuerlust)
- und Neurotizismus (Ängstlichkeit, Ärger, Depression)
Weil eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten diese Persönlichkeitsfaktoren validieren und weil ich durch Sulloways Erhebungen wusste, wie sie durch die Familiendynamik beeinflusst werden, konnte ich dieses Wissen in den Wahrsagesitzungen zu meinem Vorteil ausnutzen. Unter anderem konnte ich (mit erschlagender Wirkung) richtig feststellen, ob jemand als erster oder letzter in der Familie geboren wurde. Die Bestandteile der folgenden Wahrsagetexte kommen aus verschiedenen Quellen; die spezielle Anordnung ist mein eigener Beitrag.
Wahrsager und Hellseher verstehen es geschickt, das Selbstbild ihrer Klienten zu manipulieren, bis diese zu willigen Marionetten in einem schlechten Spiel werden. Vor allem die „Top 3" der Alltagsprobleme (Liebe, Geld, Gesundheit), aber auch Trauer um verstorbene Angehörige lassen Menschen für Trost und Ratschläge von „drüben" empfänglich werden. |
„Rücksichtsvoll, aber egoistisch. Diszipliniert, aber dabei locker"
Im Wesentlichen begann ich jede Sitzung mit diesen allgemeinen
Bemerkungen:
- „Sie sind eine sehr rücksichtsvolle Person und gehen gerne auf die Bedürfnisse anderer ein. Aber es gibt Zeiten, wo Sie - wenn Sie ehrlich sind - eine egoistische Ader in sich erkennen. Ich würde sagen, insgesamt können Sie ein ziemlich ruhiger und selbstgenügsamer Typ sein, aber unter den richtigen Umständen können Sie eine Party auch ganz schön in Schwung halten, wenn Sie in Stimmung sind."
- „Manchmal machen Sie aus Ihrem Herzen keine Mördergrube und geben zu viel von sich preis. Sie sind gut darin, die Dinge konsequent durchzudenken, und Sie möchten gute Gründe haben, bevor Sie Ihre Meinung ändern. Wenn Sie sich in einer ungewohnten Situation befinden, sind Sie sehr vorsichtig, bis Sie genau verstehen, was los ist. und dann handeln Sie mit Zuversicht."
- „Ich spüre auch, dass Sie jemand sind, auf den man sich im Allgemeinen verlassen kann. Keine Heilige, nicht perfekt, aber - sagen wir mal so - wenn es darauf ankommt, dann sind Sie absolut zuverlässig. Sie wissen, wie man anderen ein guter Freund ist."
- „Sie sind so diszipliniert, dass sie Ihren Mitmenschen stets kontrolliert erscheinen. Aber in Wirklichkeit fühlen Sie sich manchmal unsicher. Sie wünschen sich, Sie könnten ein bisschen ungezwungener und lockerer im Umgang mit anderen Personen sein, als Sie es jetzt sind."
- „Sie haben ein weises Verständnis für die Welt, eine Weisheit, die Sie durch manchmal unbequeme, harte Erfahrungen und nicht aus Büchern gewonnen haben."
Die Narbe am Knie ...
Nach Rowlands Erfahrung - und er liegt hier vollkommen richtig - ist die Aussage „Sie haben ein weises Verständnis für die Welt, eine Weisheit, die Sie durch manchmal unbequeme, harte Erfahrungen und nicht aus Büchern gewonnen haben" eine reine Schmeichelei. Dennoch nickte jede einzelne meiner fünf Versuchspersonen mit ganz heftiger Zustimmung bei diesem Satz und erklärte darüber hinaus, dass alle diese Aussagen ihre Persönlichkeit perfekt beschrieben. Nach den allgemeingültigen Sätzen und der Persönlichkeitsbeurteilung stürzte ich mich gleich auf die spezifischen Kommentare. Rowland erstellt in seinem Buch eine Liste von Vermutungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf jeden Menschen zutreffen. Einige betreffen zum Beispiel Gegenstände, die man in jedem Haushalt findet: Eine Schachtel mit alten Fotos, manche in Alben, manche nicht in Alben, Medikamente mit abgelaufenem Verfallsdatum, Spielsachen, Bücher, Erinnerungsstücke aus der Kindheit, Schmuck von einem verstorbenen Familienmitglied, ein Kartenspiel, bei dem möglicherweise einige Karten fehlen, elektronische Geräte, die nicht mehr funktionieren, ein Notizblock, bei dem der zugehörige Stift fehlt, eine alte Notiz am Kühlschrank oder neben dem Telefon, Bücher über ein Hobby, das man längst aufgegeben hat, ein abgelaufener Kalender, eine Schublade, die verkeilt ist oder sich nicht mehr reibungslos öffnen lässt, Schlüssel, von denen man nicht mehr weiß, wozu sie gehören, eine Uhr, die nicht mehr geht.
Dazu nennt Rowland noch einige persönliche Merkmale: Narbe am Knie, die Zahl 2 in der Adresse, Unfall in der Kindheit im Zusammenhang mit Wasser, Kleidung, die nie getragen wurde, Foto einer nahe stehenden Person in der Brieftasche, lange Haare in der Kindheit, später dann eine andere, angepasstere Kurzhaarfrisur, einzelner Ohrring ohne das passende Gegenstück dazu etc.
... und das weiße Auto
Einen eigenen Satz fügte ich bei allen fünf Klientinnen mit großem Erfolg hinzu: „Ich sehe ein weißes Auto." Alle meine Versuchspersonen konnten mühelos eine Verbindung zu einem weißen Auto herstellen. Schließlich erinnert Rowland seine Pseudo-Wahrsager stets daran, dass - wenn die Umgebung stimmt - die meisten Leute bereitwillig Informationen über sich preisgeben, besonders wenn man die richtigen Fragen stellt. Hier sind einige, mit denen Sie ganz sicher ins Schwarze treffen:
- Sagen Sie, sind Sie gerade in einer langfristigen Beziehung oder nicht?
- Sind Sie mit Ihrer Karriere zufrieden oder gibt es damit Probleme?
- Worüber machen Sie sich gesundheitlich Sorgen?
- Wer ist die verstorbene Person, mit der Sie heute Kontakt aufnehmen möchten?
Während ich diese so genannten Barnum-Texte (benannt nach dem amerikanischen Zirkusdirektor Phineas Barnum, dessen Erfolgsrezept „Für jeden etwas" lautete; Anm. d. Übersetzers) durchging, achtete ich darauf, Bemerkungen einzuflechten, die man „Nebenbei-Fragen" nennen könnte:
- Warum könnte das so sein?
- Ergibt das für Sie einen Sinn?
- Erscheint Ihnen das richtig?
- Würden Sie sagen, dass das ungefähr in die richtige Richtung geht?
- Das ist für Sie bedeutsam, nicht wahr?
- Sie können sich damit identifizieren, oder nicht?
- Auf wen könnte diese Aussage passen?
- Womit in Ihrem Leben könnte das in Zusammenhang stehen?
- Auf welchen Lebensabschnitt könnte sich das beziehen?
- Sagen Sie, inwiefern hat das für Sie eine Bedeutung?
- Verstehen Sie, wie es dazu kommen konnte, dass ich diesen Eindruck gewinne?
Der „Tod" einer Beziehung und die „Geburt" einer neuen
Mit diesem Repertoire, das ich mir an einem einzigen Tag zusammengestellt hatte, war ich nun bereit. Meine erste Versuchsperson war eine 21-jährige Frau, für die ich Tarotkarten legen sollte. Da es meine erste Sitzung war, war ich ein wenig nervös und blieb bei den Standard-Barnum-Aussagen. Ich arbeitete mich recht erfolgreich durch die verschiedenen Persönlichkeitsaspekte (wobei ich korrekt erriet, dass sie weder eine Erstgeborene noch eine Letztgeborene war), aber ich traute mich noch nicht an konkrete Vermutungen heran. Da die junge Frau studierte, nahm ich an, dass sie sich noch möglichst viele Perspektiven für ihr weiteres Leben offen hielt; also bot ich ihr allerlei Trivialitäten, die auf fast jede Person dieses Alters zutreffen: Sie sei unsicher über die Zukunft, aber begeistert von all den sich bietenden Möglichkeiten, sie sei sich ihrer Talente sicher, doch in manchem noch ungewiss, in ihrer nahen Zukunft spielten Reisen eine Rolle, sie halte ein gesundes Gleichgewicht zwischen Kopf und Herz, Intellekt und Intuition und so weiter, und so fort.
Tarotkarten sind großartig, weil sie dem Wahrsager ein Hilfsmittel geben, auf das man Bezug nehmen kann und zu dem der Klient Fragen stellen kann. Es war mir unmöglich, bis zur Sendung die Bedeutungen aller 78 Karten auswendig zu lernen, also wählte ich unter Zuziehung des Anleitungsheftes zehn aus. Ich verwendete absichtlich die Todeskarte mit, weil dieses Symbol die Menschen offenbar bedrückt. Das gab mir ausführlich Gelegenheit, über die Bedeutung von Leben und Tod zu predigen und dass die Karte nicht den physischen, sondern den metaphorischen Tod bedeute, dass Übergänge im Leben eine Zeit der Möglichkeiten seien (z.B. der „Tod" einer Karriere und die „Geburt" einer neuen und ähnliches Geschwafel). Nach jeder Sitzung nahmen die Produzenten ein kurzes Interview mit der Versuchsperson auf und fragten, wie es gelaufen sei. Die erste Versuchsperson meinte, dass die Sitzung gut gelaufen sei und ich ihr Leben und ihre Persönlichkeit genau erfasst hatte, aber es habe keine Überraschungen gegeben - nichts, das sie bemerkenswert fand. Sie habe schon häufiger professionelle „Medien" aufgesucht und meine Sitzung sei recht typisch gewesen. Ich selbst fand, dass ich höchstens mittelmäßig gewesen war. Aber es ging ja erst los.
Gut sehen statt „hell" sehen
Meine zweite Sitzung hatte ich mit einer 19-jährigen Studentin, der ich aus der Hand las. Handlinienlesen ist meines Erachtens die beste der Wahrsagetechniken, denn wie beim Tarot kann man auf etwas Konkretes Bezug nehmen, aber darüber hinaus kann der Wahrsager mit dem Klienten physischen Kontakt aufnehmen. Ich konzentrierte mich hauptsächlich auf die Lebens-, Kopf-, Herz-, und Gesundheitslinie, und für die Dramatik fügte ich noch allerlei Geplapper über die Beziehungs-, Geld und Schicksalslinie hinzu. Bei dieser Sitzung verwendete ich ein paar der wahrscheinlichen Vermutungen, angefangen mit dem weißen Auto. Es stellte sich heraus, dass die 99-jährige Großmutter ein weißes Auto hatte, woraufhin ich eine spezielle Beziehung zu ihrer Großmutter kommentieren konnte, was genau passte. Dann versuchte ich es mit dem abgelaufenen Kalender, der aber keine zustimmende Reaktion bei der jungen Frau hervorrief, sodass ich mich auf eine allgemeinere Aussage zurückzog: „Naja, was ich hier fühle, ist ein Übergang von einem Abschnitt in Ihrem Leben zu einem anderen" - worauf die Studentin zustimmend erklärte, dass sie darüber nachdenke, ihr Hauptfach zu wechseln. Die Einschätzung meiner „medialen" Fähigkeiten durch die zweite Versuchsperson fiel ein wenig besser aus als die der ersten (und diesen Eindruck hatte ich auch selbst), aber beide Testpersonen hatten nicht gerade überwältigt reagiert. Ich lief mich also erst für den großen Durchbruch warm.
Die Konjunktion des Mondes im dritten Haus
Meine dritte Versuchsperson, ebenfalls Studentin und 20 Jahre alt, war die härteste Nuss des Tages. Auf meine „Nebenbei-Fragen", mit denen ich ihr Informationen entlocken wollte, antwortete sie nur einsilbig, und es schien in ihrem Leben nicht viel los zu sein, das „medialen" Rat erforderte. Ich wechselte zur Astrologie und benutzte ein Horoskop aus dem Internet, das für jemanden namens John mit dem Geburtsdatum 9. Mai 1961 erstellt worden war. Die Studentin war am 3. September 1982 geboren. Ich habe keine Ahnung, was das Horoskop bedeutete. Da es aber eigentlich natürlich gar nichts bedeutet, begann ich damit, dass „die Sterne beeinflussen, aber nicht zwingen", und dann erfand ich einfach irgendwas darüber, dass die Konjunktion des Mondes im dritten Haus und einer untergehenden Sonne im fünften Haus zeige, dass sie eine große Zukunft vor sich habe und ihre Persönlichkeit ein gesundes Gleichgewicht zwischen Herz und Kopf, Geist und Seele, Intellekt und Intuition sei. Sie nickte zustimmend.
Dann äußerte ich eine Anzahl von wahrscheinlichen Vermutungen und lag etwa mit der Hälfte davon richtig (auch mit der Aussage über lange Haare in der Kindheit). Am Ende der Sitzung fragte ich sie, ob sie selbst eine Frage habe. Sie sagte, sie habe sich für ein Stipendium für einen Studienaustausch nach England beworben und wolle nun wissen, ob sie es bekommen werde. Ich antwortete, dass es nicht darauf ankomme, ob sie es erhalte oder nicht, sondern dass ich zuversichtlich sei, dass sie mit ihrer ausgeglichenen Persönlichkeit mit jedem Ergebnis zurechtkommen werde. Das schien gut anzukommen. Im Interview nach der Sitzung war sie viel positiver gestimmt, als ich es angesichts der steifen Sitzung erwartet hatte.
Frisur, Bandscheiben-OP, Sport - alles Treffer!
Meine vierte Versuchsperson war eine berufstätige 58-jährige Frau, für die ich ohne Hilfsmittel wahrsagen - also richtig „hellsehen" - sollte. Ich begann mit Barnum-Formulierungen, kam aber nicht weit, weil schnell klar wurde, dass sie mehr als willig war, über ihre Probleme zu sprechen. Sie wollte den allgemeinen Unsinn gar nicht hören, sondern sofort auf die konkreten Themen kommen, die ihr an diesem Tag durch den Kopf gingen. Die Frau war übergewichtig und sah nicht besonders gesund aus, aber ich wollte ihr Gewicht nicht direkt ansprechen - also sagte ich, dass ich etwas von Sorgen über die Gesundheit fühlte, und ich wagte die Vermutung, dass sie (es war Anfang Januar) sich zum neuen Jahr vorgenommen hatte, abzunehmen und mehr Sport zu treiben. Volltreffer!
Die Frau öffnete sich mir und erzählte von ihrer Bandscheibenoperation und anderen Beschwerden. Ich versuchte ein paar der wahrscheinlichen Vermutungen, die ganz gut trafen, vor allem die Schachtel mit alten Fotos, die kaputten Geräte im Haus sowie der Satz über langes/kurzes Haar. Alles Treffer, vor allem über die Frisur, die sie - wie die Frau mir erklärte - ständig verändere. Ich sagte, dass ich etwas von einer Narbe am Knie fühle, und das ließ ihr den Kiefer herunterfallen. Seit ihrer Kindheit, sagte sie, sei sie nicht mehr hingefallen, aber gerade vor einer Woche habe sie sich bei einem Sturz ziemlich übel die Knie aufgeschlagen. Obwohl ich dem Gespräch entnehmen konnte, dass die Frau vor kurzem ihre Mutter verloren hatte, und meine allgemeinen Kommentare darüber, wie nahe ihre Mutter in ihrer Erinnerung bei ihr bleiben werde, sie in Tränen ausbrechen ließen, war sie doch hauptsächlich gekommen, um etwas über ihren Sohn zu erfahren. Was würde er tun? Eine Minute von Fragen und Antworten ergab, dass er kurz vor dem Schulabschluss stand, also nahm ich an, dass seine Mutter sich Sorgen machte, ob er studieren werde. Voll getroffen! Was genau beunruhigte sie? Er wollte an der Universität von Südkalifornien studieren, also vermutete ich - noch bevor sie es aussprechen konnte -, dass es wegen der Lage dieser Universität sei, denn die Innenstadt von Los Angeles ist nicht gerade die sicherste Gegend. Im anschließenden Interview lobte diese vierte Versuchsperson meine übersinnliche Intuition über alle Maßen. Der Moderator und die Produzenten waren überrascht und begeistert, was für eine spannende Sendung das Ganze geben würde.
Feuchte Hände, nervös und angespannt
Meine fünfte und letzte Versuchsperson war eine weitere Berufstätige, eine 50- jährige Frau. Sie hatte Bills Fernsehteam erzählt, dass sie über etwas ganz Bestimmtes sprechen wollte, hatte aber keinen Hinweis auf das Thema gegeben. Ich brauchte nicht lange, um es herauszufinden. Als ich mich vorstellte und ihre Hand schüttelte, merkte ich gleich, dass ihre Hände ausgesprochen feucht waren. Vor mir stand eine angespannte, nervöse Person, die offensichtlich emotional erregt war. Ich vermutete, dass eine nahe stehende Person gestorben (oder besser gesagt „in die spirituelle Welt eingetreten") war und sie nun „medial" Kontakt mit dem- oder derjenigen aufnehmen wollte. „Ich fühle, dass mehrere Personen in eine andere Welt eingetreten sind, Eltern oder Personen, die für Sie eine Elternfigur sind." Es handelte sich um ihren Vater, von dem sie sich offenbar noch nicht gelöst hatte.
Im folgenden Gespräch erfuhr ich, dass ihr Vater starb, als sie 27 Jahre alt gewesen war. Also schloss ich, dass es ein plötzlicher Tod gewesen sein musste (richtig) und sie keine Gelegenheit gehabt hatte, mit dem Ereignis fertig zu werden (ebenfalls richtig). Ich schloss, dass sie traurig war, weil sie gerne ihre Lebenserfahrungen mit ihrem Vater geteilt hätte, zum Beispiel „Kinder zu haben." Falsch - sie war kinderlos. Ohne ins Stocken zu geraten, bot ich ihr sofort eine neue Version an: „Ach, also was ich meine, ist die Geburt neuer Ideen oder neuer Aktivitäten." Volle Zustimmung! Mein Gegenüber hatte Unternehmergeist, und ihr Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, dem sie sich nur zu gerne bewiesen hätte.
In Tränen aufgelöst
Es dauerte nicht lange, da war Versuchperson Nummer fünf in Tränen aufgelöst. Sie war eine sehr labile Frau, die ich ganz leicht hätte manipulieren und ausnutzen können, wenn ich mit einem dummen Spruch wie „Ihr Vater ist hier bei uns und möchte Ihnen sagen, dass er Sie liebt" gekommen wäre. Aber ich wusste, dass ich mir am nächsten Morgen im Rasierspiegel nicht mehr hätte in die Augen schauen können, also sagte ich: „Ihr Vater würde wollen, dass Sie ihn in Ihrem Herzen und Ihren Erinnerungen behalten, aber es ist nun an der Zeit, das Leben weiter zu leben." Ich wollte ihr auch noch etwas Spezifischeres geben und zugleich die inzwischen sehr düstere Sitzung ein wenig auflockern, also fügte ich hinzu: „Es ist auch in Ordnung, Schachteln mit seinen Sachen wegzuwerfen, die Sie gesammelt haben, aber eigentlich los werden möchten." Sie lachte laut auf und gab zu, dass die Besitztümer ihres Vater eine ganze Garage füllten und sie diese schon lange entsorgen wollte, aber es aus Schuldgefühlen nicht getan hatte. Dieses Gespräch war, so hoffte ich, eine Botschaft, die meinerseits keinen Vertrauensbruch darstellte, aber für unsere Show dennoch den erwünschten Effekt hatte. Später sagte diese Versuchsperson, dass sie seit mehr als zehn Jahren Wahrsager aufsuche, um die
Beziehung zu ihrem Vater zu klären, und dass meine Sitzung die beste von allen gewesen sei.
Die Enthüllung
Als wir schließlich den fünf Personen gegenüber enthüllten, dass ich in Wirklichkeit gar kein Medium war, machten wir uns nicht besonders viel Sorgen um die drei Studentinnen. Denn wenn die aktuell größte Krise im Leben die Frage ist, ob man nun Theater oder englische Literatur als Hauptfach wählen soll, dann ist die Aufrichtigkeit eines Wahrsagers nur eine kleine Knitterfalte im gesamtkosmischen Gefüge. Und tatsächlich: Es stellte sich schnell heraus, dass es kein Problem für sie war, von einem Skeptiker hereingelegt worden zu sein. Ihre Hauptsorge war vielmehr, wann die Sendung denn ausgestrahlt werde und sie sich selbst im Fernsehen sehen konnten. Ebenso vorhersehbar reagierten die letzten beiden Versuchspersonen, die sich viel stärker emotional in die Sitzungen eingebracht hatten: Sie waren verständlicherweise beunruhigt und baten letztendlich darum, ihre Sitzungen nicht im Fernsehen zu zeigen.
Hinterhältig und beleidigend
Ich bin kein Medium und glaube auch nicht, dass außersinnliche Wahrnehmung, Telepathie, Hellsehen, Hellhören oder andere Formen von Psi-Kräften irgend eine Grundlage in der Wirklichkeit haben. Es gibt nicht den Hauch eines Beweises, dass irgendetwas davon real ist, und die Tatsache, dass ich mit nur einem Tag Vorbereitung ziemlich gut war, zeigt nur, wie anfällig die Menschen gegenüber diesen sehr effektiven Mittelchen sind. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie viel ich mit mehr Erfahrung erreicht hätte. Mit sechs Stunden Übung am Tag könnte ich nach einigen Wochen - daran habe ich keinerlei Zweifel - problemlos eine erfolgreiche Karriere als „Wahrsager" machen und meinen Kontostand um Größenordnungen erhöhen. Das würde ich vielleicht auch tun - wenn es nicht gewisse zwischenmenschliche Prinzipien gäbe. Ich habe meine beiden Eltern verloren: Mein Vater starb 1986 plötzlich an einem Herzanfall und meine Mutter 2000 langsam an einem Gehirntumor. Ich kann mir kaum etwas Beleidigenderes für die Toten vorstellen und kaum etwas Hinterhältigeres für die Lebenden, als das Hirngespinst zu erfinden, sie schwebten in einem übersinnlichen „Äther" um uns herum und warteten darauf, dass ein selbst ernanntes „Medium" uns ihre Einsichten zu Narben am Knie, kaputten Gerätschaften und unerfüllten Wünschen übermittelt. Das ist nicht nur falsch, sondern noch viel schlimmer: Es ist eine absichtsvolle moralische Verrohung.
Dr. Michael Shermer ist Kolumnist für die Zeitschrift Scientific American und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt „Science Friction. Where the Known meets the Unknown" (New York 2005).
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker" 3/2005 und erstmals erschienen in Skeptic Magazine, Bd, 10 Nr. 1, 2003, S. 48-55. Übersetzung: Stephan Matthiesen.