Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten und Buchautor Mark Lynas
Der britische Wissenschaftsjournalist und GWUP-Fellow Mark Lynas ist Mitunterzeichner des 2015 veröffentlichten „Ökomodernen Manifests“, das für eine Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis und Technologie im Dienste von Naturschutz und Eindämmung des Klimawandels eintritt. In seinem aktuellen Buch „Sechs Grad mehr“ beschreibt er, in welchem Maße eine Erhöhung der Durchschnittstemperatur das Leben auf der Erde verändern würde. Der Band ist die aktualisierte Fassung der bereits 2007 in englischer Sprache erschienenen Ausgabe und liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Amardeo Sarma sprach mit Lynas über die aktuelle Situation.
Was war Ihre Motivation, Ihr Buch „Six Degrees“ zu überarbeiten?
Ich wurde häufig gefragt, ob ich nach Erscheinen der ersten Ausgabe 2007 meine Meinung geändert habe, ob ich optimistischer oder pessimistischer geworden bin. Bei der Beantwortung dieser Fragen und um zu verstehen, was sich in der Debatte um den Klimawandel verändert hat, wollte ich bei der Überarbeitung des Buches ähnlich vorgehen wie der Weltklimarat IPCC. Eine bedeutende Rolle in der Debatte spielen die sog. repräsentativen Konzentrationspfade (represenative concentration pathways, RPC), die die Entwicklung des Klimas bei verschiedenen CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre beschreiben1. Während einige Beobachter vom maximal dramatischen Szenario (RPC 8.5) ausgehen, legen andere eher gemäßigte Pfade wie RPC 4.5 zugrunde und plädieren für ein Weitermachen wie bisher.
Sind Sie so pessimistisch, ebenfalls vom RPC 8.5 auszugehen oder setzen Sie auf das Prinzip Hoffnung?
Mir ist egal, welcher RCP für ein Weitermachen wie bisher steht. Ich interessiere mich für Temperaturen und schaue mir an, welche Auswirkungen damit verbunden sind. Hierbei
ist RCP 8.5 hilfreich, da dieser Wert eine gute Vorstellung von moderaten bis starken Auswirkungen vermittelt.
Ich glaube nicht, dass es keinen Ausweg gibt. Da draußen herrscht viel Ökopessimismus, doch dies reflektiert eher den psychischen Zustand und die politischen Präferenzen der Akteure.Weder teile ich diese Überzeugung, noch wird sie von den Daten gestützt. Betrachtet man den derzeitigen Verlauf, befinden wir uns nicht im Szenario von RCP 8.5. Dazu müssten wir sehr viel Kohle verbrennen. Wir steigen aus der Kohleverbrennung aus und sind in Großbritannien auf einem guten Weg. Die Frage ist, ob wir das Ziel einer Begrenzung des Temperaturanstiegs um 1,5 oder 2,0 Grad einhalten können.
In Ihrem Buch schließen Sie nicht aus, dass der Treibhauseffekt außer Kontrolle geraten kann und sich nicht mehr aufhalten lässt. Ist das, was auf der Venus geschehen ist, ein realistisches Szenario für die Erde?
Ich wollte mir das absolut schlimmste Szenario anschauen. Oft ist zu hören, dass der Planet überleben und es immer Leben auf der Erde geben werde, selbst wenn der Mensch ausstürbe, und dass die Erde sich wieder erholen werde. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das nicht stimmt. Meine Einschätzung ist, dass wir bei genügend hohem CO2-Ausstoß einen ungebremsten bzw. unkontrollierbaren Treibhauseffekt in Gang setzen würden, wie wir ihn aus der Frühzeit der Venus kennen.
Computermodelle zeigen, wie stark wir den Erwärmungsprozess durch Kohlenstoffverbrennung vorantreiben müssten, um einen sogenannten „feuchten Treibhauseffekt“ zu erreichen. Dann hätten wir eine stetig steigende Konzentration von Wasserdampf in der Atmosphäre. Die Zirkulation in der Atmosphäre käme zum Erliegen, Troposphäre und Stratosphäre würden zerstört. Normalerweise kondensiert der Wasserdampf an einem bestimmten Punkt und verflüssigt sich wieder. Aber wenn wir diesen Prozess stoppen, verstärkt der Wasserdampf den Treibhauseffekt und die Ozeane verdampfen. Dann löst sich der Wasserstoff und verschwindet ins Weltall, wie es vermutlich auf der Venus geschehen ist.
Ein unaufhaltsamer Treibhauseffekt vollzieht sich in geologischen Zeiträumen, doch diese Entwicklung sollten wir nicht anstreben. Wir sollten uns bewusst sein, dass das Leben auf der Erde aussterben könnte, wenn wir katastrophale Entscheidungen treffen.
Sehen Sie eine bestimmte Grenze der Temperaturzunahme, die wir unbedingt vermeiden müssen?
Das ist der springende Punkt. Es gibt kein solches Schwarz-Weiß-Szenario, keine Grenzlinie mit der Apokalypse auf der einen und dem bewohnbaren Planeten auf der anderen Seite. 3,5 Grad sind schlimmer als 3 Grad, und 2,5 Grad sind schlimmer als 2 Grad.
Ich denke, dass die 1,5- und 2-Grad-Ziele, die auf der Pariser Klimakonferenz 2015 beschlossen wurden, relativ gut durch unser heutiges Wissen über mögliche Klimafolgen gestützt sind. Es wird schön sein, Ähnlichkeiten mit der Welt von heute zu bewahren. Daneben sollten wir die Kipppunkte im Auge behalten. Ich möchte dieses Problem nicht überbetonen, denn es ist nicht so, als hätten wir etwa nächsten Donnerstag den Kipppunkt überschritten und dann wäre alles verloren. Solche Entwicklungen vollziehen sich innerhalb von Jahrzehnten. In der Arktis müsste der Permafrost abschmelzen und Methan freisetzen, was sich wiederum auf die globale Erwärmung auswirken würde. Dennoch bewegen wir den Planeten im Laufe der Zeit in zunehmend gefährliche Bereiche.
Wie kritisch sehen Sie großräumige technische Eingriffe in das Klimasystem, also Geoengineering, als Maßnahme gegen die Klimaerwärmung?
Obgleich ich das Einbringen von Aerosolen in die Stratosphäre nicht befürworte, könnte dies in einer verzweifelten Lage notwendig werden. Es gibt immer verschiedene technische Möglichkeiten. Meine Abneigung gegen Geoengineering spiegelt meine spirituellen und qualitativen Präferenzen wider. Ich glaube nicht, dass wir einen wissenschaftlichen Grund finden werden, um derartige Forschungen zu verbieten. Innerhalb bestimmter Grenzen ist jedes Wissen gut. Je mehr wir wissen, desto mehr Optionen stehen uns offen.
Wie beurteilen Sie die deutsche Energiewende im Vergleich zu Ländern wie Finnland, Tschechien oder Großbritannien, die auch auf Kernenergie setzen? Und was ist von Kohlenstoff-Abscheidung und Speicherung (CCS) zu halten?
Meine Ansicht habe ich 2014 in meinem Buch „Nuclear 2.0“ dargelegt. Auch in der Zeit, als ich für Kernenergie warb, vermied ich übermäßige Kritik an erneuerbaren Energien, weil ich dort ein großes Potenzial sah und wollte, dass wir zusammenarbeiten.
Während der Arbeit an diesem Buch dachte ich, ich könnte darin auch etwas über Kernenergie schreiben. Doch dann habe ich mich bewusst entschieden, nicht in die Technologiekriege der Interessengruppen einzusteigen. Mein Ziel war nicht, ein Buch für oder gegen Atomkraft bzw. für oder gegen erneuerbare Energien zu verfassen. Es sollte sich an alle Interessierten richten, die den Klimawandel als Risiko wahrnehmen. Die Debatte um erneuerbare Energien, Kernenergie und CCS ist ständig in Bewegung. Ich versuche, keine Tür zuzuschlagen, indem ich etwa behaupten würde, dies oder jenes funktioniere nicht. Zurzeit besteht die größte Herausforderung darin, weiterhin technologische Innovationen zu fördern und den Übergang zu sauberen Technologien rasch zu verstärken. Und ich meine: alle sauberen Technologien.
Vor zehn Jahren habe ich mit Befürwortern von erneuerbaren Energien, Kernenergie und CCS zusammengearbeitet, um strengere Höchstgrenzen der Kohlenstoff-Emission zu erreichen, was teilweise gelang. Ich glaube immer noch, dass die verschiedenen Gruppen mit dem Ziel einer Verringerung des CO2-Ausstoßes zusammenarbeiten sollten. Diversität ist unser Freund.
Wenn bestimmte Länder eigene Wege gehen, habe ich nichts dagegen einzuwenden.Wir müssen den CO2-Ausstoß reduzieren. Es gibt Probleme mit großen Wasserkraftwerken, so wie es Probleme mit allen Energiequellen gibt. Alles hat seine Kehrseite, bei jeder Alternative sind Vor- und Nachteile zu bedenken.
Müssen Schwellenländer den gleichen Weg gehen wie die Industrienationen?
In den meisten dieser Länder ist wohl Solarenergie die günstigste Option. Wenn man in den Hauptstädten Afrikas ist, gewöhnt man sich an Stromausfälle. Letztlich ist es eine Frage von Infrastruktur und Entwicklung. Aber diese Entwicklung kann auf sauberem Wege erfolgen. Man muss nicht mit Kohleverbrennung im großen Stil beginnen, um eine Bevölkerung mit wenig Zugang zu Energiequellen besser zu versorgen.
Viele Aktivisten geben Klimawandelleugnern die Schuld an der derzeitigen Situation. Überschätzen wir ihren Einfluss?
Ich glaube nicht, dass die Leugnung des Klimawandels heute noch einen bedeutenden Faktor darstellt. Es ist eine Sache von alten weißen Männern. Nehmen wir die Global Warming Policy Foundation (GWPF), eine britische Lobbyorganisation, die den Klimawandel und seine Folgen verharmlost. Sie publiziert Arbeiten von emeritierten Professoren, die versuchen, vor ihrem Verschwinden mit einem letzten großen Auftritt Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich glaube nicht, dass dies politische Bedeutung besitzt.
Offenbar gibt es eine Kluft zwischen traditionellen Umweltschützern und der neuen Bewegung der Ökomodernisten, die zum Zweck von Klima- und Umweltschutz in verstärktem Maße auf innovative Technologien setzen. Ist das ein Problem?
Solche Spaltungen sind grundsätzlich nichts Schlechtes. Ich glaube an Demokratie und Pluralismus. Das Ökomoderne Manifest, zu dessen Mitunterzeichnern ich gehöre, wurde nicht als „Evangelium“ angelegt, sondern als bewusste Provokation, als Denkanstoß für die Mitglieder der Umweltbewegung. Die Umweltbewegung ist zu klein, um einzelne Gruppen auszuschließen. Wir können die Klimakrise nicht ohne die Mitarbeit von Aktiven aus dem rechten Lager bewältigen. Wir benötigen einen parteienübergreifenden Konsens, dass wir das Klima retten müssen. Das heißt, dass grüne Pläne mit spaltendem Charakter bei allem Enthusiasmus ihrer Vertreter nicht funktionieren werden.
Wo steht die Umweltbewegung heute?
Mit dem Ansatz des Ökomodernismus wollte ich ein wissenschaftsbejahendes Umweltbewusstsein prägen. In der Vergangenheit habe ich mich für Gentechnik, Kernenergie und Ähnliches eingesetzt. Solche Debatten müssen nach meiner Überzeugung evidenzbasiert sein. Es macht mich wütend, wenn sich intelligente junge und informierte Menschen mit einer pseudowissenschaftlichen Haltung gegen die Gentechnik aussprechen. Das ärgert mich mehr als jeder Klimawandelleugner, weil ich mir wünsche, dass sie bessere Umweltschützer werden. Durch die Vermengung des Umweltgedankens mit antiwissenschaftlichem Mystizismus negieren sie eine Kraft, die Gutes in der Welt bewirken kann. Für mich wäre es das Allertragischste. Wenn ich ein Lebenswerk habe, dann, dass ich dazu beitrage, den Umweltschutzgedanken wissenschaftlich zu fundieren.
Übersetzung: Inge Hüsgen
1 Für die Benennung der RPC-Szenarien wird der Strahlungsantrieb um 2100 gegenüber dem vorindustriellen Wert herangezogen. So steht beispielsweise RCP 8.5 für einen
Strahlungsantrieb von 8,5 W/m2 im Jahr 2100 gegenüber 1850.
Erschienen in: Skeptiker 1/2021, S. 34r 1/2021, S. 32 - 34