Para-Technik - Die 14. GWUP-Konferenz in Würzburg
Matthias Horx und Eike Wenzel
Im Windschatten veränderungsbeschleunigter Krisensituationen avanciert das Übersinnliche zur Massenware, sagt der Zukunftsforscher Matthias Horx in seinem „Trend-Report 2004" voraus. Wir dokumentieren einige Auszüge daraus.Es passt so haargenau in unsere Welt, dass man einfach misstrauisch werden muss: Bert Hellinger heilt verzweifelte Menschen manchmal nur mit einem Augenaufschlag. In kürzester Zeit und vor Publikum. Die Rollenspiele auf der Bühne, die die traumatischen Familienverhältnisse für den Klienten wiederauferstehen lassen und endlich erhellen, dauern mitunter nur 20 bis 30 Minuten. Hellinger spricht mit seiner Klientin über tiefe Verletzungen, mehr als 2 000 Menschen schauen zu. Er redet nebulös von „wissenden Feldern" und unseren Verbindungen „mit etwas Größerem". Ein Scharlatan mit eingeschworener Fan-Gemeinde und ergebener Schülerschaft. Esoterik für Intellektuelle. Highspeed-Psychoanalyse für zeitgestresste Großstadtnomaden. Hellingers Heilungen beanspruchen nicht mehr Zeit als eine Daily Soap im Fernsehen. Und sie wirken auch so. Wer möchte heute noch unterscheiden zwischen Lifestyle und Lebenshilfe, zwischen Unterhaltung und Therapie, zwischen Naturtrend und übernatürlichem Zinnober? Auf den Dschungelmärkten und in der Gesellschaft der forcierten Unübersichtlichkeit wird auch das Übersinnliche zum Massenartikel. Wir nennen diesen Trend Tante-Emma-Esoterik.
Designer-Spiritualität
In unserer Kultur müssen wir mit immer mehr Unbestimmtheitsstellen zurechtkommen: Habe ich im nächsten Jahr noch den gleichen Job wie im vergangenen? Sind die Bilder aus dem Reality-TV tatsächlich real oder doch getürkt? Auf das Trendthema Spiritualität, Religion, Esoterik trifft das in besonderem Maße zu: Wo fängt Esoterik an, wo hört Religion auf? Was ist spirituelle Bereicherung meines Lebens und wo beginnt das Terrain der Therapie oder des Coachings? Wo lässt sich die Grenze ziehen zwischen populärer Spiritualität und Geschäftemacherei?
E-Soterik
Kaufen Sie ihren Ritualbedarf jetzt auch bequem im Internet (www.ritualbedarf. de)? Lassen Sie sich Ihr Schicksal auch im weltweiten Netz beim Online-Kartenlegen (www.paranormal.de) vorhersagen? Tantra-Kurse für Paare, die Sexualität und Zärtlichkeit neu entdecken wollen (oder für entwöhnte Singles), kosten schlappe 250 Euro das Wochenende. Ob Channeling, Pendeln, Wahrsagen, Reiki, Paläo-Astronautik, fernöstliche oder indianische Mystik-Esoterik boomt und boomt. Ein ehemaliges „Material Girl" wie Madonna hat ihre Bekenntnisse zu alltagsesoterischen Praktiken kürzlich auf besonders bizarre Weise vollzogen. Wie andere Showgrößen vor ihr entdeckte sie für sich die jüdische Mystik der Kabbala. Die Kabbala-Center in Großbritannien und den USA (www.kabbalah.com) stellten sich dabei jedoch als esoterisches Profitcenter mit höchst fragwürdigem Traditionsbezug heraus - der „Spiegel" berichtete. Übersinnliches gehört zum guten Ton: Der Modeschöpfer Paco Rabanne schreibt Texte über den „Aufbruch ins Wassermannzeitalter". Beckenbauer glaubt an die Wiedergeburt, an Buddha und an noch viel mehr. Der Handel mit Esoterik ist zum Alltag geworden. Die Geschäfte gehen bestens. Die Esotheka (www.esotheka.de) versammelt alles, was das übersinnliche Herz begehrt. Über Chat- oder Email-Beratung, Seherkugeln zu 15 Euro und Witchboards für €21,90 reicht das Angebot bis zum „finanziellen Kartenlegen" und zur Fachliteratur zum spirituellen Räuchern („die Eneagramme der Düfte"). Der Esoterik- Internetversand hat begriffen, wer seine Kunden sind. Die Website wird von einem Zitat des Schweizer Schriftstellers Max Frisch eingeleitet: „Krise ist ein produktiver Zustand, man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen." Esoterik-Handel für die Allgemeinheit antwortet mit Mystischem, aber Unerklärbarem auf die Orientierungskrisen in der Gegenwart.
Heilserwartung vom Großversand
Wenn sich ein Trend mit einer solchen Wucht in unser Bewusstsein katapultiert, dass er in der öffentlich-rechtlichen ARD sogar als Magazinformat aufgelegt wird, dann ist er endgültig in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Ende des Jahres 2003 gab es die „Dimension PSI" im Ersten, immer montags zur besten Sendezeit. Waren es in den 1980er-Jahren noch die Subkulturen, Außenseiter, Randständigen, Wollsockenträger und Weltverbesserer, Müslis und Zivilisationsmüden, die die Grenzen der Vernunft mit ihrem Lebensstil bewohnbar machten, so sind es im 21. Jahrhundert Lieschen Müller und Herr Schmidt von nebenan, die gerne nach Feierabend den Wohnzimmertisch spirituell zum Tanzen bringen. Tante-Emma-Esoterik heißt der neue Trend: Das Übersinnliche und Paranormale gehört immer mehr zu den Grundnahrungsmitteln der durchschnittsdeutschen Alltagsphilosophien. Viel zu tun für esoterische Ich-AGs: In Deutschland verdienen mehr als 90 000 Menschen als Wahrsager ihr Geld. Esoterik ist heute ein Platzhalter für ein unüberschaubares Sammelsurium diffuser religiöser Gefühle. Im 19. Jahrhundert umschrieb der Begriff (abgeleitet vom griechischen Wort „esoterikos", was so viel wie „innerlich" bedeutet) eine universalreligiöse Weltanschauung für Auserwählte. Im Umfeld der russischen Spiritistin Helena Blavatsky - Wortführerin der Theosophischen Gesellschaft und Begründerin der Esoterik - bewegte sich auch Rudolf Steiner, der später mit der Anthroposophischen Gesellschaft vor allem in Deutschland viele Anhänger gewann. Doch im digitalen Zeitalter ist von einer Religion für Auserwählte nicht mehr die Rede. Esoterik ist heute omnipräsent, sowohl bei Oma Ingeborg als Einschlaflektüre auf dem Nachttisch, wie auch bei Onkel Helmut als Stimmungsaufheller im Medizinschränkchen. Soziologisch ist Tante-Emma-Esoterik schnell erklärt: Esoterik markiert eine aufklärungsskeptische Gegenbewegung zu Überkomplexität und Rationalisierung im Alltag unserer postindustriellen Gesellschaft. Steuerungsverluste in Wirtschaft und politischem Diskurs führen dazu, dass das moderne Subjekt seine Wünsche und Bedürfnisse nach innen verlagert. Gegen die Komplexitätsüberhänge im öffentlichen Leben reagieren die Menschen mit der Heilssuche im „Größeren" und Transzendenten. Aber das findet das moderne Subjekt fast ausschließlich nur im eigenen Ich, in der persönlichen Befindlichkeit. Die Folge: Der Einzelne orientiert sich bei der Suche nach Erleuchtung, Erlösung und Überhöhung ausschließlich im eigenen Ich - der Kontaktverlust zur empirischen Realität (Gesellschaft, Alltagskommunikation etc.) ist die logische Folge davon. Wenn es nur so einfach wäre, doch so einfach ist es nicht! Tante-Emma- Esoterik besetzt, ganz dem Zeitgeist folgend,die Schnittstellen, die in den westlichen Gesellschaften beim Übergang von der industriellen in die Wissensgesellschaft mehr oder weniger unbelegt geblieben sind. Der Prozess vollzieht sich folgendermaßen:
- Die transzendentale Obdachlosigkeit der modernen Menschen muss in zunehmendem Maße die identitätsversicherndeGemeinschaftlichkeit durch Self-Design (körperlich, geistig, psychisch), integrative Gesellschaftlichkeit durch Ego- Management und -Marketing ersetzen.
- Das flamboyante Sinnversprechen esoterischer Praktiken bietet eine Überkompensation dieses schmerzhaften Verlustes.
- Folglich werden auch zukünftig in der Grauzone zwischen Psychotherapie, Ratgeberliteratur, Lebenshilfe, Spiritualität und Life-Coaching neue esoterische Produktfelder wachsen.
Esotainment
Tante-Emma-Esoterik äußert sich auch immer stärker in den traditionellen Medien wie Buch und Zeitschriften. Viele renommierte Verlage haben den 65 Trend nach mainstreamiger Jenseitsorientierung längst erkannt. Insgesamt 6072 Buchtitel verzeichnet allein der deutschsprachige Online-Buchhandel Amazon unter dem Stichwort Esoterik. Auch die renommierteren Buchverlage kommen nicht ohne Esoterik-Reihe aus. Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) hat herausgefunden, dass die Umsatzzuwächse mit esoterischer Literatur auf dem ansonsten stagnierenden Buchmarkt jährlich bei rund 20 Prozent liegen. Und auch die Konsumgüterindustrie verkauft ihre Massenartikel mittlerweile erfolgreich mit hinduistischer Philosophie und indischen Weisheiten auf der Packung. Ein Überblick:
- Volksliteratur: Bereits 1998 durchbrach das Geschäft mit esoterischer Literatur die Schallmauer von 50 Millionen Euro. In vielen Buchhandlungen gehen seitdem mehr Esoterik-Schmöker als Romane über den Tisch. Und verdienen möchten viele Verlage. Der Goldmann Verlag aus München (www.randomhouse.de) beispielsweise führt akzeptable bis gut recherchierte Einführungsliteratur zum Boom-Thema Buddhismus direkt neben Traktaten wie „Aura-Soma. Durch Farben zur Erkenntnis" oder „Erkenntnisse und Ratschläge eines Hellsehers". In CDForm gibt es die Goldmann-"Selbstheilungsprogramme".
- Messen: Öffentliche Großveranstaltungen waren für jede blühende Branche stets ein probates Mittel, um Bekanntheit zu erreichen und das Begehren nach kompletten Produktwelten zu wecken. Auf dem Gebiet der esoterischen Messen und Events hat sich mit dem Münchner Eso-Team ein spezialisierter Dienstleister aufgestellt.
- Paranormalität am Kiosk: Das vielleicht markanteste Zeichen für den Trend zur Tante-Emma-Esoterik ist der Erfolg der Zeitschrift esotera, die mittlerweile in mehr als 92 000 Exemplaren verkauft wird. Die ideologisch weich gezeichnete Zeitschrift (www.esotera.de) bedient ihre zivilisationsmüde Zielgruppe mit Psychogenetik, Erlebnispädagogik, morphischen Feldern und heilenden Säften nach mittelalterlichen Rezepturen. Die Chefredakteurin des Zentralorgans für Tante-Emma-Esoterik, Christamaria Hehmann, führt den eigenen Erfolg unverblümt auf die allfälligen Krisen in der Gesellschaft zurück: „Noch nie waren Leute mit 30 Jahren von ihrem Beruf so ausgepowert wie heute. Da fängt man an zu denken." - Oder gibt eben das Denken nach rationalen Prinzipien auf und begibt sich auf den Massenmarkt der designten Mode- Erbaulichkeiten.
„In Zeiten der Pleite...
... bevorzugt die Seele das Jenseits", das wusste schon der Schriftsteller Robert Musil. Der Markt auf dem weiten Feld des Übersinnlichen, Grenzwissenschaftlichen und Parapsychologischen ist nur schwer zu überblicken. Zu sehr verbergen sich hinter jeder transrationalen Nischenbewegung ein eigener Ansatz, eigene Rituale, handgedrechselte Bekenntnisse und selbst gebatikte Überzeugungen. Doch das ist kein Zufall: Tante-Emma-Esoterik ist ein direkter Abkömmling des Megatrends Individualisierung, ein Kind unserer säkularen Ordnung.
Sinn und Sinnlichkeit
Säkularisierte Spiritualität antwortet offensiv auf die Megatrends Individualisierung und Singelisierung. Der personalisierte Metaphysik-Baukasten für die Vertreter der Ego-Gesellschaft wurde vor Jahren als Menetekel an die Wand geschrieben und gehört heute zur selbstverständlichen Realität. In Zeiten hoher Wandlungsbeschleunigung und offenbarer Sinndefizite sind jedoch vor allem der Körper und die Balanceökonomie zwischen Körper, Geist und Seele wichtiger Fluchtpunkte von moderner Spiritualität. Glaubenssysteme zwischen Spiritualität, Aberglaube und Esoterik avancieren zu Massenbewegungen und trösten über Steuerungsverluste der globalen Politik hinweg. Gleichzeitig entwickelt sich das drängende Bedürfnis nach Spiritualität aus Zeitgründen, umständehalber, aber hauptsächlich vor dem Hintergrund der Individualisierung unserer Konsum- und Lebensstilbedürfnisse zu einem säkularen Lifestyle. Die Liste ist lang: Von den momentan stark nachgefragten Geistheilern über transpersonale Psychologie, Tantra, Rosenkreuzer-Bewegung, Ufologen oder die postsozialistische Wiedererweckung der Jugendweihe - der Markt der religiösen und spirituellen Praktiken, Ratgeber und Inszenierungen kennt im Unsicherheitszeitalter offenbar keine Grenzen. In einer mittleren Großstadt wie Freiburg zählen Forscher mehr als 340 unterschiedliche Spiritualitätsangebote, die nur dem Gebiet der Esoterik zuzuordnen sind. Etwa 40 Prozent der Deutschen, das belegt eine Emnid- Umfrage, vermuten, dass geheime magische Kräfte ihr Leben durchwirken. Diskurse, die quer zur Alltagsrationalität stehen, konnten schon immer als Windschatten-Trends in veränderungsbeschleunigten Krisensituationen profitieren. Die Bastel-Rituale und inhaltsneutralen, quasi-religiösen Events werden sich bis 2010 zu einem Markt mit großem Potenzial vor allem für Medien, Marketing, Lebensmittel- und Freizeit-Branche formieren.
"Wie das Übersinnliche die gesellschaftliche Mitte erobert“, erschienen im „Trend-Report 2004 - Die 11 wichtigsten Driving Forces des kommenden Wandels“ von Matthias Horx und Dr. Eike Wenzel. Kelkheim 2004, 135 Seiten, 95 Euro, ISBN 3-937131-15-9 Dieser Text ist ein kurzer Auszug aus dem Kapitel Tante-Emma-Esoterik. Info und Bestellung: www.zukunftsinstitut.de. Bestellung in der Schweiz: IHA-GfK AG, E-Mail: Pia.Bossert(at)ihagfk(Punkt)ch
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 2/2004.