Alles Karma
André Sebastiani
Anthroposophie:
Eine kurze Kritik
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2019,
ISBN 978-3-86569-122-4, € 10,–
Dass Themen wie Homöopathie und ihre auf magischen Vorstellungen beruhenden Grundlagen mittlerweile auch in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert werden, ist sicher zu einem guten Teil der Skeptikerbewegung zu verdanken. Auf Unverständnis trifft hingegen immer noch die Kritik an der Anthroposophie und den Waldorfschulen, die nach anthroposophischen Prinzipien arbeiten. Dass auch dahinter eine esoterische Weltsicht steckt, ist vielen Menschen nicht bewusst. Eltern von Waldorfschülern weisen den Vorwurf des esoterischen Denkens meist weit von sich. Die Präsenz der Anthroposophie in vielen gesellschaftlichen Schichten und ihre teils fragwürdigen Grundlagen waren für den Bremer Lehrer André Sebastiani Grund genug, das Thema in einem eigenen Buch aufzugreifen.
Zunächst erklärt Sebastiani, was die Anthroposophie eigentlich ist (S. 13), nämlich keine Wissenschaft, sondern eine esoterische Lehre, die sich nur durch „Schauung“ angeblicher geistiger Ebenen erschließt und sich als überlegene Weltsicht geriert. Damit fehlt auch der Waldorfpädagogik die wissenschaftliche Fundierung. Begründet wurde die Anthroposophie Anfang des letzten Jahrhunderts von Rudolf Steiner, einem Philosophen mit abgebrochenem naturwissenschaftlichem Studium und Esoteriker,
der nach Hinwendung zur Theosophie eine eigene Weltanschauung kreierte. Dies wurde in anderen Büchern und auch in dieser Zeitschrift bereits hinreichend geschildert. Sebastiani bemüht sich im vorliegenden Band um eine neutrale Betrachtung und einen aktuellen Überblick, wie die Weltanschauung heute in der Gesellschaft verankert ist.
Planetarisches Karma
Man kommt nicht umhin, sich über die anhaltende Popularität der Person Rudolf Steiners zu wundern, wenn man liest, welche haarsträubenden Thesen er formulierte. So entwickelte Steiner eine Planetentheorie, wonach alle Dinge im Kosmos, also auch alle Planeten, Inkarnationen durchlaufen. Da nach Steiners Weltsicht alles mit allem verbunden sein soll, erfahren Menschen im Kleinen, was Planeten im Großen tun, nämlich Wiederverkörperungen auf Grundlage früherer Existenzen. Der Mensch selbst muss im Laufe seiner Inkarnationen sieben „Wesensglieder“ durchlaufen, von denen das höchste selbstredend der „Geistesmensch“ ist. Zu jedem dieser Wesensglieder gibt es eine analoge Weltentwicklungsstufe.
Weniger bekannt ist wohl Steiners Dreigliederung des „sozialen Organismus“ (S. 49). Laut Steiner sind Gesellschaften gegliedert wie Körper. Er sah hier drei Sphären, die den seelischen Grundfunktionen Denken, Fühlen und Wollen entsprechen sollten, wie stets wieder gepaart mit Wesensgliedern. Dem Fühlen (nach Steiner auch Seelenleben des Menschen) ordnete er das Wirtschaftsleben zu. Das öffentliche Recht und die Politik entsprechen dem Wollen (und dem vergänglichen physischen Leib) und das geistige Leben entspricht dem Denken (dessen Ich-Wesenheit mit seinen Errungenschaften in die nächste Reinkarnation mitgenommen würde).
Bereits diese Gliederung sieht Sebastiani kritisch: Zum einen würden hier die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit auf politische Positionen übertragen. Eigene Standpunkte würden als gesund angesehen, andere Positionen mit Krebs und Geschwüren assoziiert. Dies sei ein Konzept, „das sich in den Praxisfeldern der Anthroposophie wiederfindet, aber mit Blick auf die Regelung von Konflikten äußerst problematisch ist, denn es steht der Meinungsvielfalt und offener Meinungsäußerung
entgegen“ (S. 51). Überdies wohne der Vorstellung eines Staatsorganismus ein stark autoritäres Element inne, wonach sich jedes einzelne Teil dem großen Ganzen
unterordnen müsse.
Die detaillierte Struktur ist eine der Stärken von Sebastianis Buch.Er stellt jedem Kapitel eine gängige, von Verfechtern der Anthroposophie vorgetragene Behauptung voran, etwa „Die Methoden der Waldorfschulen sind an Erkenntnisse zur Kindesentwicklung angelehnt, die wissenschaftlich begründbar sind“. Anschließend beschreibt er genau, wie sich die Situation innerhalb der anthroposophischen Gruppen darstellt, und untersucht, wie weit derartige Methoden von wissenschaftlichen Erkenntnissen
gestützt werden, oder – fast immer – wie sehr sie diesen widersprechen.
Religion und Rassen
Gängig ist beispielsweise die Behauptung, die Anthroposophie sei keine religiöse Weltanschauung und in ihrer heutigen Form mit ihren Praxisfeldern nicht religiös geprägt (S.53). Das ist, wie der Autor anschaulich zeigt, schlicht nicht haltbar. In der Anthroposophie wimmelt es von Geistern und Dämonen, es gibt eine eigene „Christologie“, 1922 wurde sogar eine anthroposophische Christengemeinschaft gegründet, mit einer recht eigenwilligen Auslegung der Christusfigur. Innerhalb dieser nach Steiner’schen Prinzipien wirkenden Christengemeinschaft werden laut Sebastiani sogar Sakramente gespendet.
Demnach trägt die Anthroposophie alle Merkmale einer Religion: „Es gibt mit Rudolf Steiner einen Religionsstifter, der als Religionsverkünder seine geheime metaphysische Lehre seinen Anhängern mitgeteilt hat. Darin beschreibt er allerlei Übersinnliches in für Außenstehende abstrusen und teilweise verstörenden Details.“ In dieser Lehre bekämpfen gute göttliche Kräfte böse „luziferische“ Kräfte, eingebettet in eine Erzählung zur Entstehung und Entwicklung der Menschheit und Antworten auf Sinnfragen. „Es ist somit gerechtfertigt, die Anthroposophie als religiöse Weltanschauung zu bezeichnen“ (S. 56).
Auch der bis in die letzten Jahre hinein erhobene Vorwurf rassistischer Thesen in der anthroposophischen Lehre sowie der Nähe zu Verschwörungstheorien wird ausführlich untersucht, wobei Sebastiani die Entwicklung und die Einstellung der Anthroposophen zu Steiners selbstentworfener Rassenlehre ab den 2000er-Jahren auf einem aktuellen Stand schildert. Zwar gab es viele distanzierende Äußerungen von den Anhängern Steiners zu dessen wirrer, wissenschaftsferner Rassenlehre. Sebastiani kritisiert jedoch, dass dies ausschließlich reaktiv und relativierend geschehen sei. Gegenüber Steiners ebenfalls formulierten Verschwörungsideologien sei Selbstkritik noch weniger ausgeprägt. Es fehle an kritischem Bewusstsein gegenüber derartigen Thesen, die einen zentralen Bestandteil der anthroposophischen Weltanschauung darstellten, von dem man sich noch nicht gelöst habe.
Angesichts von Steiners überwiegend krudem Weltbild betonen viele Anhänger der Waldorfschulen, dass die Anthroposophie dort gar nicht gelehrt werde, schließlich sei sie kein Unterrichtsfach (S. 88). Ein Blick in die Struktur dieser Schulen zeigt, dass dies nicht ganz so einfach ist. Zwar werde Anthroposophie an Waldorfschulen nicht unterrichtet, „Unterricht an Waldorfschulen ist (angewandte) Anthroposophie“. Steiners unwissenschaftliche Temperamentenlehre bestimme die Sitzordnung, Lern inhalte seien abgestimmt auf die Jahrsiebtelehre, nach der sich die Entwicklungsschritte des Individuums im Abstand von sieben Jahren vollziehen, usw. Die anthroposophischen Konzepte sind also zentraler Bestandteil im Unterricht und des dort vermittelten Menschenbildes.
Dann wundert es auch nicht mehr, dass es an Waldorfschulen in den letzten Jahren gehäuft zu Masernepidemien gekommen ist, da die anthroposophische Medizin das Impfen eher kritisch betrachtet und Anthroposophen im Durchleiden von Krankheiten einen Sinn sehen. Dies ist umso relevanter, als die Waldorfschulen das wohl erfolgreichste aus der Anthroposophie stammende Konzept sind, getragen von einer weiten Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Schulen genießen einen guten Ruf als Horte von Reformpädagogik und geringerem Leistungsdruck für Schüler. Zwar gibt es auch hier offenbar Unterschiede zwischen den einzelnen Einrichtungen.
Kernelement,so Sebastiani, sei jedoch die bereits erwähnte Dreigliederung eines von Steiner definierten „sozialen Organismus´“. Auch seien die Waldorfschulen in freier Trägerschaft organisiert und unterlägen damit nur in eingeschränkter Form staatlicher Kontrolle. Aber, so der an einer staatlichen Grundschule unterrichtende Lehrer Sebastiani, die angeblich freien Waldorfschulen seien gar nicht so frei, da über jede Neugründung der „Bund der Freien Waldorfschulen“ wache und sicherstelle, dass die Schule gemäß anthroposophischer Weltanschauung gestaltet werde. Auch könne die Ausbildung der Waldorflehrer sehr unterschiedlich sein. Im Bundesland Rheinland-
Pfalz hatten im Jahre 2012 nur die Hälfte von ihnen ein Staatsexamen oder einen vergleichbaren Abschluss. „Ob eine Lehrkraft eine vergleichbare Ausbildung mit Lehrkräften an staatlichen Schulen hat oder nicht, ist also ein Glücksspiel und auf keinen Fall garantiert“.
Krankheit durch Karma
Dann gibt es natürlich auch noch die anthroposophische Medizin, in Deutschland enorm populär und durch den Binnenkonsens innerhalb des staatlichen Gesundheitssystems von einem Wirkungsnachweis für ihre Anwendungen befreit. Ausführlich schildert der Autor, welche absurden Vorstellungen von Krankheitsentstehung der „Lehre“ zugrunde liegen. Als Ursache wird unter anderem schlechtes Karma durch aufgeladene Schuld aus früheren Leben angeführt. Wissenschaftliche Grundlagen finden sich keine, für Sebastiani „ein Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung in ein durch okkultes magisches Denken geprägtes Krankheits- und Therapieverständnis“ (S. 139).
Wer so etwas ohnehin nie geglaubt hat, zollt den Anthroposophen vielleicht zumindest Anerkennung für ihr Bemühen um den Öko-Landbau durch ihre biologisch-dynamische Landwirtschaft. Doch auch hier wird tief in die Esoterikkiste gegriffen, wie der Autor zeigt. Demnach sind Acker, Pflanzen und Tiere einer Wechselbeziehung unterworfen, genau wie die bereits erwähnten Planeten oder die menschlichen Organe. Sebastiani berichtet vom Einsatz von Kuhhörnern, die, mit Kuhmist gefüllt, im Herbst ein- und im Frühjahr wieder ausgegraben werden. Der Kuhmist wird mit Wasser verrührt – um kosmische Kräfte zu übertragen. Mit sinnvollem Landbau hat das nichts zu tun.
Kurzum: Die Anthroposophie ist eine bedenkliche esoterische Heilslehre. Umso bedenklicher ist ihre tiefe Verankerung in zahlreichen Institutionen nicht nur in Deutschland. Ob Lobbygruppen wie die in Brüssel aktive „Europäische Allianz von Initiativen Angewandter Anthroposophie (ELIANT)“ jedoch so starken Einfluss auf die Politik ausüben, wie Sebastiani vermutet, sei dahingestellt.
Immerhin zeigt sein Buch auf aktuellem Stand der wissenschaftlich-kritischen Forschung, dass auch im 21. Jahrhundert noch viele Zeitgenossen von einer magisch-esoterischen Weltanschauung fasziniert sind, die ein bedenkliches Menschenbild propagiert, ein gefährliches, da völlig absurdes Bild von der Entstehung und Behandlung von Krankheiten zeichnet, eine Pädagogik anwendet, die vieles, nur keine Reformpädagogik ist, und eine Landwirtschaft praktiziert, die zumindest dem klassischen Öko-Landbau nicht überlegen ist.
Deswegen ist der Band eine wichtige Argumentationshilfe gegenüber Menschen, die glauben, in der Anthroposophie Erkenntnisse zu finden, oder die Waldorfschulen
für eine sinnvolle Alternative zum staatlichen Schulsystem halten. Spätestens nach der Lektüre von André Sebastianis Buch weiß man: Das stimmt nicht.
Holger von Rybinski