Mark Benecke
Neapel! Stadt des charmanten Chaos, der hügeligen Gassen, des fürchterlich starken Espresso. Heimat eines sympathischen Blutwunders und des Bischofs Januarius (lat.: der Pförtner)... In einer Hopplahopp-Aktion suchte das ZDF im April 2004 einen Experten, der zum sich in Kürze wieder verflüssigenden Blut des heiligen Januarius etwas sagen bzw. noch besser: die rotbraune Substanz nachkochen und zudem der Prozession in Neapel beiwohnen könne. Die GWUP-Kollegen Bernd Harder (katholische Wunder) [7] und Jochen Bergmann (Lebensmittel-Chemie) spielten den Ball mir, dem Kriminalbiologen, zu [4]. Dafür danke ich den beiden, denn ich lernte bei der Vor-Ort-Analyse viel - auch darüber, was konservative Medien, hier das ZDF und die "Bild"-Zeitung [3, 9], unter Optimal-Bedingungen wahrnehmen möchten, können und dürfen.
Denn klar ist: Dröge Aufklärung alleine taugt nichts. Sexy und mirakulös muss ein Thema (auch: "Stoff", "Story" oder "Stück") sein - selbst wenn der Forscher sich zwischendurch die Haare rauft. Um es kurz zu machen und vor allem Bilder (Abb. 1 - 16) sprechen zu lassen: Angeblich seit dem Jahr 1389 verflüssigt sich eine rötlich-braune Substanz (das "Blut" des heiligen Januarius) in zwei gut verschlossenen Fläschchen. Die Verflüssigung ist, wie ich aus einem Abstand von wenigen Metern beobachten konnte, weder ein Vertauschungs-Trick noch eine Wahrnehmungstäuschung, sondern geschieht unter von allen Seiten gut beobachtbaren Bedingungen im Hellen (Abb. 1, 2). Auffällig ist, dass neben einer runden Flasche, in der das Wunder-Blut gut zu sehen ist, noch ein älter erscheinendes Fläschchen steht, in das man wegen seiner Form und Farbe kaum sehen kann (Abb. 3). Nach älteren Quellen italienischer Kollegen soll es fast 200 solcher Fläschchen im Raum Neapel geben [1, 2]. In Italien ist dabei das "Blut" des heiligen Lorenz besonders bekannt, weil es dem Kollegen Garlaschelli von der Universität Pavia schon vor mehr als zehn Jahren gelungen war, mit Erlaubnis von Pater Italo Pisterzi von der Kirche der heiligen Maria in Amaseno, das "Blut" im verschlossenen Original-Fläschchen durch Abkühlen und darauf folgendes, mildes Erhitzen mit einem Fön zu verflüssigen und wieder zu verfestigen [5, 6, 8]. Auch vom heiligen Pantaleon, der unter rheinischen Katholiken sehr bekannt ist, weil sein Schädel in Köln liegt, sind mehrere Blut-Fläschchen im Süden verteilt. Im Augustiner-Konvent von Madrid verflüssigt sich sein "Blut" beispielsweise stets am 27. Juli. Doch zurück zu Januarius. Das Heiligen-Lexikon (http://www.heiligenlexikon.de/) berichtet über ihn: "Januarius Reliquien wurden 835 von Neapel nach Benevent übertragen und 1491 nach Neapel zurückgebracht, wo er Namensgeber des Doms ist; sie sind Grundlage einer besonderen Verehrung mit den dort aufbewahrten Ampullen, deren trockenes Blut flüssig erscheint, wenn sie an seinem Hauptfest in die Nähe seines Hauptes gebracht werden. Das so genannte Blutwunder ereignet sich meist am Samstag vor dem 1. Mai, dem Fest der Überbringung der Reliquie nach Neapel, am 19. September und am 16. Dezember, dem Gedächtnistag der Warnung vor dem Vesuvausbruch im Jahr 1631. In den letzten 400 Jahren wurden zusätzlich noch etwa 80 Verflüssigungen außerhalb der genannten Zeiten gezählt. Eine Nichtverflüssigung gilt als schlimmes Omen." Weil sich das Blut am ersten Tag tatsächlich nicht verflüssigte, stand ich in einem Meer intensiv Betender und teils ernsthaft erschütterter Italiener/-innen, die bei der Abschluss-Kundgebung in der großen Kathedrale von Neapel nun Vulkan-Ausbrüche und Erdbeben, also um ihr Leben, fürchteten. Die Stimmung war niederdrückend. Ältere Leute packte tiefer Kummer, die Gutgekleideten in den ersten Reihen der Kirche wurden immerhin blass (Abb. 4). Noch viel stärker war der Kardinal in Bedrängnis, in dessen Händen sich das Blut trotz des bewährten Ritus und nach einer langen Prozession einfach nicht verwandeln wollte (Abb. 5, 6). Nachdem er das Gefäß bereits ein Dutzend Mal gedreht und gewendet hatte, verkündete er verunsichert und sichtlich verstimmt, dass die Welt offenbar in einem derart üblen Zustand sei, dass das Wunder diesmal ausfalle (Abb. 7). Das sei ein göttlicher Fingerzeig, sich innerlich zu bessern. Damit entließ er das sprachlose und entsetzte Publikum in den schönen Frühlings-Abend.
Zu meinem Erstaunen hörte ich danach vor der Kathedrale mehrfach hämische Bemerkungen darüber, dass der Grund des gescheiterten Wunders wohl eher darin zu sehen sei, dass die anwesenden Kleriker, wie allgemein bekannt sei, korrupte Geschäftemacher seien. Abgesehen davon passierte nach dem misslungenen Versuch Dreierlei:
- Die Kirchgänger - praktisch nur Über- 45-Jährige - verließen zerknirscht die Kirche und bereiteten sich auf eine (für mich zunächst verwunderliche) "Wiederholung" am folgenden Morgen vor.
- Die jüngeren Menschen gaben auf Befragen in den Straßen um die Kirche herum an, dass sie überhaupt nicht wüssten, warum wir alle so aufgeregt seien und ob wir von einer 1.-Mai-Feier kämen.
- Die anwesende ZDF-Journalistin entschied sich spontan für folgende Geschichte: "Es muss sich hier um ein Wunder handeln. Herr Dr. Benecke kann mit seiner Behauptung nicht Recht haben, dass das Blut eine Mischung von in Neapel und Umgebung besonders leicht erhältlichen Chemikalien ist (Abb. 8, 9). Der Beweis dafür ist, dass sich das Blut heute nicht verflüssigt hat. Hätte es sich verflüssigt, so würde ich glauben, dass das Blut im Reagiergefäß hergestellt werden kann. So aber scheinen mir andere Einflüsse vorzuliegen."
Hier klingelte meine skeptische Alarm-Glocke, denn diesem wagemutigen Gedankengang lässt sich nichts entgegen setzen. Bei sehr viel Pizza und noch mehr rotem Wein beschlossen das ZDF-Team und ich, uns vorsichtshalber gegenseitig auf den Fersen zu bleiben. Am folgenden Tag gelang es mir, der stets nach Tatverdächtigen sucht, eines der Geheimnisse des nun endlich, nach gewaltigem Drehen und Wenden des Gefäßes zuletzt stattfindenden Verflüssigungswunders zu verstehen: Die Zeremonie wurde, anders als am Vortag, von einem in Weiß gewandeten Mann, wohl dem Diakon der Gemeinde, begleitet. (Der Kardinal war am Vortag abgereist und hatte dem örtlichen Priester alles Weitere überlassen.) Als die Anwesenden an diesem zweiten Tag erneut allen Mut sinken ließen und die Zeremonie erfolglos abgebrochen werden sollte, tat der Diakon etwas Interessantes: Er verließ den Chor-Raum und forderte die in ersten Reihe betenden sechs älteren Frauen, die schon am Vortag den altertümlichen Singsang zur Anbetung von San Gennaro unermüdlich wiederholt hatten, auf, unbedingt weiter zu singen (Abb. 10). Ich leite daraus ab, dass dieser Mann, der im Gegensatz zu den deutlich erregten Priestern und Laien keine Mine verzog, wohl weiß, warum sich die Substanz wirklich verflüssigt: Sie muss einfach genügend bewegt werden. Solche Stoffe nennt man thixotrop. Da die Priester die Dreh-Bewegung an beiden Tagen aber nur recht zaghaft ausführten, um zu prüfen, ob das Blut flüssig ist, spielte er nun auf Zeit. Ungewöhnlich war dabei, dass selbst die lange Prozession durch Neapel am Vortag nicht die nötige Energie ins thixotrope Material gebracht hatte. Immerhin bewegen sich die Träger in einem zeremoniell sehr eigentümlichen Gleichschritt, der das höchstmögliche Schwanken der Reliquie bewirkt (Abb. 11). Die Betenden können übrigens nicht erkennen, ob bzw. wann genau sich das "Blut" verflüssigt, weil die Fläschchen recht klein sind. Stattdessen tut ein daneben stehender Laien-Zeuge durch Schwenken eines Taschentuches kund, ob das Wunder bereits eingetreten ist (Abb. 12).
Umso größer ist deshalb die Anspannung der Anwesenden. Wegen der geringen Größe der Fläschchen achten sie weniger auf das Heiligenblut als auf jede Regung, die im Raum stattfindet. So kam es am ersten Tag in der Kirche auch zu kleinen, sofort wieder ersterbenden Jubel-Ausbrüchen der Menge, wenn der ein oder andere das Minen-Spiel des Kardinals missdeutet hatte. (6)(4)(5) Das ZDF - nach dem zweiten Tag nun doch von der Vorhersagbarkeit des Wunders überzeugt - schnitt trotz eines aufwändigen Drehs, bei dem ich im Labor die Verflüssigung bereits vorgemacht hatte, diese meiner Meinung nach wichtigste Sequenz vollständig aus dem Beitrag heraus. Bei nicht ganz trennscharfem Zuschauen konnte so der Eindruck entstehen, dass es sich vielleicht doch um ein echtes Wunder handeln könnte. Ähnlich verfuhr die "Bild"-Zeitung, die zwar an sehr prominenter Stelle inhaltlich völlig korrekt über das Ereignis berichtete, aber ebenfalls das (ein zweites Mal im Labor nachgestellte) Experiment verschwieg und stattdessen "Vatikan-Experten kontern" ließ: "Der Experte: ,Es ist eine einfache chemische Reaktion aus Eisen-Drei-Chlorid, Eierschalenkalk und Wasser. Alle Zutaten gibt es seit Jahrhunderten.' Der Trick: ,Durch das Bewegen der Ampulle verflüssigt sich der feste Stoff.' ,Unsinn', kontern Vatikan-Experten: ,Schon öfter verflüssigte sich das Blut nicht.'" (Kleiner Exkurs: Eine ähnliche Erfahrung, allerdings wesentlich härter ausgeprägt, machte GWUP-Kollege Wolfgang Hund, der im Februar 2004 als Illusions- und Manipulations- Künstler dem TV-Sender RTL vorgeführt hatte, wie Uri Geller Löffel verbiegt. Hunds eindeutige und klare Vorführungen wurden im ersten Teil der Sendung zugunsten Gellers Show gar nicht gezeigt, und in einem später nachgeschobenen Beitrag nur kurz angedeutet.) Dabei klärt das Labor-Blut eindeutig, was beim Blutwunder von Neapel wirklich geschieht: Eine Substanz, die mit örtlich problemlos erhältlichen Chemikalien schon seit Jahrhunderten herstellbar ist, geht durch Bewegung recht plötzlich vom scheinbar "festen" Gel- in den flüssigen Zustand über (Thixotropie).
Skeptiker sollten sich dennoch nicht über die etwas verbogenen Bericht-Erstattung ärgern. Eine Prise übersinnlicher Ungewissheit lässt nun einmal jede Geschichte spannend bleiben - und nichts anderes verkaufen die Medien: Schöne Geschichten. Pure, kritische und rein inhaltsbezogenen Aufklärung ist für das breite Publikum nicht spannend, wie die niedrige Auflage des Skeptiker zeigt. Ich meine, dass wir Skeptiker statt dessen glücklich sein können, dass sich gerade die beiden konservativsten deutschen Massen-Medien entschieden haben, das ohne chemisches Fach-Wissen nicht begreifliche neapolitanische Blutwunder im Kern korrekt darzustellen: Als eine emotional aufgeladene, kirchliche Inszenierung für katholische Menschen. Angenehm war vor Ort übrigens, dass keinerlei Geschäft aus dem "Wunder" geschlagen wird. Es gibt nur einen winzigen Stand in der Kirche, der kleine Souvenirs für wenig Geld verkauft (Abb. 13), ansonsten fanden sich weder eine Kirmes noch Pommes-Buden, TShirt-, Devotionalien- oder Buch-Verkäufer - nichts. Die religiöse Veranstaltung wird also nicht, wie es in Zentral-Europa so oft geschieht, profanisiert, indem man den Glauben vorschiebt, um einen freien Arbeits-Tag herauszuschinden oder eben auf einer Kirmes Zuckerwatte zu schlecken. Obwohl es sich regelmäßig wiederholt, berichten die italienischen Zeitungen allerdings landesweit über das Ereignis (Abb. 14).Insgesamt habe ich das Blutwunder von Neapel als etwas im Grunde Schönes wahrgenommen, das den vorwiegend älteren Katholiken helfen soll, ihren Glauben aufrecht zu erhalten. Ob das wünschenswert ist oder nicht, geht mich nichts an. Der örtliche Priester war jedenfalls so froh, als die Verflüssigung endlich eintrat, dass er seine Tränen nicht mehr zurück halten konnte und ohne jede Schauspielerei weinte (Abb. 15). Auch einen bösartigen Betrug der Kleriker kann ich nicht erkennen, weil mehrere Theologen heute argumentieren, dass Wunder oder Reliquien nicht deshalb so bedeutsam sind, weil sie echt seien, sondern weil sie als subjektiver Glaubens-Beweis dienten [Abb. 16]. Hierdurch ist eine skeptische Entlarvung verunmöglicht, da die Echtheit des Wunders gar nicht mehr behauptet wird. Das ist eine zwar freche, aber aufrichtige katholische Interpretation. Das spirituelle Erleben der Kirchgänger/-innen wird dabei nicht auf die Sachebene gezwungen, sondern bleibt im Bereich des Glaubens. Der Glaube soll aber meinetwegen gerne frei bleiben, so lange kein Dogma daraus wird und niemand dadurch in Bedrängnis kommt. Dr. Mark Benecke
Dr. Mark Benecke arbeitet international als Kriminalbiologe. Er hat eine umfangreiche Website unter www.benecke.com.
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 3/2004.