Im Januar ging das neue Internet-Portal "IGeL-Monitor" online. Dort bewertet der Medizinische Dienst des GKV-Spitzenverbandes sogenannte Individuelle Gesundheitsleistungen, die vom Patienten selbst zu bezahlen sind. Im GWUP-Blog stießen einzelne Bewertungen indes auf Unverständnis. Skeptiker-Chefreporter Bernd Harder sprach mit dem Redakteur des "IGeL-Monitors", Dr. Christian Weymayr, über Evidenz, Früherkennung und Leistungskataloge in Zeiten knapper Kassen.
Bernd Harder: Die Bach-Blütentherapie ist "nicht Bestandteil der naturwissenschaftlich fundierten Medizin, da ihr mehrere Annahmen zugrunde liegen, die nicht nur spekulativ sind, sondern den gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen", heißt es wörtlich in der Bewertung dieses Verfahrens. Nichtsdestotrotz erhält die "quasireligiöse Glaubenslehre" im IGeL-Monitor der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein schmeichelhaftes "unklar", während der moderne Labortest auf den Toxoplasmose-Erreger "negativ" abschneidet. Wie kommt das?
Christian Weymayr: Das ist eine Folge der Nutzen-Schaden-Abwägung. Wir ermitteln im IGeL-Monitor einerseits den Nutzen einer bestimmten Methode und andererseits den potenziellen Schaden. In einem zweiten Schritt setzen wir diese beiden Größen nach einer Tabelle, die wir selbst entwickelt haben, in Relation zueinander und leiten daraus eine Bewertungsaussage ab. Bei der Bach-Blütentherapie haben wir keinerlei Evidenz für einen Nutzen gefunden – aber auch keine Hinweise, dass das Ganze schädlich oder gefährlich für den Patienten sein könnte. Da in diesem Fall beide Bewertungsgrößen gleich sind, die Situation sich also "unklar" darstellt, führte das zu der entsprechenden Aussage.
Bei der Toxoplasmose-Früherkennung ist der Nutzen ebenfalls nicht eindeutig nachweisbar. Allerdings kann der Test Schäden verursachen, zum Beispiel weil ein unklares Testergebnis abgeklärt wird, am Ende sich aber möglicherweise doch alles als Fehlalarm herausstellt. Auch die Gefahr der Überdiagnostik sehen wir grundsätzlich bei allen Früherkennungsmaßnahmen als gegeben an. Insofern ist es nahezu zwangsläufig, dass die Verfahren der sogenannten Schulmedizin wegen der möglichen Schäden im Schnitt schlechter abschneiden als etwa eine völlig unwirksame, aber harmlose Bach-Blütentherapie.
Die Bewertung ist also kein Kniefall vor der "Alternativ"-Lobby?
Nichts weniger als das. Mir persönlich geht das total gegen den Strich, die Bach-Blütentherapie als "unklar" einzuordnen. Aber so ist nun einmal das Analyse- und Bewertungsverfahren. habe ich gerade bei dem Bach-Blüten-Artikel nicht bloß die Evidenzlage und das Schaden-Nutzen-Verhältnis beschrieben, sondern auch erklärt, woher dieses Verfahren kommt, auf welchen "intuitiven" Grundlagen es beruht und wie Bach-Blütentropfen hergestellt werden. Das müsste eigentlich jedem zu denken geben, trotz lediglich "unklarer" Bewertung.
Die größte Gefahr der Pseudomedizin besteht in der Unterlassung, wenn also notwendige Behandlungen unterbleiben. War es nicht möglich, dieses Schadenpotenzial in die Bewertung einfließen zu lassen?
Das ist überaus schwierig, weil es sich um Einzelfälle handelt. Und dann müsste man ehrlicherweise auch die umgekehrte Situation gegenüberstellen: Jemand nimmt keine Bach-Blütentropfen und keine Globuli, gerät aber an ein schulmedizinisches Verfahren, dessen Evidenz ebenfalls nicht gegeben ist oder das individuell falsch angewendet wird und deshalb nichts bringt oder sogar schadet. Dann hätte das "Unterlassen" sogar tendenziell positive Effekte.
Es gibt natürlich genügend Beispiele, wo Menschen gestorben sind, weil sie alleinig auf Pseudomedizin vertraut haben. Andererseits muss man sehen, dass Patienten mitunter auch ganz gut damit fahren. Einfaches Beispiel: Ein Praxisbesucher hat eine Erkältung oder Grippe und wird vom Arzt aus Bequemlichkeit mit einem Antibiotikum behandelt. In diesem Fall wäre der Patient mit Homöopathika sicher besser dran gewesen. Oder besser gesagt: Er ist dann weniger schlecht dran.
Das klingt wie zu Hahnemanns Zeiten, als dessen Erfindung Homöopathie zwar nichts nutzte, aber auch kein Unheil anrichtete – im Gegensatz zu vielen anderen medizinischen Verfahren damals.
Ja, im Grunde ist das so. Ein gewisses Schadenspotenzial der "Schulmedizin" muss man einfach auch heute noch annehmen. Selbst wenn alle Methoden rein evidenzbasiert wären, dann käme es immer noch zu Irrtümern und menschlichem Versagen in der praktischen Anwendung. In unserer Abwägung beimIGeL-Monitor kann "besser" auch nur "weniger schlecht" bedeuten.
Damit sind wir wieder bei Ihrer Ausgangsfrage nach Bach-Blüten und Toxoplasmose-Test. Ich möchte es noch einmal wiederholen, weil wir bei einem recht komplizierten Sachverhalt sind: Wenn in Studien zwei Verfahren miteinander verglichen werden, also die Kontrollgruppe etwa eine Standardtherapie bekommt, und beide Verfahren eine identische Nutzenbilanz aufweisen, das untersuchte Verfahren aber das geringere Schadenspotenzial zeigt, dann würden wir es unterm Strich als "tendenziell positiv" bewerten. Was nicht heißt, dass es "besser" ist als das andere, jedenfalls nicht im Sinne eines höheren Nutzens.
Das ist zwar einleuchtend, dennoch beschleicht mich ein gewisses Unbehagen, im IGeL-Monitor Bach-Blüten, Akupunktur und Eigenbluttherapie neben hoch modernen Methoden wie MRT, Ultraschall oder klinischer Chemie aufgelistet zu sehen.
Es ist natürlich problematisch, wenn Verfahren, die überhaupt keine rationale Grundlage haben, vermischt werden mit Methoden, die zumindest physiologisch plausibel sein könnten. Das sehe ich genauso. Wir haben uns beim IGeL-Monitor aber ganz pragmatisch an den "relevanten" IGeL-Leistungen orientiert, die auch tatsächlich in nennenswertem Umfang angeboten oder nachgefragt werden. Und dazu gehört Akupunktur ebenso wie ein Ultraschall der Ovarien zur Krebsfrüherkennung.
Was trotzdem die öffentliche Debatte um den IGeL-Markt nicht gerade leichter macht. Denn was an diesem Strukturierungskonzept auch abzulesen ist: Individuelle Gesundheitsleistungen sind eine bunte Mischung aus teils alten, teils neuen, teils geprüften und für nutzlos befundenen, teils ungeprüften Verfahren. Von kosmetischen Behandlungen über Reiseimpfungen und Prävention bis hin zu alternativen Heilverfahren, die immer schon privat bezahlt werden mussten und weder für die sogenannte IGeL-Liste – die es eigentlich gar nicht gibt und nie gegeben hat – konzipiert wurden noch primär damit in Verbindung gebracht werden.
Richtig. Und die Situation ist ja noch komplizierter: Dass "Alternativverfahren" wie Homöopathie und Bach-Blüten immer Selbstzahlerleistungen sind, gilt ja nur noch für den Pflichtkatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung. Nicht aber für die Satzungsleistungen, mit denen die einzelnen Kassen um neue Kunden werben. Das führt dann vollends zu Verwirrung, wenn hier und da Homöopathie doch bezahlt wird. Und bedeutet zugleich: Die gesetzlichen Krankenkassen vertreten durchaus nicht kategorisch die Position der Wissenschaft.
Das hält aber beispielsweise die Gesundheitswissenschaftlerin Professor Ingrid Mühlhauser von der Uni Hamburg nicht von Aussagen wie dieser ab: "Es gibt überhaupt keine notwendigen IGeL-Leistungen. Wenn ihr Nutzen durch Studien belegt wäre, würden sie von den Krankenkassen bezahlt werden."
Gut, dieser Satz trifft zumindest nicht per se auf diejenigen IGeL zu, die qua Gesetz gar keine Kassenleistung sein können. Wenn jemand sich den Namen seiner Freundin auf die Hand tätowieren lässt und ihn Jahre später wieder entfernen möchte, kann das individuell einen großen Nutzen bringen – etwa für die neue Beziehung. Trotzdem bezahlt die gesetzliche Krankenversicherung keine Tattooentfernung und auch keine Schönheitsoperationen, weil beides medizinisch nicht geboten ist. Selbiges gilt für Schutzimpfungen wie zum Beispiel Malaria-Prophylaxe vor einer privaten Urlaubsreise.
Dass es keine "notwendigen" IGeL gibt, dem stimme ich durchaus zu. Dass IGeL-Leistungen, deren Nutzen belegt ist, gleichsam automatisch in den Leistungskatalog der GKV wandern, ist wiederum nicht zwingend. Denn erst mal muss jemand einen Antrag auf Beratung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) stellen. Und diese Beratung beziehungsweise das Aufnahmeverfahren kann eine ganze Weile dauern.
Was mich an der Aussage von Professor Mühlhauser stört, ist eher die implizite Behauptung, der Pflichtkatalog der GKV sei eine Art Qualitätskatalog, der nur geprüfte und evidenzbasierte Leistungen enthält. Das ist Unsinn. Nur aus der Tatsache, dass die Kasse ein Diagnose- oder Therapieverfahren bezahlt, kann der Patient noch lange nicht folgern, dass diese Maßnahme tatsächlich gut, sinnvoll und nützlich ist.
Ich kann mich dazu nur für den Bereich äußern, mit dem ich mich seit vielen Jahren beschäftige: die Krebsvorsorge. Und da gebe ich Ihnen recht. Wenn es darum ginge, den GKV-Katalog ausschließlich evidenzbasiert aufzustellen, dann müssten sämtliche Tastuntersuchungen im Rahmen der Tumorfrüherkennung rausfliegen, ob zur Früherkennung von Darm-, Brust-, oder Prostatakrebs.
Sie nannten eingangs das Stichwort "Überdiagnostik". Vor allem die möglichen Schäden durch Überdiagnosen führen dazu, dass im IGeL-Monitor der PSA-Test zur Früherkennung eines Prostatakarzinoms "tendeziell negativ" bewertet wird. Wieso redet niemand von den Schäden durch Überdiagnosen, die durch die gesetzliche Krebsvorsorge – in diesem Fall die völlig unzuverlässige Palpation (Untersuchung durch Abtasten der Körperoberfläche) – entstehen?
"Niemand" ist nicht richtig. Im Merkblatt zur Mammographie, das jede Frau mit der Einladung geschickt bekommt, wird das Problem der Überdiagnose und Übertherapie ausdrücklich thematisiert. Sicher ist unbefriedigend, dass die Nutzen-Schaden-Abwägung auch bei einer Reihe der GKV-finanzierten Vorsorgeuntersuchungen eine denkbar knappe Angelegenheit ist. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass die Abwägung letztlich eine Werteentscheidung ist. Anerkannte Experten wie der Urologe Professor Lothar Weißbach – ehemaliger Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft – haben deshalb schon gefordert, alle Krebsfrüherkennungsmaßen der GKV aus dem Leistungskatalog rauszunehmen.
Warum geschieht nichts?
Ich denke, in erster Linie spielen da ganz pragmatische Überlegungen eine Rolle. Die gesetzlichen Krebsvorsorgeuntersuchungen – die bei Frauen ab einem Alter von 20 Jahren (Pap-Abstrich) und bei Männern mit 35 (Hautkrebs-Screening) beginnen – bringen permanent Patienten in die Praxen. Und wenn man nun zum Beispiel die Prostata-Tastuntersuchung, die noch dazu nicht viel kostet, aufgrund der Studienlage aus dem GKV-Katalog streichen würde, hätten die Kassen wohl nicht nur die Ärzte, sondern auch die Versicherten gegen sich. Das ist politisch offenbar nicht durchsetzbar momentan.
Beim europäischen Urologen-Kongress 2009 in Stockholm wurde die internationale ERSPC-Studie zum PSATest vorgestellt, auf die Sie auch im IGeL-Monitor Bezug nehmen. Damals kommentierten Sie auf Ihrer eigenen Homepage: "Es widerspricht dem EbM-Ansatz, die jetzt vorgelegten PSA-Studien, so mangelhaft sie auch sind, als unbrauchbar zurückzuweisen und gleichzeitig eventuell noch schlechtere Evidenzen und Bilanzen anderer Früherkennungsmaßnahmen zu tolerieren. Die entsprechenden Fachkreise und der G-BA sollten vielmehr die Studien zum Anlass nehmen, den PSA-Test und die GKV-Früherkennungsmaßnahmen nach denselben Bewertungskriterien zu prüfen." Sehen Sie das nach wie vor so?
Ja, klar.
Nichtsdestotrotz findet sich bei der Bewertung des PSA-Tests im IGeL-Monitor kein Wort zur gesetzlichen Prostatavorsorge, die von den Fachgesellschaften als "Späterkennungsmaße" geschmäht und als "nicht ausreichend" (Deutsche Krebshilfe) bis "nicht geeignet" (Leitlinien der deutschen Urologen) eingeschätzt wird. Ähnliches gilt für den Okkultbluttest zur Darmkrebsvorsorge.
Das sind aber zwei verschiedene Themen. Wir reden jetzt gerade über den IGeL-Monitor. GKV-Leistungen haben mit dem IGeL-Monitor erst einmal nichts zu tun. Ein "GKV-Monitor" wäre natürlich eine sinnvolle Sache, das würde ich sofort unterschreiben. Es ist ja kein Geheimnis, dass es auch im Kassenbereich Unter-, Über- und Fehlversorgung gibt, was zum Teil auch mit den Leistungen selbst zu tun hat, siehe Tastuntersuchungen. Das heißt aber nicht, dass man Selbiges im IGeL-Bereich tolerieren muss beziehungsweise nicht kritisieren darf.
Man könnte jedoch fragen, wieso ausgerechnet die gesetzlichen Krankenkassen IGeL-Leistungen beurteilen. Wirkt das nicht ähnlich authentisch wie ein Finanzamt, das sich als Anwalt meiner steuerlichen Interessen ausgibt?
Das haben auch schon einige Ärzte kritisiert. Es gibt aber aus meiner Sicht drei gute Gründe dafür. Zum einen fühlt sich die GKV generell dem Wohl der Versicherten verpflichtet und möchte diese vor Schaden bewahren. Zum anderen wird den Kassen ja ganz konkret vorgeworfen, sie würden eine Reihe von sinnvollen Diagnose- und Therapiemaßnahmen nicht bezahlen. Insofern ist es doch mehr als nur legitim, dass der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen dieser Beanstandung nachgeht und die angeblich sinnvollen Leistungen prüft. Und schließlich haben wir noch ein Kostenargument. Gerade bei Früherkennungsuntersuchungen führt ein IGeL-Verfahren oft zur weiteren Abklärung – zum Beispiel ein positiver PSA-Testzu einer Biopsie oder sogar zu unnötigen Behandlungen. Diese Folgekosten hat die Solidargemeinschaft zu tragen.
Bleiben wir beim Thema Überdiagnostik und Folgekosten. In der Bewertung des PSA-Tests im IGeL-Monitor heißt es unter anderem: "Seit 1980 hat sich die Zahl der jährlich neu entdeckten Prostatakrebsfälle verdoppelt. Hauptursache für den starken Anstieg ist der PSA-Test. Man kann also sagen, dass die große Verbreitung des PSA-Tests zwei Effekte hat: Eine gewisse Anzahl von Männern ist eventuell vor dem Tode durch Prostatakrebs bewahrt worden, aber sicher sind viele Männer unnötig zu Krebspatienten geworden, die ohne Test nie von ihrem Krebs erfahren hätten, also auch nie gesundheitliche Probleme dadurch bekommen hätten. Das heißt, eine große Anzahl an Männern muss mit den Folgen von Operation, Bestrahlung und Hormontherapie leben, obwohl man ihren Krebs gar nicht behandeln hätte müssen." So weit, so gut. Allerdings ist ein Testergebnis keine Diagnose, sondern wie ein Symptom zu behandeln. Und nicht ein Test macht Männer zu Krebspatienten, sondern der Arzt.
Sicher, und gerade zum PSA-Test gibt die S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Urologie zum Prostatakarzinom eine Reihe von Empfehlungen, wie mit dem Test- und dem anschließenden Biopsieergebnis in der Praxis umgegangen werden soll. Strategien, um eine Kettenreaktion an unnötigem medizinischem Aktionismus zu verhindern, existieren also durchaus. Dennoch birgt zum Beispiel das kontrollierte Abwarten mit mehrmaliger Test-Wiederholung ein gewisses Risiko – nämlich dass man zu lange wartet. Deshalb gibt es sicher Patienten und behandelnde Ärzte, die ohne Verzug Klarheit haben wollen und bei einem positiven Befund operieren, obwohl gar nicht klar ist, ob und wie schnell der entdeckte Tumor gewachsen wäre und ob er zu Lebzeiten des Patienten überhaupt Probleme bereitet hätte. Die Biopsien und vor allem die Operation haben teilweise gravierende Risiken und Begleiterscheinungen. Wäre der Krebs unauffällig geblieben, muss der Patient die Folgen dieser Übertherapie hinnehmen, obwohl sie ihm keinen Nutzen bringt.
Dafür kann aber der PSA-Test nichts.
Nicht direkt. Aber selbst beim besten und sorgsamsten Umgang mit dem Testergebnis und bei Beachtung aller Verhaltensalgorithmen der medizinischen Fachgesellschaften hat das Verfahren Nachteile, die wir in der Bewertung so zusammengefasst haben: "Die Datenlage lässt unserer Ansicht nach den Schluss zu, dass es Hinweise auf einen geringen Nutzen gibt, auch wenn die Ergebnisse der Arbeiten teilweise widersprüchlich sind. Über die Schäden, vor allem durch Überdiagnosen, bestehen dagegen keine Zweifel, weshalb wir Belege für geringe Schäden sehen."
Ich darf noch ergänzend aus dem IGeL-Monitor zitieren: "Außerdem gehen wir bei Früherkennungsuntersuchungen grundsätzlich davon aus, dass sie falsche Befunde und unnötige Untersuchungen und Behandlungen mit sich bringen können, was die Lebensqualität der Patienten beeinträchtigen würde." Ist das wirklich fair? In Internetforen finden Sie zahlreiche Männer, die erklären, dass der PSA-Test ihnen das Leben gerettet habe. Was ist denn mit der Lebensqualität dieser Patienten?
Wichtiger Punkt. Auch hier geht es wieder um die Nutzen- und die Schadenbewertung. Um den Nutzen eines Verfahrens wirklich dingfest machen zu können – also Kausalität eindeutig von Koinzidenz abzugrenzen – braucht man große und sehr gute Studien. Unter einem Randomized-Controlled-Trial-Design kann man keine echten Nutzenbelege bekommen. Bei der Schaden-Analyse reicht dagegen unter Umständen schon eine Kohortenstudie, bei der die Studienteilnehmer nicht nach dem Zufallsprinzip ihrer Gruppe zugeordnet sind. Nehmen wir als Beispiel die Darmkrebsvorsorge. Selbst wenn mehrere Tausend Personen von sich behaupten, die Darmspiegelung habe ihnen das Leben gerettet, ist das noch kein Nutzenbeleg. Denn ob die Koloskopie wirklich die Mortalität am kolorektalen Karzinom senkt, kann man nicht durch Einzelfälle beschreiben. Aber wenn bei einem Patienten der Darm während der Spiegelung perforiert wird, ist das sofort ersichtlich und unmittelbar auf den Eingriff zurückzuführen. Insofern tut man sich bei der Schadenbewertung oft leichter.
Bezogen auf den PSA-Test heißt das?
Die Schadenbewertung des PSA-Tests basiert auf theoretischen Überlegungen und auf Erfahrungen mit anderen Tests. Die Methode ist nicht perfekt, es werden Fehlalarme ausgelöst, eine Prostata-OP kann zu Impotenz und Inkontinenz führen – das alles wissen wir definitiv. Ob der Test einem Patienten das Leben gerettet hat, wissen wir nicht definitiv. Denn vielleicht wäre der Krebs ja auch lebenslang stumm geblieben. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen den beiden Größen "Schaden" und "Nutzen". Eine Einschränkung gibt es allerdings: Wie viele Übertherapien es gibt, lässt sich nicht in Studien ermitteln, sondern nur aus Modellrechnungen und einem Vergleich der Neuerkrankungen mit und ohne Screeningtest abschätzen.
Unser Gesprächseinstieg war die Bewertung des Toxoplasmose-Tests in der Schwangerenvorsorge als "negativ". Kurz nachdem der IGeL-Monitor online ging und dieses Urteil in den Publikumsmedien kolportiert wurde, meldete sich unter anderem das Deutsche Konsiliarlabor Toxoplasma zu Wort und verteidigte den Suchtest nach dem Erreger Toxoplasma gondii als sinnvolle Selbstzahlerleistung mit hohem Patientenutzen.
Fast parallel dazu fand eine Veranstaltung des Diagnostica-Verbands in Berlin statt, bei der eine Biologin vom Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der Universität Wien ihre Einschätzung des Toxoplasmose-Screenings in Österreich darlegte. Dort ist der Test Bestandteil der gesetzlichen Mutterschaftsrichtlinien und soll seit seiner Einführung im Jahr 1975 Leben und Gesundheit von 5000 Kindern gerettet haben. Es gibt also auch kompetente Gegenstimmen zu den Bewertungen im IGeL-Monitor.
Die aber bisher nicht bis zu uns gelangt sind. Wo finden sich diese Zahlen aus Österreich? Auf welcher Datenbasis verteidigt das Konsiliarlabor Toxoplasma den Test? Welche Eigeninteressen spielen dabei eine Rolle? Natürlich wäre uns das überaus peinlich, wenn wir eine wichtige Studie übersehen hätten. Und selbstverständlich würden wir in einem solchen Fall unsere Suchstrategie überprüfen und die neu entdeckten Ergebnisse in die Bewertung mit einfließen lassen. Wir sind völlig offen für Fachdiskussionen – aber bitte den entsprechenden wissenschaftlichen Kriterien folgend. Und nicht bloß nach Eindruck und Gefühl.
Apropos Schwangerenvorsorge: Ende letzten Jahres hat mal wieder eine der viel geschmähten IGeL-Leistungen den Sprung in die Kassenerstattung geschafft, nämlich der Test auf Gestationsdiabetes. Was sollen Patienten über diesen Vorgang denken, wenn plötzlich etwas anerkannt und sinnvoll ist, was vorher als überflüssig und "Abzocke" galt?
Ich kann verstehen, dass das nicht ganz leicht nachvollziehbar ist. Aber Wissenschaft ist eben ständig im Fluss. Und das, was Sie skizzieren, passiert ja auch umgekehrt. Den Ultraschall der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung hatten wir ursprünglich als "tendenziell negativ" eingestuft, als kurz vor der Veröffentlichung die Daten der amerikanischen PLCO-Studie bekannt wurden. Das führte dazu, dass aus dem "tendenziell negativ" sogar ein "negativ" wurde. Die Datenlage kann sich natürlich ändern, gerade bei aufwändigen Langzeitstudien, wie sie derzeit auch mit dem PSA-Test noch laufen. Möglich, dass sich dann unsere Bewertung ändert.
Und zur Aufnahme von neuen Leistungen in den GKV-Katalog: Das ist eine komplexe Entscheidung, über die letztendlich im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) von Vertretern der Kostenträger und der Leistungserbringer abgestimmt wird. Das Ringen um die beste Evidenz ist nicht trivial, und da gibt es auch Interpretationsspielraum, was etwa die Bewertung der Studienlage betrifft. Deshalb kann mitunter der Eindruck von Willkür entstehen – was es aber nicht ist.
Ich übersetze "Willkür" in diesem Zusammenhang mal so: Dem G-BA wird häufig vorgeworfen, er sei ein Instrument von Krankenkassen und Politik zur Rationierung im Gesundheitswesen, und zwar zu Lasten der Patienten.
Ich war selbst schon Mitglied im G-BA und habe keinen Grund anzunehmen, dass die Krankenkassen sich aus Kostengründen sinnvollen Neuerungen verweigern. Da unterstelle ich den Beteiligten vielmehr das ehrliche Bemühen, den Versicherten alles zugutekommen zu lassen, was ihnen laut SGB V (Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch) zusteht. Englische Verhältnisse haben wir hier definitiv nicht. Dort gibt es eine Obergrenze, wie viel ein gewonnenes Lebensjahr unter Berücksichtigung der Lebensqualität kosten darf.
Allerdings sind einige IGeL zwar nie GKV-Leistungen gewesen, wurden in Zeiten prall gefüllter Kassen aber in einer Art stillschweigender Übereinkunft trotzdem erstattet. Zum Beispiel die Augeninnendruckmessung und auch das Toxoplasmose-Screening bei Schwangeren. Beides wird im IGeL-Monitor als "tendenziell negativ" beziehungsweise "negativ" bewertet. Das mag fundierte wissenschaftliche Gründe haben, weckt aber kein allzu großes Vertrauen bei den Versicherten, wenn offenkundig rein wirtschaftliche Erwägungen nun nachträglich medizinisch begründet werden.
Stimmt, nur lautet die Frage in diesem Fall nicht: Wieso zahlt die Kasse das nicht mehr? Sondern: Wieso hat sie das vorher bezahlt? Einen möglichen Grund haben Sie ja schon genannt. Klar tut man sich in prosperierenden Zeiten mit solchen freiwilligen Extras leichter als heute, wo es eher um Beitragserhöhungen beziehungsweise Zusatzbeiträge geht und die Marktsituation nicht mehr so einfach ist wie in den 1970er-Jahren. Darüber hinaus geht es aber auch noch um etwas anderes: Es ist im Einzelfall gar nicht immer so leicht, eine Kassenleistung exakt zu definieren und von Selbstzahlerleistungen abzugrenzen. Bei der Bach-Blütentherapie ist der Fall eindeutig. Aber viele IGeL, die zur Früherkennung angeboten werden, sind Kassenleistung, wenn ein so genannter begründeter Verdacht besteht.
Ein potenzieller Kandidat für die Aufnahme in den GKVKatalog scheint der molekulardiagnostische Test auf Humane Papillomaviren (HPV) zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs zu sein – derzeit ebenfalls eine IGeL-Leistung. Jedenfalls hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zum Jahresbeginn "Hinweise auf einen Nutzen im Primärscreening" publiziert.
Entscheidend ist allein die wissenschaftliche Evidenz, ob das dem einen oder anderen nun gefallen mag oder nicht. Das ist ja das Schöne an Wissenschaft, dass sie objektivierbar ist. Der Gesetzgeber hat hier für die "besonderen Therapierichtungen", für Kügelchen und Wallewalle, eine großzügige Ausnahme gemacht. Der IGeL-Monitor macht keine Ausnahmen, wir bewerten alle Verfahren gleich streng. Es trifft mich deshalb hart, wenn es im GWUP-Blog heißt, der IGeL-Monitor sei "eigentlich nicht so richtig ernst zu nehmen". Stehen Sie noch dazu?
Als Skeptiker tut man ja bekanntlich gut daran, gelegentlich auch an seiner Skepsis zu zweifeln. Um den Sachverhalt zu klären, haben wir dieses Interview ja geführt. Vielen Dank dafür!
Interview: Bernd Harder
Diese Interview erschien im "Skeptiker" 1/2012.
Dr. Christian Weymayr ist Biologe und seit mehr als 20 Jahren Wissenschaftsjournalist mit Schwerpunkt Medizin. Derzeit ist er Redakteur des "IGeL-Monitors", ein Online-Portal des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zur Bewertung von Individuellen Gesundheitsleistungen. Weymayr ist Autor von "Mythos Krebsvorsorge" (mit Klaus Koch) und aktives Mitglied im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.