Bernd Harder
Seit 25 Jahren erscheint in dem bosnischen Dorf Medjugorje sechs "Sehern" die Jungfrau Maria. Die Umstände und Verwicklungen, die zu den "Erscheinungen" eführt haben, stellen so manchen Religionsthriller in den Schatten - und sind kaum einem der nach Millionen zählenden Pilger bekannt.
Was erwartet den geneigten Leser, wenn ein katholischer Geistlicher im Rahmen einer 80-seitigen Abhandlung zum Thema Marienerscheinunen plötzlich einen "Ausflug in die Esoterik" ankündigt? Ebenso unvermutet wie schwärmerisch bekennt Pfarrer Albrecht von Raab-Straube in seinem Vortragsmanuskript "Kriterien der Unterscheidung" (1), schon immer "einen Riecher" für "Kraftorte" gehabt zu haben, wie sie etwa im "Kultplatzbuch" von Gisela Graichen zu finden seien. Gemeinsam ist diesen Orten - so Raab-Straubes eigene Deutung -, dass dort vor Zeiten ein außergewöhnliches Ereignis stattgefunden hat.
Medjugorje findet sich in Graichens Schauder-Atlas zwar nicht - dennoch ist der Wilnsdorfer Gemeindepriester gewisse, dass es sich auch bei dem bosnischen Marienerscheinungsort um eine Stätte mit besonderer Ausstrahlung handelt. "Mir ist aufgefallen", fasst Raab-Straube zusammen, "dass an vielen Orten, an denen Maria erschien, Grabstätten aus oft uralter Zeit vorgegeben waren."
So angeblich auch in Medjugorje. "Wie mir Franziskaner aus Medjugorje mitteilen, müssen die dortigen Erscheinungen gesehen werden im Zusammenhang mit einer schrecklichen Untat der Kommunisten im zweiten Weltkrieg: Man sperrte etwa hundert Franziskaner in einen Bunker und sprengte diesen (ganz in der Nähe des heutigen Erscheinungsberges)".
"Müssen"? Vielleicht.
Vielleicht aber nicht unbedingt so, wie dem braven Kirchenmann Raab-Straube dünkt - der noch dazu einer recht einseitig gefärbten Überlieferung der Ereignisse aufgesessen zu sein scheint. Fraglos ist der historische, poitische und sozio-religiöse Kontext ein Schlüssel zur kritischen Beurteilung der behaupteten Muttergottes-Erscheinungen in medjugorje. allerdings sind die unterschiedlichen Entwicklungsstränge und zeittafeln bis zum ersten Erscheinungstag im Juli 1981 erheblich weitreichender und komplizierter, als ein überzeugter Medjugorje-Anhänger wie Albrecht von Raab-Straube es mit seinem Eso-Exkurs zu den "sanctitas loci" zu erfassen glaubt.
Kasten: Was sind anerkannte Marienerscheinungen?
- Nach dem Kirchenrecht fallen Marienerscheinungen wie in Medjugorje grundsätzlich in den Kompetenzbereich des Ortsbischofs. Er – und nicht etwa der Papst – entscheidet über die Anerkennung. Der Vatikan behält sich in letzter Instanz lediglich eine Überprüfung der Entscheidung vor. Im Zuge seiner Beurteilung der Phänomene kann der Bischof eine Kommission aus Experten unterschiedlicher Fachgebiete, wie Theologen, Mariologen, Soziologen, Psychologen, Mediziner etc. einsetzen. Diese Untersuchungskommission ist aber nur ein Beratungsgremium ohne eigene Vollmachten.
- Geprüft wird unter anderem, ob die Botschaften mit der allgemeinen Kirchenlehre übereinstimmen, ob die Erscheinungen dauerhafte spirituelle Früchte zeitigen, ob die Seher geistig gesund sind, ob es Hinweise auf eine finanzielle Vorteilnahme gibt etc.
- Von den mehr als 900 Marienerscheinungen, die seit dem Jahr 41 gezählt wurden, hat die katholische Kirche bislang nur rund ein Dutzend offiziell anerkannt, und zwar Guadelupe (Mexiko, 1531), Paris (1830), La Salette (Frankreich, 1846), Lourdes (1858), Philippsdorf (Böhmen, 1866), Pontmain (Frankreich, 1871), Pompeji (Italien, 1872), Knock (Irland, 1879), Fatima (1917), Beauraing (Belgien, 1932), Banneux (Belgien, 1933), Syrakus (Italien, 1953, eigentlich keine Erscheinung, sondern ein "Tränenwunder" um ein weinendes Marienbild) und Amsterdam (1945-1959).
- Marienerscheinungen zählen per definitionem zu den Privatoffenbarungen, die auch im Falle einer Anerkennung keine verpflichtenden Konsequenzen für die allgemeine Glaubenslehre haben.
- Die offizielle Anerkennung einer Erscheinung bedeutet wenig mehr als die Freigabe der Marienverehrung an
dem betreffenden Ort. Die Anerkennung bezieht sich nicht auf eine "objektive Tatsächlichkeit" der Phänomene und heißt auch nicht, dass die Kirche sich hinter die Aussagen der Seher stellt. - Für die abschließende Beurteilung einer Marienerscheinung gibt es drei Möglichkeiten:
1. Constat de supernaturalitate: "Es steht fest, dass die Erscheinungen übernatürlich sind."
2. Constat de non supernaturalitate: "Es steht fest, dass die Erscheinungen nicht übernatürlich sind."
3. Non constat de supernaturalitate: "Es steht nicht fest, dass die Erscheinungen übernatürlich sind." - Die dritte Medjugorje-Untersuchungskommission entschied sich 1991 in ihrer "Erklärung von Zadar" für die letzt genannte Formulierung, die soviel bedeutet wie: Man weiß es noch nicht. Somit bleibt die Frage nach der Echtheit offen. Die Amtskirche erkennt die Erscheinungen weder an noch verwirft sie sie. Medjugorje ist also kein „Erscheinungsort“, sondern lediglich ein „Ort des Gebets und des Gottesdienstes“.
1. Der "Fall Herzegowina"
Von Sarajewo, der Schicksalsstadt Europas, bis zur St. Jakobskirche von Medjugorje sind es knapp 150 Kilomter. Vor 25 Jahren sei hier die "Gospa" (kroatisch für "Gottesmutter") erschienen, erzählen die Dorfbewohner und die nach Millionen zählenden Pilger aus aller Welt. Unter Tränen habe die Erscheinung zuallererst um Frieden gebeten. Der Seherin Marija Pavlovic soll sie am 26. Juni 1981 gesagt haben: "Mir, Mir, Mir!" - "Friede, Friede, Friede und nur Friede! Zwischen Gott und den Menschen soll wieder Friede herrschen. Der Friede soll unter den Menschen sein." Diese Botschaft steht bis heute im Mittelpunkt der Marienerscheinungen von Medjugorje.
Medjugorje im Sommer 1981 - das ist eine "kleine, unbekannte katholische Pfarrei, schwer unterdrückt durch ein totalitäres, atheistisches System", beschreibt die einheimische Autorin Mirjana Stanislava Vasilij-Zuccarini die Situation. Die rund 4000 Gläubigen der abgeschiedenen Pfarrei im Bergland der Herzegowina verteilen sich auf die fünf Dörfer Medjugorje, Bijakovici, Vionica, Miletina und Surmanci. Bis auf 60 islamische Mitbürger sind alle Einwohner katholische Kroaten - die bekannt sind für ihre Mariengläubigkeit und ihre Treue zu Papst und Kirche.
Franziskaner, Kroaten und die Muttergottes
Die Pfarrchronik berichtet vo einem "Märtyrerweg", den die Pfarrei von Medjugorje durch die Jahrhunderte gegangen sei. Und nicht nur Medjugorje. Die gesamte Republik Bosnien-Herzegowina ist geprägt durch die über 400-jährige Herrschaft zwischen 1463 und 1878. Während dieser Zeit waren es die Franziskaner, die unter schwierigen Umständen und großen Opfern die einheimische katholische Bevölkerung seelsorgerisch betreuten und zugleich das religiöse Bewusstsein der Kroaten bewahrten. Der Orden des heiligen Franziskus von Assisi hatte sich schon 1291 im kroatischbosnischen Staat niedergelassen und die Bogumilen (die so genannten "bosnischen Christen") für die römisch-katholische Kirche zurückgewonnen. Das Ansehen der Mönche, die vier Jahrhunderte lang der Zerstörung ihrer Klöster, Folterung, Tötung und Vertreibung durch die türkischen Besatzertrotzten, ist in dieser Gegend bis heute außerordentlich hoch.
Neben den Ordensleiten ist es vor allem die Muttergottes, die dem kroatischen Volk in den schwierigen Zeiten der Unterdrückung, des Ringens um die eigene Existenz und Souveränität Beistand leistet. In der volkstümlichen Heiligenverehrung der Region nimmt Maria seit jeher einen herausragenden Platz ein. Von den Franziskanern seit dem 13. Jahrhundert engagiert gefürdert und instrumentalisiert, wird die Mariengläubigkeit nicht nur zum Charakteristikum der Volksfrömmigkeit, sondern auch zum verbindenden nationalen Element. Maria avanciert dank der Ordensbrüder zur Mutter, Königin und Schutzpatronin der Kroaten. Davon zeugen zahlreiche Marienkirchen und Marienwallfahrtsorte mit wundertätigen Marienbildern. Für die naturverbundenen und einfach lebenden Menschen in der Herzegowina ist der Himmel viel näher und durchlässiger als für die meisten Europäer. Diese "großen emotionalen Kräfte und unkontrolliere Sentimentalität" ist mitunter sogar der Amtskirche nicht recht geheuer: Ein "von den kirchlichen Normen abweichendes Alltagsverhalten" sei für die Religiosität der Kroaten geradezu charakteristisch (2).
Weltpriester gegen Ordensleute
All dies ist nicht unbedingt verwunderlich – spielt sich die Geschichte Europas doch "konzentriert im Leben der Bevölkerung von Medjugorje ab", heißt es in der Pfarrchronik weiter. Und: "Die Ereignisse waren meistens bedrohlich und
zerstörend und nur selten aufbauend." Die Historikerin Maria Anna Zumholz hat in ihrer umfangreichen Studie zu den
"Marienerscheinungen" im deutschen Heede (1937 – 1940) herausgearbeitet, dass Grenzlandschaften (die etwa im
Fall von kriegerischen Auseinandersetzungen immer als erste betroffen und zudem in wirtschaftlicher Hinsicht oft
benachteiligt sind) sich „offenbar als besonders prädestiniert für wundersame Phänomene wie Marienerscheinungen“
(3) erweisen. In Bosnien-Herzegowina verlief im Römischen Reich die Grenze zwischen Ost und West, im Mittelalter
zwischen katholischen und orthodoxen Ländern und später zwischen der Österreich-Ungarn-Monarchie und dem osmanischen Reich.
Erst im 19. Jahrhundert finden sich die europäischen Großmächte zum Eingreifen auf dem Balkan bereit. Da österreichische Truppen entscheidend bei der Befreiung Bosniens und der Herzegowina mitwirken, besetzt die Österreich-
Ungarn-Monarchie 1878 kurzerhand die beiden Provinzen und annektiert sie schließlich 1908. Der neue Herrscher, der Habsburger Kaiser und König Franz Josef I., ersucht den Papst, wieder so genannten Weltklerus (also Priester, die keinem Orden angehören, sondern dem Vatikan beziehungsweise dem örtlichen Bischof unterstehen) in Kroatien einzusetzen – offenbar missfällt dem Monarchen das enge Band zwischen der Bevölkerung und den Mönchen. Papst Leo XIII. gründet daraufhin mit dem Dekret "Ex hac augusta" im Jahr 1881 die Diözesen Sarajevo, Banja Luka, Mostar und Trebinje. Und legt damit den Grundstein für den "Fall Herzegowina", der noch 100 Jahre später die "Marienerscheinungen" von Medjugorje im Bistum Mostar beeinflussen soll. Der Heilige Stuhl unterstellt die katholische Kirche in Bosnien teils
dem Franziskanerorden und teils dem pastoralen Klerus. Die Gemeinden werden zwischen den alteingesessenen
Ordenspriestern und den gesandten Geistlichen des Vatikans aufgeteilt. Die Franziskaner, bis 1881 Jahrhunderte
lang die einzigen Seelsorger in Bosnien-Herzegowina, büßen dadurch erheblich an Macht und Einfluss ein – was sie keineswegs in mönchischem Gehorsam hinnehmen. Und bis heute nicht zu tun gedenken.
Insbesondere im Bistum Mostar streiten die Klosterbrüder mit dem weltlichen Oberhirten erbittert um jede einzelne Pfarrei, die Mehrzahl der Gläubigen im Rücken, die nie vergaßen, dass es die Franziskaner gewesen waren, die ihnen
während der Türkenherrschaft zur Seite gestanden hatten.
Massaker bei Medjugorje
Das Kaiserreich Österreich-Ungarn zerfällt nach dem Ersten Weltkrieg. Aber auch im 1918 entstehenden Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (das 1928 in Jugoslawien umbenannt wird), erlangen die Kroaten weder volle Unabhängigkeit noch nationale Freiheit. Statt von den osmanischen Eroberern werden sie nun von der serbischen Minderheit politisch und kulturell gegängelt und wirtschaftlich ausgebeutet, die Jugoslawien lediglich als eine Art Groß-Serbien betrachtet. Nur der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhindert noch den Zerfall des Vielvölkerstaates.
1941 überfällt Hitler Jugoslawien und besetzt Serbien. Kroatien wird zum "Unabhängigen Staat Kroatien" unter deutscher und italienischer Oberherrschaft. Die Macht in Kroatien erlangen die Vertreter der fanatisch-nationalistischen Ustasha-Bewegung. Während der Krieg tobt, kommt es zu Racheakten und Gräueltaten an der serbischen Bevölkerung durch die kroatische Ustasha und durch die serbischen Cetniks an der kroatischen Bevölkerung.
Welche Rollen spielen die Franziskaner in dieser Zeit, die einst maßgeblich die Gleichstellung von religiöser und nationaler Identität der Kroaten betrieben? Verschiedenen Berichten zufolge werden im Februar 1945 im Kloster von
Siroki Brijeg in der Herzegowina zwölf Franziskaner von serbischen Partisanen ermordet – möglicherweise jenes Ereignis,
auf das Albrecht von Raab-Straube in seinem ominösen "Kraftort"-Exkurs anspielt. Das eigentlich Merkwürdige an
Raab-Straubes Darstellung ist indes nicht seine Anbiederung an esoterische Phantastereien über die "inkarnierte Grundstimmung" bestimmter Orte und Kultstätten. Sondern vielmehr die – unerwähnt bleibende – Tatsache, dass
ganz in der Nähe des heutigen "Erscheinungsberges" von Medjugorje ein anderes Ereignis stattfand, das auf die Franziskaner ganz und gar kein günstiges Licht wirft.
Surmanci ist eines der fünf Dörfer der heutigen Pfarrei Medjugorje. Während des Krieges befindet sich hier ein orthodoxes Kloster. Im Sommer 1941 treibt die Ustasha die gesamte Mönchsgemeinschaft nach draußen und lässt die
Brüder lebendig begraben. Fast zeitgleich sterben 600 Serben, die von den Felsen rund um Surmanci in die Tiefe gestürzt werden. Eine unheilvolle Verstrickung der Franziskaner als "engstirnige Patrioten" (4) und "glühende Helfer
der Ustasha" (5) in die Massenmorde gilt als nahezu sicher. Kroatische Katholiken bekunden in Briefen an das
Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche im Land, Erzbischof Stepinac, ihr Erschrecken über „die unmenschliche und unchristliche Vorgehensweise vieler kroatischer katholischer Priester" und über die "Herrschaft des Terrors".
Das Massaker von Surmanci wird von Historikern auf den 21. Juni 1941 datiert. Fast auf den Tag genau vierzig Jahre später sehen sechs Kinder auf einem Berg bei Medjugorje die Gottesmutter.
Die "Königin des Friedens" greift ein
Im Februar 1981 gedenken 7000 Kroaten vor der Kathedrale von Zagreb demonstrativ des 21. Todestags von Erzbischof
Stepinac. Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche haben einen neuen Tiefpunkt erreicht. Aus dem nahen Polen erreichen die kommunistische Partei besorgniserregende Bilder: Der erste Besuch des polnischen Papstes Karol Wojtyla in seiner Heimat hat die Geburt von "Solidarnoscz" inspiriert, der ersten unabhängigen Gewerkschaft im Ostblock. Ungläubig sehen die Machthaber in Osteuropa zu, wie Arbeiter der Danziger Werft vor einer Ikone der Schwarzen Madonna von
Tschenstochau knien und den Rosenkranz beten.
Auch in Jugoslawien zeigt sich ein Jahr nach dem Tod von Präsident Tito (der 1943 Jugoslawien als sozialistischen, föderativen Staat neu gründete) der ganze Ernst und die Misere der lange verdrängten, ungelösten nationalen, wirtschaftlichen und politischen Probleme. Die zwischennationalen Beziehungen sind hoffnungslos vergiftet und die Kroaten in der Herzegowina unterliegen einem strengen Sonderregime, das neben wirtschaftlicher Ausbeutung auch die Unterdrückung und Reglementierung ihrer Geschichte, Sprache, Religion und ihres Selbstbewusstseins einschließt. Aber nach wie vor gehört es zum nationalen Gefühl der Kroaten, katholisch zu sein. Nach den Entnationalisierungsversuchen der Osmanen widersetzen sich die Kroaten nun ebenso vehement den Atheisierungsversuchen der Kommunisten. Da schlägt wie eine Bombe eine sensationelle Neuigkeit ein: In Medjugorje soll die Gospa erscheinen und sich als"„Königin des Friedens" vorgestellt haben. Enttäuscht von der eigenen Regierung und der europäischen Völkergemeinschaft richten die Gläubigen ihren Blick und ihre Hoffnungen auf das kleine Dorf in den Bergen der Herzegowina.
Die Madonna und die "störrischen Mönche" 1981, kurz vor Beginn der Marienerscheinungen in Medjugorje, gibt es in der Bischofsstadt Mostar nur eine einzige – von den Franziskanern betreute – Pfarrei mit rund 25 000 Katholiken. Oberhirte von Mostar ist im Jahr zuvor Pavao Zanic aus Split geworden. Und der verschärft den immer noch schwelenden "Fall Herzegowina" radikal. Gleich nach seinem Amtsantritt verkündet Zanic die Gründung einer neuen, weltlichen Dompfarrei. Was für die Franziskaner nichts anderes bedeutet als die zwangsweise Abtretung von drei Vierteln ihrer Kirchen an vatikan- und bischofstreue Weltpriester. Ein Teil der Ordensleute versagt daraufhin der gerade erst neu gewählten und eher auf Ausgleich bedachten Leitung der Franziskanerprovinz in der Herzegowina offen die Gefolgschaft.
Bischof Zanic suspendiert den Pfarrer der Franziskanerpfarrei von Mostar. Neben diesem Pater Leko sind es noch eine Reihe anderer Brüder, die sich den Absichten des Oberhirten massiv widersetzen. Zwei von ihnen, Pater Ivan Prusina und Pater Ivica Vego, tun dies so nachhaltig, dass sie schließlich mit der harten Strafe der Suspension (Verbot des priesterlichen Dienstes) belegt werden.
Was hat das nun mit den Erscheinungen von Medjugorje zu tun? Einiges, wie sich bald herausstellt. Zum einen "konnte
man die meisten dieser Franziskaner später in Medjugorje sehen, das zu einer Begegnungsstätte der Opposition wurde" (6). Zum anderen ergreift die Erscheinung gleich zu Beginn ihres Kommens im Juli 1981 offen Partei für die "störrischen und widerspenstigen Mönche" (Bischof Zanic). Zanic habe "voreilig gehandelt", überbringt die Seherin Vicka Ivankovic dem konsternierten Bischof eine Botschaft der Gottesmutter. Die beiden Franziskaner seien "vollkommen unschuldig" und zu Unrecht gemaßregelt worden.
2. Die Seher
Wer ist diese Vicka Ivankovic? Ein 17-jähriges Mädchen aus dem Dorf Bijakovici, das in Mostar die Textilfachschule besucht. Am Mittwoch, dem 21. Juni 1981, ist in Medjugorje Feiertag – das Hochfest des heiligen Johannes des Täufers. Vicka muss trotzdem nach Mostar fahren, da sie bei der Mathematikprüfung durchgefallen ist und an einem Förderunterricht teilnimmt. Für den späten Nachmittag hat sich Vicka am Fuß des Berges Crnica oberhalb des Dorfes mit ihren Freundinnen Ivanka Ivankovic (15) und Mirjana Dragicevic (16) verabredet. Gegen 17 Uhr erreichen Ivanka und Mirjana den Podbrdo, wie ein dem Berg Crnica vorgelagerter Hügel am Rand des zur Pfarrgemeinde Medjugorje gehörenden Dorfes Bijakovici genannt wird. Die Teenager verbringen die Sommerferien bei ihren Großeltern in Medjugorje – und bringen beide ihre jeweils eigene Geschichte mit: Ivanka kommt aus der Provinzhauptstadt Mostar und leidet unter dem plötzlichen Tod ihrer Mutter zwei Monate zuvor. Mirjana geht in Sarajevo aufs Gymnasium und gilt als
"Pankerica". In der Lesart der biederen Dorfbewohner ist darunter wohl weniger eine echte Punkerin zu verstehen als vielmehr eine typische Großstädterin, die "anders" ist – in Kleidung, Gewohnheiten und Auftreten.
Was zieht die jungen Mädchen zu dieser immer noch schwülen, heißen Stunde auf den unwegsamen Hügel? Sie wollten in Ruhe miteinander plaudern und Kassetten hören, erzählen sie später. Erst bei einer eindringlichen Befragung durch den Bischof von Mostar geben sie an, auf den Podbrdo gestiegen zu sein, um zu rauchen. Um was zu rauchen? Die Antwort auf diese Frage wäre für eine kritische Beurteilung der "Erscheinungen" insofern interessant, da Mirjana aus Sarajevo eine kleine Menge Haschisch mitgebracht haben soll. Leider wird sie nie gestellt.
Kasten: Die medizinischen Untersuchungen an den Sehern von Medjugorje
Sind die Marienerscheinungen von Medjugorje echt oder ein Schwindel? Das ist derzeit nicht zu entscheiden, sondern bleibt letztendlich eine Glaubensfrage. Sagen die Seher von Medjugorje die Wahrheit? Das ist eine Frage, der man sich zumindest annähern kann. Zumal es heute medizinische und psychologische Testverfahren gibt, die zu Zeiten etwa der Erscheinungen von Lourdes oder Fatima noch nicht zur Verfügung standen. Tatsächlich konnten in Medjugorje zum ersten Mal in der langen Tradition von Marienerscheinungen eingehende Untersuchungen an den Sehern vorgenommen werden – neben zirka 30 kleineren (zum Beispiel initiiert von den kommunistischen Behörden gleich zu Beginn der Phänomene) auch einige breit angelegte, mehrtägige Studienreihen. Für Medjugorje-Anhänger sind die Ergebnisse dieser Tests ein starker Beweis für die Echtheit der Geschehnisse, da den Sehern nie eine bewusste Täuschung oder eine psychische Erkrankung nachzuweisen war. Kritiker machen dagegen untaugliche Verfahren, methodische Mängel und eine "eindeutige Überinterpretation" (Zeljko) der Ergebnisse geltend. Die wichtigsten Untersuchungen sind in Wort und Bild dokumentiert:
- René Laurentin/Henri Joyeux: Medizinische Untersuchungen in Medjugorje. Styria-Verlag, Graz/Wien/Köln 1986 (nur noch antiquarisch erhältlich).
- Michael Mayr: Die Seher von Medjugorje auf dem Prüfstand der Wissenschaft. Videodokumentation (Volume I und II) von der FilmGruppeMünchen, München 2003. Zu beziehen über www.filmgruppemuenchen.de oder www.gebetsaktion.at
- Andreas Resch: Die Seher von Medjugorje im Griff der Wissenschaft. Im Eigenverlag (2005), zu beziehen über www.igw-resch-verlag.at.
3. Die erste Erscheinung
Wie auch immer: Beim Abstieg vom Podbrdo dreht Ivanka sich noch einmal um und sieht plötzlich „etwas Glänzendes", eine "lichterfüllte Gestalt" mit noch "verschwommenen Umrissen", die sie jedoch gleich und ohne Bedenken als die heilige Jungfrau identifiziert. Zu Mirjana – oder vielleicht auch nur zu sich selbst – sagt sie: "Schau, die Gospa!" Mirjana folgt nicht eine Sekunde lang dem ausgestreckten Arm ihrer Freundin, sondern hält die Augen weiterhin auf den steinigen
Boden gerichtet und antwortet nur: "Hör auf damit. Was für eine Gospa?" Offenbar nimmt sie Ivanka nicht ernst. Und diese macht keinerlei Anstalten, ihre Freundin zu überzeugen. Die beiden Mädchen gehen nach Hause, als ob nichts passiert wäre. Doch ein unvorhergesehener Umstand lässt die beiden kurz darauf wieder umkehren. Sie begegnen nämlich einer weiteren Freundin, der 13-jährigen Milka (eigentlich Milena) Pavlovic, die die kleine Schafherde ihrer Eltern einholen will. Zu dritt erreichen sie wieder den Podbrdo. Und wieder ist es Ivanka, die als erste die "Gestalt im Licht" an derselben Stelle auf dem Berg erblickt. "Wir gingen weiter und unterhielten uns", erzählt sie rückblickend. "Als wir oben ankamen, sah ich die Gospa, wie sie Jesus in ihren Händen hielt. Dann schauten auch Mirjana und Milka hin und sahen sie." Für die 13-jährige Milka sollte es die einzige Erscheinung bleiben. Inzwischen aber ist Vicka Ivankovic in Bijakovici eingetroffen und macht sich auf, ihre beiden Freundinnen zu treffen: "Ich ging Ivanka und Mirjana suchen, da wir jeden Sommer die ganze Zeit zusammen verbringen. Als ich den Weg erreichte, auf dem sie sich befanden, sah ich, wie sie mir mit ihren Händen winkten und mir zuriefen zu kommen. Ich trug Pantoffeln. Als ich zu ihnen kam, sagte Mirjana: Schau dort, die Gospa! Ich fragte: Was meinst du mit Gospa? Was ist denn los mit euch? Ich sah nicht einmal hin. Ich zog meine Pantoffeln aus und lief barfuß auf dem Schotterweg in Richtung Cilici."
Irgendwann bleibt Vicka stehen und fängt an zu weinen. Sie weiß selbst nicht warum, ob aus Angst, Ärger oder Aufregung. In diesem Moment wird Vicka von zwei vorbeikommenden Jungen aus ihren Gedanken gerissen: von Ivan Dragicevic (16, nicht verwandt mit Mirjana Dragicevic) und dem 20-jährigen Ivan Ivankovic (nicht verwandt mit Vicka Ivankovic). Der jüngere Ivan fragt Vicka, was mit ihr los ist. "Ivan, die Gospa", stammelt Vicka. "Sie sagen, die Muttergottes ist oben erschienen. Lass uns nach oben gehen, ich fürchte mich, alleine hinzugehen."
Eine Lichtgestalt mit Sternenkranz
Was genau sehen schließlich Ivanka Ivankovic, Mirjana Dragicevic, Vicka Ivankovic, Ivan Dragicevic, Ivan Ivankovic und Milka Pavlovic an diesem 24. Juni 1981 gegen 18.45 Uhr am Podbrdo? Vicka will in 200 Metern Entfernung eine "Lichtgestalt" ausgemacht haben: "Ich sah etwas und es war sehr weiß. Ich sah ein Gewand und dunkle Haare. Die ganze Zeit deckte sie etwas, das sie in der linken Hand hielt, auf und wieder zu. Ich konnte aber nicht sehen, was sie sonst noch tat, aber es sah so aus, als ob sie etwas zeigte. Dann rief sie uns, näher zu kommen, aber wer würde es in dieser Situation wagen, näher zu kommen?"
Ivan Dragicevic beschreibt sein Erlebnis wie folgt: "Mirjana, Vicka und Ivanka waren unterwegs, um die Schafe hereinzubringen. Sie riefen ständig von dort oben. Jemand sagte zu uns: Das Licht erscheint gerade dort oben. Das Licht. Wir gingen hinauf zu der Stelle und erlebten genau das, wovon man uns berichtet hatte. Ich sah das Licht."
Halluzinationen? Visionen? Ein verabredeter Schwindel? Halten wir fest: Es ist Ivanka, die zweimal behauptet, sie habe als erste die Gospa gesehen. Ihr Vater ist weit weg, ein Gastarbeiter in Deutschland. Ihre Mutter Jagoda verstarb unerwartet im April 1981 im Krankenhaus von Mostar. Keiner der Familienmitglieder konnte von ihr Abschied nehmen, auch Ivanka nicht.
Ist es zu gewagt anzunehmen, dass an diesem Spätnachmittag des 21. Juni die verlorene Mutterfigur zurückgekehrt ist, und zwar in einer verklärten Form? Am zweiten Erscheinungstag, als die Seher der Gospa erstmals Fragen stellen, ist es wieder Ivanka, die den Anfang macht – und sich zuallererst nach ihrer Mutter erkundigt. Der Verstorbenen gehe es gut,
antwortet die Erscheinung, sie solle sich keine Sorgen machen.
Bei späteren Begegnungen mit der Gospa kann Ivanka ihre Mutter sogar sehen und mit ihr sprechen. Worüber? "Sie hat nur einen Satz gesagt", erklärt Ivanka: "Mein liebes Kind, ich bin sehr stolz auf dich." Das Wunschdenken von Ivanka, das innerliche Festhalten an der Mutter, scheint sich offenbar gelohnt zu haben. Die Erscheinungen vermitteln ihr nicht nur die subjektive Gewissheit, ihre Mutter nicht gänzlich verloren zu haben; durch die dauerhafte Präsenz der Gospa erfährt sie auch eine starke Aufwertung ihres Selbstwertgefühls – als bevorzugte Tochter und Botschafterin der Muttergottes.
Visionen oder eidetische Bilder?
Als auslösende Situation für die Entstehung der ersten Vision bei Ivanka könnte man mithin etwa folgende Konstellation zu Grunde legen, die zu einer Wunschprojektion geführt haben mag: eine konflikthafte, psychodynamische Erlebnis- und Verarbeitungsweise des Mutterverlustes; die Einwirkung des Rauchens potenziert durch narzisstischen Erlebnishunger und verbunden mit Schuldgefühlen, etwas Verbotenes zu tun; eventuell Durst und starkes Schwitzen wegen der Sommerhitze, Atemlosigkeit und Müdigkeit als Folge des Auf- und Abstiegs von dem steilen Berg, das gemeinsame Gruppenerlebnis beim Rauchen und der Glaube an die Muttergottes, möglicherweise unterstützt durch eine eidetische Veranlagung – also die Fähigkeit, innere Vorstellungsbilder aus vorhandenem optischen Erinnerungsmaterial leibhaftig in der Außenwelt zu sehen (7).
Meist überraschen und überwältigen eidetische Bilder den Betreffenden selbst, der sie als Ich-fremd erlebt. Psychologisch betrachtet handelt es sich dabei um subjektive Anschauungsbilder "mit dem Charakter realer Wahrnehmung, ohne dass ihnen reale Sinneseindrücke zugrunde liegen" (8). Sie sind natürlich, nicht krankhaft, brechen aus dem Unterbewusstsein hervor und lassen wegen ihrer Spontanität, Kraft und Ursprünglichkeit den Eindruck eines Eingreifens von außen entstehen. Eidetische Bilder sind weder "normal" noch "anormal" noch "übernatürlich".
"Schau, die Gospa!"
Als sie später gefragt wird, was sie dazu veranlasst habe zu sagen: „"Schau, die Gospa!", antwort Ivanka: "Ich sah ihre Umrisse, dieselben, wie ich sie auf Heiligenbildern gesehen hatte. Das ist alles, was ich darüber sagen kann. Ich kann es nicht besser beschreiben." Anscheinend bildete sich erst in einem Verarbeitungsprozess aus dem "Licht", aus etwas "Glänzendem", einer "lichterfüllten Silhouette" mit "verschwommenen Umrissen" allmählich ein immer klareres Bild der Gottesmutter heraus, inspiriert von Vorstellungs- und Anschauungsbildern von einer Marienstatue in der Dorfkirche und verschiedenen Heiligendarstellungen.
Drei der ersten Seher-Gruppe übernehmen Ivankas Vorlage der "Vision": Mirjana, Vicka und der jüngere Ivan. Sie sind es auch, die zusammen mit Ivanka am nächsten Tag zu selben Zeit wieder die gleiche Stelle auf dem Podbrdo aufsuchen in der Hoffnung, die Erscheinung erneut zu sehen.
Milka Pavlovic ist von ihrer Mutter zur Hausarbeit eingeteilt worden und kann nicht weg. Der ältere Ivan, Ivan Ivankovic, will nicht mitkommen und auch später nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Wieso nicht? Vicka entschuldigt ihn im Nachhinein leichthin folgendermaßen: "Er war älter als wir, warum sollte er Lust haben, mit uns Kindern die ganze Zeit zu verbringen?" Ivan Ivankovic selbst lässt sich zu den damaligen Vorgängen nur seltsam vage ein: Er habe abgelehnt mit der Begründung, die Erscheinung zu suchen sei etwas für Kinder. Die in Medjugorje aufgewachsene Autorin Mirjana Stanislava Vasilj-Zuccarini zitiert Ivan in ihrem persönlichen Erlebnisbericht "Der Ruf der Muttergottes aus Medjugorje" (im Selbstverlag) so: „Seiner Meinung nach war das alles eine kollektive Halluzination oder ein Kinderstreich."
Anstelle von Milka Pavlovic schließt sich ihre 15 Jahre alte Schwester Marija den vier Jugendlichen an, die außerdem den zehnjährigen Jakov Colo aus der Nachbarschaft mitbringt. An diesem 25. Juli 1981 konstituiert sich die Sehergruppe von Medjugorje und die täglichen Erscheinungen beginnen. Alle sechs sehen zunächst ein Licht, das sie sogleich als Muttergottes identifizieren, die laut Ivanka in der Luft schwebt und eine Krone aus Sternen trägt.
Zunächst vergewissern sich die vier Mädchen und zwei Jungen immer wieder gegenseitig, ob alle die Erscheinung sehen – in einer Art Eidetischem Zirkel regen sie selbst den Glauben an die "Visionen" an und verfestigen ihn. Dann ergreift Ivanka die Initiative und spricht die Gospa direkt an, fragt sie nach ihrer verstorbenen Mutter. Vicka verlangt ganz pragmatisch ein Zeichen: "Liebe Gospa, wenn wir nach Hause kommen, werden sie uns nicht glauben. Sie werden sagen, dass wir verrückt sind."
4. Die Instrumentalisierung der "Erscheinungen"
Vickas Befürchtungen erweisen sich schnell als unbegründet. Schon am dritten Erscheinungstag, am 26. Juni 1981, drängen sich mehr als 300 Dorfbewohner auf dem Podbrdo um Ivanka, Mirjana, Vicka, Marija, Ivan und Jakov und wollen die Gospa sehen. Doch für sie gibt es nichts zu sehen – außer den sechs Jugendlichen, die anfangen, sieben "Vater unser", "Gegrüßet seist du Maria2 und "Ehre sei dem Vater" zu beten. Gegen 18.30 Uhr schreien die Seher auf: „Da ist sie!" und sinken auf die Knie. Alle, die auf dem Berg in der Nähe der vier Mädchen und zwei Jungen sind, können die gestellten Fragen hören, nicht aber die Antworten der Erscheinung. Am Sonntag, dem 28. Juni 1981, dem fünften Erscheinungstag, machen sich schon 15 000 Dorfbewohner, Neugierige und Pilger zum Ort der Erscheinungen auf – und zur Muttergottes, die "von oben" die lang ersehnte Hilfe bringen soll.
Der "ungläubige Judas"
Was sagt der Ortspfarrer von Medjugorje zu den angeblichen Marienerscheinungen in seiner Gemeinde? Er bekommt zunächst gar nichts davon mit. Der Franziskanerpater Jozo Zovko weilt in der Nähe von Zagreb bei Exerzitien der Charismatischen Bewegung und trifft erst am 27. Juni wieder in Medjugorje ein. Einen Tag später beschließt er, einzeln mit den Sehern zu sprechen. Alle Gespräche werden auf Tonband aufgenommen.
Zovko beginnt die Befragung recht skeptisch und deckt schnell theologische Widersprüche in den Aussagen der Jugendlichen auf. So erzählt ihm Vicka beispielsweise, dass eine Ärztin aus dem nahen Citluk die Seher angewiesen habe, die Gospa zu fragen, ob sie sie anfassen dürfe. Es entwickelt sich folgender Dialog zwischen Zovko und der Seherin:
Vicka: "Wir haben die Gospa gefragt, und sie antwortete, es gäbe immer ungläubige Judase, die zu ihr kämen."
Zovko: "Judas war nicht ungläubig."
Vicka: "Ungläubig bedeutet Verräter."
Zovko: "Ein Verräter ist nur dann ungläubig, wenn er nicht die Gnade des Glaubens erhalten hat. Thomas war ungläubig. Wie kommst du dazu, Judas zu erwähnen?
Vicka: "Sie hat das gesagt, nicht ich.
Zovko: "Wer?"
Vicka: „Die Gospa.“
Zovko: "Zu wem hat sie das gesagt?"
Vicka: "Zu uns. Mirjana hat ihr die Frage gestellt."
Zovko: "Ich verstehe. Und wer hat es dir gesagt?"
Vicka: "Ich habe es gehört. Wir alle haben es gehört."
Zovko: "Warum sollte es Judas gewesen sein, der den Glauben hatte wie alle anderen Apostel?"
Vicka: "Woher soll ich das wissen? Als die Frau Doktor sie berührte, verschwand die Gospa."
Die Franziskaner übernehmen die Regie
Medjugorje-gläubige Autoren haben später in ihrer Wiedergabe der Botschaften kurzerhand "Thomase" statt "Judase" eingesetzt oder die theologisch fragwürdige Aussage der Gospa abgeändert in: "Zu jeder Zeit hat es Gläubige, Ungläubige und Judase gegeben." Pater Zovko dagegen scheint schon zu diesem frühen Zeitpunkt zu der Überzeugung gekommen zu sein, dass die Erscheinungen der sechs Jugendlichen aus seiner Gemeinde nicht echt sein können. Doch anstatt entsprechende psycho- und pastoralhygienische Maßnahmen zu ergreifen und Ivanka, Mirjana, Vicka, Marija, Ivan und Jakov eine faire Rückzugsmöglichkeit aufzuzeigen, tut er genau das Gegenteil: Er weist die Jugendlichen nachdrücklich an, sich bei der Gospa zu erkundigen, ob sie auch in der St. Jakobs-Kirche von Medjugorje erscheinen könne – und zwar so lange, bis ihm sein Wunsch erfüllt wird.
Vom neunten Erscheinungstag (2. Juli 1981) an verlegen die Seher ihre täglichen Erscheinungen in die Dorfkirche. Damit hat Zovko nun eine gewisse Kontrolle über das Geschehen. "Von jetzt an", schreibt der Medjugorje-Kritiker E. Michael Jones, "würde die Gospa in der Kirche erscheinen und es würde unmöglich werden, ihre angeblichen Behauptungen und Forderungen von der echten Frömmigkeit, von denen sie umgeben waren, zu trennen. Und ebenso würde es dem durchschnittlichen Pilger von jetzt an unmöglich sein, die Aussagen der Seher von dem zu trennen, was die Priester, die über die Sache wachten, die Welt hören lassen wollten" (9).
In dem überfüllten Gotteshaus hält Pater Jozo Zovko nach der abendlichen Erscheinung der Seher eine denkwürdige Predigt, die die Gemeinde vor Enthusiasmus förmlich explodieren lässt: "Und jetzt möchte ich euch bitten, mit dem Fasten zu beginnen. Fastet morgen, fastet übermorgen, nehmt nur Wasser und Brot zu euch, damit sich Gott uns offenbaren möge und uns anzeige, was wir tun sollen. Es gibt keinen Himmel, der so verschlossen ist, dass Gebete, Fasten und Buße nicht ihren Weg dorthin finden. Seid ihr mit mir?"
Die Reaktion der Gläubigen auf Zovkos Ansprache gibt der katholische Priester und Medjugorje-Beobachter Alojzije Svaljek so wieder: "Das Volk blieb noch lange Zeit in der Kiche, weinend und betend. Alle wollten immer weiterbeten, niemand wollte nach Hause (...) Alle haben das Wort gehalten."
Teenager-Spaß oder echte Mystik?
Was treibt Zovko um, einen "Teenager-Spaß" (für den er die "Erscheinungen", ob zu Recht oder zu Unrecht, offenbar hielt) zum authentischen mystischen Phänomen auszustaffieren? Die charismatische Bewegung, der Zovko angehört, will einen neuen Geist in die Kirche bringen – wobei es zu durchaus problematischen gruppendynamischen Prozessen kommen kann. Die Offenheit für das Irrationale und Transzendente (Krankenheilung, Handauflegen, Exorzismen, Prophetie, Zungenreden, Privatoffenbarungen etc.) kennzeichnet viele charismatische Wortführer ebenso wie ihre persönliche Radikalität.
Pater Zovko stand bereits vor Medjugorje im Ruf, in von ihm geleiteten Gebetsgruppen mit einer explosiv-manipulativen Mischung aus charismatischem Gebet und einer fragwürdigen Psychotechnik namens "Sensitivity Training" zu experimentieren, die bei vielen Teilnehmern in eine "Anzahl hochgradiger Ekstasen" (10) mündete. Sieht Zovko jetzt die Chance, mit Hilfe von himmlischen Erscheinungen und Botschaften aus der schwerfälligen Landpfarre Medjugorje eine "erweckte" Mustergemeinde in seinem Sinn zu formen?
Vermutlich sind die Übertragungsprozesse wechselseitig. Zovko erwähnt in den Gesprächen mit den Sehern öfters, sie seien jetzt die bekanntesten Jugendlichen in der Region. Und wirklich sind Ivanka, Mirjana, Vicka, Marija, Ivan und Jakov über Nacht zu Stars geworden und scheinen auch Spaß daran zu haben. Pro-Medjugorje-Autoren verweisen einseitig auf die Belastungen, denen die Seher ausgesetzt waren: Verhöre, Drohungen und Einschüchterungsversuche durch die kommunistische Orts- und Landesregierung auf der einen Seite, zunehmender Erwartungsdruck und große Solidarität der Gläubigen auf der anderen. Auch die einheimische Pilgerleiterin Vikica Dodig kommt bei der die Frage, was sie so sicher macht, dass die Heranwachsenden damals tatsächlich die Gospa sahen, auf die Anfänge im Sommer 1981 zu sprechen: "Die Tatsache, dass die sechs keine andere Macht mehr anerkannten, obwohl sie wussten, dass die Sache sehr gefährlich war. Man bedrohte ja nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern und Geschwister. Aber egal, welche Schwierigkeiten
auf sie zukamen, was immer man ihnen auch anbot, welche Fallen man ihnen stellte – sie blieben dabei. Es war diese tiefe Überzeugung, die mich schließlich faszinierte" (11).
Die Armee rückt an
Aber ist dieser Schluss zwingend? Hätten die Seher angesichts der sich überschlagenden Entwicklung überhaupt noch aussteigen können? Man darf davon ausgehen, dass die sechs Jugendlichen von den Menschenmassen und dem harschen Eingreifen der Behörden zunächst amüsiert, dann verängstigt und schließlich schockiert waren. An einen Rückzug war kaum noch zu denken, zumal es sich bei den Erscheinungen ja nicht um eine reine Erfindung von Ivanka, Mirjana, Vicka, Marija, Ivan und Jakov handelte, sondern um ihre vermutlich recht weitgehende Selbstüberzeugung.
Die hilflos-überzogene Reaktion des Staates, der ein zweites Polen fürchtete und bewaffnete Truppen aus der Hauptstadt Sarajewo gegen die "klerikalen nationalistischen Umtriebe" in Medjugorje aufmarschieren ließ, verstärkte nur noch das Engagement der Priester und Gläubigen und trug wesentlich zur Verbreitung der Erscheinungen bei.
Eine Heiligenkarriere
Das Geltungsbedürfnis der vier Mädchen und zwei Jungen im Pubertätsalter, die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs durch eine Art "Heiligenkarriere" sind bereits hinreichend gute Gründe, trotz aller Bedrängnisse bei ihrer Geschichte zu bleiben. Die Beweggründe der Seher treffen sich mit der marianischen Privattheologie, der Bedürfnisstruktur und den Hoffnungen des Dorfes, von der Gospa auserwählt worden zu sein. Und mit dem Anspruch der Franziskaner, endlich ihre charismatischen Anliegen unter Berufung auf die Muttergottes verbreiten zu können. Als Pater Zovko in Eigenregie – ohne Absprache mit seinen Ordensoberen oder dem zuständigen Bischof von Mostar – sich anschickt, die Seher zumindest teilweise von der Verantwortung für ihre "Visionen" und deren Auswirkungen zu entlasten, gehen die sechs bereitwillig darauf ein.
Der "charismatische Hexer" kommt
Am 17. August 1981 wird Pater Jozo Zovko von der Geheimpolizei SUP verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Anlass ist eine Predigt Zovkos über den Auszug der Israeliten aus Ägypten, die die kommunistischen Herrscher als Angriff auf ihr Machtmonopol interpretieren.
Neuer Gemeindepfarrer in Medjugorje – und damit geistlicher Betreuer der Seher – wird Zovkos Mitbruder Pater Tomislav Vlasic aus dem nahe gelegenen Capljinia. Gläubige Medjugorje-Anhänger sehen darin die Erfüllung einer göttlichen Prophetie. Für Kritiker ist dieser Vorgang ein weiteres Indiz für die Verbindung zwischen den Franziskanern und den angeblichen Marienerscheinungen von Medjugorje. Denn nur sechs Wochen zuvor hatte Vlasic an einer Konferenz der Charismatischen Bewegung in Rom teilgenommen und war dort mit dem ebenso bekannten wie umstrittenen Herz-Jesu-Missionar und "Heiler" Emiliano Tardif zusammengetroffen. Von ihm will Vlasic in Bezug auf seinen priesterlichen Dienst und die Kirche in Jugoslawien eine "Prophezeiung" bekommen haben: "Fürchte dich nicht, ich werde euch meine Mutter senden."
Vlasic erklärt später dazu: "Das war am 6. Mai 1981 gewesen. Und siehe da, am 24. Juni 1981, in der Pfarrei Medjugorje, erschien die Königin des Friedens. Also, für mich ist das damals eine sehr große Ergriffenheit gewesen, daran zu denken, dass der Herr mir diese Prophezeiung gegeben hat … Ich habe keinen Verdienst daran, aber ich bin sehr glücklich, diese Prophezeiung erhalten zu haben. Und wir sehen, dass das Resultat der Erscheinungen der Jungfrau Maria in Jugoslawien sehr bemerkenswert ist."
5. Der Bischof von Mostar
Der Bischof von Mostar, Monsignore Pavao Zanic, sieht das nicht so. "Trickser", "charismatischer Hexer", "Puppenspieler" – das sind die Vokabeln, mit denen Zanic den neuen Medjugorje-Pfarrer Tomislav Vlasic belegt. Starker Tobak für einen Kirchenmann. Und ein Zeichen dafür, dass Zanic die Sache persönlich nimmt. Dafür hat der Oberhirte mehrere Gründe. Beim Firmgottesdienst in der St. Jakobskirche am 25. Juli 1981 nimmt Zanic in seiner Predigt die sechs Seher noch in Schutz ("Ich bin davon überzeugt, die Kinder reden aus offenem Herzen heraus.") und verteidigt sie in der kroatischen Kirchenzeitung GlasKoncila gegen die Anfeindungen der Kommunisten. Als aber die Seherin Vicka Ivankovic ihm gegenüber äußert, die Gospa habe die beiden ungehorsamen und dispensierten Franziskanerpater Ivan Prusina und Ivica Vego in Schutz genommen, wird Zanic misstrauisch.
Das Ausbleiben eines von den Sehern fortwährend angekündigten "großen Zeichens" der Gottesmutter auf dem Erscheinungsberg und Ungereimtheiten bei den Befragungen der sechs Jugendlichen bringen Zanic schließlich zu der Überzeugung, dass die behaupteten Erscheinungen nichts weiter als ein Intrigenspiel der Franziskaner im "Fall Herzegowina" sind.
Tatsächlich ist zu beobachten, dass problematische Äußerungen der Seher (Widersprüche in den Botschaften, Drohungen und absurde Forderungen der Gospa etc.) offenbar zunehmend kanalisiert werden und in eine zwar simple, aber rechtgläubige Theologie übergehen.
Eine Nonne und ihr Kindsvater
Für Bischof Zanic ist es eindeutig nicht Pater Zovko, der in Medjugorje Regie führt, sondern Tomislav Vlasic. Und der Bischof weiß auch genau, warum – wenn er sich auch öffentlich diskret darüber ausschweigt. Pater Vlasic hatte 1976 in Zagreb sein Gelübde gebrochen und mit einer Nonne namens Schwester Rufina ein Kind gezeugt. Eine diesbezügliche Korrespondenz zwischen Vlasic und Rufina liegt Zanic vor. In diesen Briefen führt Vlasic unter anderem aus, dass die "Gospa" von Medjugorje seine Berufung und sein Priesteramt gerettet habe.
Wie ist das zu verstehen? Höchst wahrscheinlich so: Den Ordensbrüdern in Medjugorje ist klar, dass die folgenschwere Affäre des Seelenführers der Seher sich irgendwann als tödlich für Medjugorje erweisen könnte. "Es war also besser", folgert der Medjugorje-Kritiker Michael Jones, "den Fall so zu verdrehen, dass er sich im Ergebnis gegen den Bischof richtete, als die Gefährdung der Erscheinungen hinzunehmen."
Die Strategie der Franziskaner geht auf: Als Bischof Zanic 1984 mit einer Schrift an die Öffentlichkeit geht, deren Titel man mit "Die aktuelle – inoffizielle – Haltung des Bischofs von Mostar zu den Ereignissen in Medjugorje" übersetzen könnte, ist er der "Böse". Die mittlerweile zahlreich gewordenen Promoter der Erscheinungen zeihen Zanic der Verleumdung. Der einflussreiche Theologe und Mariologe René Laurentin etwa kolportiert in seinen vielen Medjugorje-Schriften bis heute, es habe sich bei dem Kindsvater "um einen anderen kroatischen Franziskaner" gehandelt und Vlasic sei lediglich der Obere Prior der Nonne gewesen. Jetzt, als weltbekannte religiöse Persönlichkeit, "konnte Vlasic so ziemlich alles tun, was er wollte", schreibt Jones weiter. Er, der "den Glauben von Millionen daran hatte, dass die Gospa auf seiner Seite steht" (12).
6. Die Untersuchungskommission
Schon Anfang 1982 hatte Zanic eine vierköpfige Untersuchungskommissionin Sachen Medjugorje eingesetzt, die zwei Jahre später auf Anraten der jugoslawischen Bischofskonferenz auf 15 Mitglieder erweitert wird. Zanic gehört dem Gremium selbst an. Bei einer Zusammenkunft am 2. Mai 1986 beschließt die Kommission, ihre Arbeit zu beenden. Das Ergebnis der vierjährigen Recherchen erblickt jedoch nie das Licht der Öffentlichkeit.
Die BBC-Journalistin Mary Craig bringt in Erfahrung, dass zwölf der 15 Kommissionsmitglieder davon ausgingen, in Medjugorje gebe es nichts Übernatürliches. Nur zwei waren der Auffassung, dass die Gospa tatsächlich erscheine. Ein Mitglied habe bei der geheimen Schlussabstimmung einen leeren Zettel abgegeben (13).
Ein Triumph für Bischof Zanic? Mitnichten. Gegen alle Gepflogenheiten gibt sich die vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre mit dem Gutachten über Medjugorje nicht zufrieden und ordnet 1987 die Einsetzung einer neuen, nunmehr überregionalen Untersuchungskommission an. Die in der Kirchengeschichte bislang beispiellose Begründung: Im Unterschied zu Lourdes, Fatima und allen anderen Marienerscheinungen habe die Botschaft von Medjugorje in der ganzen
Welt sehr schnell einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Durch die modernen Massenmedien sei Medjugorje praktisch von Beginn an "internationalisiert" worden. Und wegen dieser weltumspannenden Bedeutung des Phänomens sei zwar de jure (rechtlich) der Ortsbischof von Mostar zuständig – de facto aber die Weltkirche und somit der Vatikan direkt betroffen.
Der Geheimplan des Papstes
Ist tatsächlich davon auszugehen, dass ein intellektuelles Schwergewicht wie der damalige Vorsitzende der Glaubenskongregation, Kardinal Josef Ratzinger, auch nur einen Augenblick lang an die Echtheit der Erscheinungen von Medjugorje glaubte? Nicht im Mindesten. Die feinsinnige Formulierung von der "Internationalisierung" Medjugorjes
bezieht sich auf etwas ganz anderes.
Während die jugoslawischen Staatsorgane ab Mitte der 1980er-Jahre den kommerziellen Aspekt des Pilgertourismus nach Medjugorje entdeckten und sich beträchtlich gemäßigter verhielten, folgte Rom einem geheimen Fahrplan, der kein Interesse an der Wahrheitsfindung hatte. Die kritischen Berichte von Bischof Zanic und den ersten beiden Untersuchungskommissionen lagen zur selben Zeit auf dem Schreibtisch des Papstes, als der innige Marienverehrer Johannes Paul II. mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan über verschiedene Möglichkeiten nachdachte, den Druck auf die kommunistischen Regime in Osteuropa zu erhöhen.
Gewiss stand Medjugorje nicht im Zentrum des "Destabilisierungs-Szenarios", wie es etwa auf Polen und die Gewerkschaft Solidarität zutraf. Aber anscheinend zögerte der Vatikan die offizielle Ablehnung der Marienerscheinungen aus politischen Erwägungen hinaus, damit Medjugorje als Bestandteil des kroatischen Nationalismus wachsen und sich ausweiten konnte. Möglicherweise schwebte dem polnischen Papst und seinen Beratern ein unabhängiges Kroatien als antikommunistisches Bollwerk gegen den Osten vor.
Der Bürgerkrieg beginnt
Fatal: Bischof Zanics Warnungen vor einem auch religiös motivierten Krieg zwischen Kroaten, orthodoxen Serben und Moslems bleiben im Vatikan und andernorts ebenfalls ungehört. Am 27. Juni 1991, zwei Tage nach dem Ausscheiden der beiden nördlichen Regionen Slowenien und Kroatien aus dem jugoslawischen Staatenbund, kommt es an der Grenze zwischen Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina zu anhaltenden schweren Kämpfen. Die Friedensbotschaft der Gospa von Medjugorje wird damit endgültig von der Realität ad absurdum geführt.
7. Die Botschaften
"Friede, Friede und nur Friede!" hatte die Gospa am zweiten Erscheinungstag im Jahr 1981 verkündet. Und nun? Die Seher und ihre franziskanischen Betreuer reagieren einigermaßen ratlos auf den Kriegsausbruch.
Pater Slavko Barbaric, Beichtvater und Vertrauter der sechs, erklärt bei einem Vortrag in London: "Die Gottesmutter hat zu uns zehn Jahre gesprochen und wir haben sie nicht verstanden … Sie hat uns zum Fasten eingeladen und wir haben jetzt Hunger. Sie hat uns zum Frieden aufgerufen und wir haben jetzt Krieg." Ivanka, Mirjana, Vicka, Marija, Ivan und Jakov sind während des Krieges überwiegend in Medjugorje (das im Gegensatz zum nahe gelegenen Mostar von allen Kampfhandlungen verschont bleibt), zum Teil unternehmen sie Vortragsreisen ins Ausland oder leben bei Freunden in Italien. Die Erscheinungen sind zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr orts-, sondern "personengebunden" und gehen dort weiter, wo die Seher sich gerade aufhalten. Auf die Frage, wie sie persönlich den Krieg im auseinanderbrechenden Jugoslawien mit der Friedensbotschaft der Gospa in Einklang bringt, antwortet Vicka Ivankovic: "Die Gottesmutter hat uns alle eingeladen: Betet für den Frieden. Zehn Jahre hindurch hat sie immer wieder wiederholt, tausendmal gesagt: Betet für den Frieden, betet für den Frieden in euren Herzen, betet für den Frieden in euren Familien und in der ganzen Welt, denn ihr braucht heute den Frieden. Aber wir waren so ablehnend dieser Botschaft gegenüber, bis der Krieg näher gerückt ist."
30 000 Botschaften in 25 Jahren
Von ähnlich berückender Schlichtheit sind sämtliche der mehr als 30 000 Botschaften, die die Gospa seit Juni 1981 den Sehern gegeben hat. Wie kommt diese Zahl zustande? Marija Pavlovic, Vicka Ivankovic und Ivan Dragicevic wollen noch immer tägliche Erscheinungen der Gottesmutter haben, manchmal gemeinsam, in aller Regel aber getrennt voneinander, an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort.
Mirjana Dragicevic war die erste, die die Sehergruppe verließ, und zwar Ende 1982. Am Weihnachtstag habe die Gospa ihr mitgeteilt, dass dies ihre letzte tägliche Erscheinung sei und dass Mirjana von nun an einmal jährlich eine Erscheinung haben werde, und zwar an jedem 18. März (Mirjanas Geburtstag)bis zu ihrem Lebensende. Einige Jahre später revidierte die Gospa diese Regelung und kündigte der Seherin außerordentliche Erscheinungen an, die zunächst unregelmäßig waren und seit 1987 an jedem Zweiten eines Monats stattfinden.
Ähnliches gilt für Ivanka Ivankovic, deren tägliche Erscheinungen am 7. Mai 1985 endeten und die nun ebenfalls einmal im Jahr die Gospa trifft (am 25. Juni), und für Jakov Colo (Ende der täglichen Erscheinungen am 12. September 1998, seitdem eine jährliche Erscheinung am 25. Dezember).
Diese Jahresbotschaften von Ivanka, Mirjana und Jakov werden veröffentlicht. Von den täglichen Botschaften an Marija, Vicka und Ivan ist nur die so genannte Monatsbotschaft für die Gläubigen bestimmt, die seit dem 1. Januar 1987 an jedem 25. eines Monats über Marija Pavlovic an die ganze Welt ergeht. Alle übrigen Weisungen der Gospa seien privater Natur und beträfen in erster Linie die persönliche spirituelle Weiterentwicklung der Seher.
"Meine lieben Kinder …"
Die Monatsbotschaft zum Beispiel vom 25. Oktober 2006 lautete: "Liebe Kinder! Heute hat mir der Herr erlaubt, euch erneut zu sagen, dass ihr in einer Zeit der Gnade lebt. Ihr seid euch nicht bewusst, meine lieben Kinder, dass euch Gott eine große Chance gibt, euch zu bekehren und in Frieden und Liebe zu leben. Ihr seid so blind und an irdische Dinge
gebunden und denkt nur an das irdische Leben. Gott hat mich gesandt, um euch zum ewigen Leben zu führen. Meine lieben Kinder, ich bin nicht ermüdet, obwohl ich sehe, dass eure Herzen träge und müde sind für alles, was Gnade und Gabe ist. Danke, dass ihr meinem Ruf gefolgt seid!" (Botschaften-Archiv, www.gebetsaktion.at)
Seit einem Vierteljahrhundert kommt die Gottesmutter vom Himmel herab, nur um die Menschen zu individueller Frömmigkeit zu mahnen, zu Bekehrung, Gebet, Fasten, Bibellektüre, zu den Sakramenten und zur Heiligkeit? Für Gläubige ist das nachvollziehbar ("Nichts Neues, aber Erneuerung!") – für Skeptiker nicht unbedingt.
Phrasen und Gemeinplätze
Der Theologe Johannes Rothkranz etwa erkennt in den Botschaften von Medjugorje bloß "Gemeinplätze, Versatzstücke, Phrasen": "Liest man mehrere Monatsbotschaften nacheinander, so kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass den Redakteuren dieser Texte eine gewisse Anzahl vorgefertigter Satzmuster zur Verfügung steht, die – leicht verändert – immer wieder miteinander kombiniert werden" (14). Aber wer sind die "Redakteure dieser Texte"? Darüber gehen auch die Einschätzungen der Kritiker auseinander.
In den Anfangstagen der Erscheinungen will ein Fotograf aus Deutschland Marija Pavlovic dabei ertappt haben, wie sie die gerade empfangene Botschaft der Gospa auf einem Zettel niederschrieb, in ihrer Jackentasche verschwinden ließ und dann ein anderes Stück Papier daraus hervorzog, das sie den Umstehenden als Botschaft aushändigte (15).
Andere Beobachter gehen davon aus, dass die Seher ihre Fragen an die Gottesmutter meist im Vorhinein aufschreiben oder auswendig lernen – und in der Zeit bis zur Erscheinung "unbewusst auch die Antworten entstehen", welche die Gospa dann nur noch zu bestätigen braucht.
Fakt ist, dass Marija Pavlovic die Monatsbotschaft auf Kroatisch niederschreibt und sie mehreren franziskanischen Übersetzern übergibt, die sich miteinander austauschen und den gemeinsamen Text in verschiedenen Sprachen via Internet über den Globus versenden. Fraglos eine Praktik, die es den Betreuern möglich macht, mangelhaftes theologisches Wissen der Seher auszugleichen und die Botschaften glatt zu bügeln. Über die banalen Frohbotschaften hinaus wollen die sechs Seher auch Drohbotschaften von der Gospa erhalten haben, und zwar in Form von jeweils zehn "Geheimnissen", welche die Zukunft der Menschheit betreffen, unter anderem das schon erwähnte und bis heute nicht offenbar gewordene "große Zeichen" sowie den Ablauf der Apokalypse zum Inhalt haben und die erst kurz vor dem Eintreffen der jeweiligen markanten Ereignisse und Katastrophen öffentlich bekannt gemacht werden sollen – was erklärtermaßen noch zu Lebzeiten der Seher geschehe.
8. Medjugorje 2006
Letzteres bedeutet indes: Sollte bis zum Ableben von Ivanka, Mirjana, Vicka, Marija, Ivan und Jakov sich keines der "Geheimnisse" realisiert haben, stirbt mit ihnen auch Medjugorje – anders als Erscheinungsorte wie Lourdes oder Fatima, die auch ohne leibhaftig präsente Seher boomen. Oder? Eine ebenso unvorsichtige Behauptung der Seher – nämlich dass die Erscheinungen von Medjugorje die letzten Marienerscheinungen auf Erden seien – versuchen ihre franziskanischen Betreuer als "persönliche Interpretation" herunterzuspielen. Das sei "nicht richtig", erklärte in Medjugorje der Franziskaner-Provinzial Pater Tomislav Pervan auch dem Autor dieses Beitrags auf Nachfrage.
Anscheinend ist den Beteiligten mittlerweile klar, dass die Seher damit "das Eigentor von Medjugorje" schlechthin geschossen haben, wie die Theologin Monika Hauf es formuliert. Denn: "Die Kirche muss theoretisch nunmehr vor der Anerkennung von Medjugorje eine ganze Zeit lang warten, ob die Jungfrau sich nicht nochmals und auf glaubwürdige Weise manifestiert. Wenn sie das nämlich tut, wäre die Botschaft von Medjugorje nicht echt. Die andere Alternative wäre, dass die Kirche tatsächlich nach Medjugorje keine andere Erscheinung mehr anerkennt" (16).
Wer glaubt eigentlich was?
Das Thema bleibt also spannend, für Gläubige wie für Skeptiker. Und kontrovers sowieso. Zu jedem Argument "contra" Medjugorje gibt es ein "Pro" – und umgekehrt, je nach persönlichem Standpunkt. Und allzu hartnäckige Zweifler werden kurz und bündig mit dem Bibelwort von den "guten Früchten" (Mt 7, 16) bedient, an denen man zu allen Zeiten die Wahrheit habe erkennen können.
Der hier vorliegende Text folgt der Argumentation der Ablehner, namentlich den (an einer Hand abzuzählenden) Medjugorje-kritischen Publikationen
- Johannes Rothkranz: Die Lügen von Medjugorje. Verlag Pro Fide Catholica, Durach 1991 (14,15);
- Rudo Franken: Eine Reise nach Medjugorje. Bedenken hinsichtlich der Erscheinungen. Van Spijk Venlo, Antwerpen 2000;
- E. Michael Jones: Der Medjugorje-Betrug, Verax-Verlag, Müstair 2001 (5,6,9,10,12);
- Kevin Orlin Johnson: Zwanzig Fragen zu Medjugorje – Was Rom wirklich gesagt hat. Verax-Verlag, Müstair 2001;
- Thomas Lintner: Der Stellenwert von Privatoffenbarungen am Beispiel der "Gospa" von Medjugorje. Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2003;
- Ivan Zeljko: Marienerscheinungen – Schein und Sein aus theologischer und psychologischer Sicht. Dargestellt am Beispiel der Privatoffenbarungen in Medjugorje. Kovac-Verlag, Hamburg 2004 (2,7,8,17);
- Monika Hauf: Marienerscheinungen. Hintergründe eines Phänomens. Patmos-Verlag, Düsseldorf 2006 (16)
sowie den Veröffentlichungen des im Jahr 2000 gestorbenen Bischofs von Mostar, Pavao Zanic, und seines Nachfolgers Ratko Peric und basiert außerdem auf Vor-Ort-Recherchen und Interviews des Autors – der sich vollumfänglich der Tatsache bewusst ist, dass auch die meisten Medjugorje-Kritiker ihre jeweils ganz eigenen und nicht immer leicht durchschaubaren Motive haben. Und zwar gerade dann, wenn sie – wie Rothkranz, Johnson, Franken, Jones und Lintner – die Erscheinungen von einem (anderen, quasi konkurrierenden) religiösen Standpunkt aus betrachten. So verwerfen beispielsweise katholische Traditionalisten die Erscheinungen von Medjugorje, weil die Gottesmutter sich in ihren Botschaften nicht gegen die Handkommunion ausspricht und überhaupt die Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils gutzuheißen scheint. Wohl auch für diese Ablehner dürfte das Medjugorje-Fazit des kroatischen Psychologen Ivan Zeljko gelten: "Nachdem sich die Psycho- und Soziodynamik der Ereignisse in Medjugorje weitgehend verselbständigt hat, ist heute nicht leicht zu ermitteln, woran die Seher und die beteiligten Geistlichen wirklich glauben oder nicht glauben" (17). Und: "Was die Wahrheit von Medjugorje ist, wird sich wahrscheinlich nie vor aller Augen zeigen."
Die Erscheinungen gehen weiter
Die Erscheinungen gehen also weiter. Die Seher sind erwachsen, leben überwiegend in Medjugorje, wo sie Pilger-Pensionen betreiben, sind verheiratet, haben Kinder und gelten als gut situiert. Zum 25. Jahrestag im Sommer 2006 vermeldete der katholische Nachrichtendienst „Kath.Net.“, dass eine neue Untersuchungskommission in Sachen Medjugorje eingesetzt werden soll. Das habe der Vorsitzende der Bischofskonferenz von Bosnien-Herzegowina, Kardinal Vinko Puljic, bekannt gegeben. Die Initiative dazu komme direkt aus dem Vatikan, der "offensichtlich nicht länger die Augen vor dem, was in Medjugorje geschieht, verschließen kann."
Bernd Harder
Anmerkungen:
Zu 1: Albrecht von Raab-Straube: Kriterien der Unterscheidung. In: Visionen und die Frage ihrer Echtheit von Gregor auling (Hrsg.), Oros-Verlag, Altenberge 2001.
Zu 3: Maria Anna Zumholz: Volksfrömmigkeit und katholisches Milieu: Marienerscheinungen in Heede. Verlag und Druckerei Runge, Cloppenburg 2004.
Zu 4: Mary Craig: Das Geheimnis um die Madonna von Medjugorje. Styria-Verlag, Graz/Wien/Köln 1989.
Zu 11: Bernd Harder: Medjugorje – Wallfahrt für Millionen. Pattloch-Verlag, München 2005.