Jeanne Goldberg
Die öffentliche Einstellung zum Thema Strahlung ist von einer reichen mythologischen Geschichte geprägt, von biblischen Zeiten bis zu Tschernobyl und Fukushima. Sie beeinflusst das Leben und die Entscheidungen jedes Einzelnen und hat weitreichende Auswirkungen auf unsere globale Zukunft.
Im Jahr 1895 schockierte Wilhelm Conrad Röntgen die Welt mit der ersten Röntgenaufnahme des menschlichen Körpers, einem Röntgenbild der Hand seiner Frau. Röntgens Entdeckung ereignete sich in einer Epoche zahlreicher wissenschaftlicher und technologischer Durchbrüche, darunter Telegrafie, Fotografie, Glühbirne, Telefon und Radio, um nur einige zu nennen. Die viktorianische Ära (1837–1901) war zu Beginn durch die einflussreiche, allgegenwärtige Religion der Church of England geprägt. In den ersten Jahren herrschten zwischen Religion und Wissenschaft nur geringe Spannungen: „zwischen religiösem Glauben und Wissenschaft wurde im Allgemeinen eine schöne Verbundenheit gesehen (…), vermittelt durch eine Art Theologie der Natur“ (Fyfe 2012).
Andererseits war die Epoche durch eine Zunahme wissenschaftlicher Tätigkeit gekennzeichnet, und mit Herannahen des 20. Jahrhunderts verschärften sich die Spannungen zwischen Wissenschaft und Religion. Einige Wissenschaftler begannen, ihre Ablehnung christlicher Dogmen zu bekunden, während gleichzeitig eine Kultur der wissenschaftlichen Romantik gedieh.Das verbreitete Unverständnis der Öffentlichkeit für die wissenschaftlichen Grundlagen der Entdeckungen wurde zum Nährboden für Misstrauen und paranormale Erklärungen.
Es ist bemerkenswert, dass Röntgens Entdeckung einen bedeutenden Anknüpfungspunkt zwischen der wissenschaftlichen Disziplin der Physik und dieser romantischen, paranormal orientierten und pseudowissenschaftsaffinen Bewegung bildete. In seinem Aufsatz „Ghosts from the Machine: Technologisation of the Uncanny in H.G. Wells“ beschreibt Keith Williams die ambivalente, zwischen Angst und Optimismus angesichts wissenschaftlicher Entdeckungen schwankende Haltung der Viktorianer.
Das Wissen über das elektromagnetische Spektrum ermöglichte es, Farbe und sichtbares Licht zu verstehen. Dass das Spektrum auch unsichtbare Wellen umfasste, von denen einige,etwa Röntgenstrahlen, in feste Materie eindringen konnten, löste jedoch Faszination und Angst sowie „jenseitige“ Vorstellungen aus. Williams verweist auf die Werke von H.G. Wells, insbesondere den Roman „Der Unsichtbare” (engl.: „The Invisible Man“, 1898) als Beispiele für eine „seltsame Verbindung zwischen Spiritualismus und Wissenschaft“. Solch eine Verbindung spiegelt sich auch in der Mitgliederliste der 1882 gegründeten „Society for Psychical
Research” (SPR) wider, die sich aus Wissenschaftlern und Philosophen zusammensetzte (Williams 2010).
Dieser historische Abriss ist faszinierend und bedeutsam für die öffentliche Wahrnehmung der Strahlungsarten, die eine zentrale Rolle im heutigen Leben spielen. Radio, Fernsehen, Mobiltelefone, Mikrowellenherd, Rauchmelder und Röntgenaufnahmen haben als wissenschaftliche Anwendungen des elektromagnetischen Spektrums unser Leben verändert. Obwohl diese Technologien weit verbreitet sind, werden in der Öffentlichkeit immer wieder Bedenken über die Sicherheit von Handys und elektromagnetischer Strahlung laut.
Was ist Strahlung?
Elektromagnetische Strahlung breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und kann entweder als Fluss von Photonen,d. h. Partikeln ohne Ruhemasse, oder aber als elektromagnetische Welle beschrieben werden. Das elektromagnetische Spektrum reicht von relativ niederenergetischen Radiowellen über Mikrowellen-, Infrarot- und sichtbares Licht bis zur energiereicheren Ultraviolett-, Röntgen- und Gammastrahlung. Der Begriff „Strahlung” bezieht sich auf die Ausbreitung oder Übertragung von Energie, im hier diskutierten Kontext spricht man ab dem UV-Bereich von ionisierender Strahlung: Insbesondere Röntgen- und Gammastrahlen am hochenergetischen Ende des elektromagnetischen Spektrums, teilweise aber auch bereits UV-Strahlen, sind zusammen mit Alpha- und Beta-Teilchen in der Lage, Elektronen aus Atomen oder Molekülen „herauszuschlagen“, wodurch Ionen entstehen. Die Strahlung eines Röntgengeräts wird im menschlichen Gewebe und in verschiedenen
Materialien unterschiedlich absorbiert, wodurch sich Bilder erzeugen lassen (NASA 2013).
Ohne im Detail auf die unterschiedlichen Maßeinheiten der Strahlungsabsorption beim Menschen einzugehen, lässt sich festhalten, dass das Sievert (Sv) als Grundeinheit die relative biologische Wirksamkeit (RBW) angibt, also die Empfindlichkeit von Geweben auf eine auf den ganzen Körper als Durchschnitt bezogene Strahlenbelastung (Gregersen 1998). Das Sievert ist in seiner biologischen Wirksamkeit etwa gleichwertig mit einer Strahlungsabsorptionsdosis von einem Gray (100 Rad) Gammastrahlung.
Die durchschnittliche Strahlenexposition eines Amerikaners beträgt etwa 6,2 Millisievert (mSv) pro Jahr (U.S.NRC 2017). Die Hälfte dieser Strahlendosis (3 mSv) stammt aus natürlichen Quellen, hauptsächlich Radon, aber auch aus der kosmischen Strahlung und sogar aus Nahrungsmitteln und Trinkwasser. Ein Vierstundenflug kann mit 0,03 mSv zur Strahlenbelastung beitragen.Lebt ein Mensch auf den Hochebenen New Mexicos oder Colorados, ist seine Strahlendosis um 1,5 mSv höher, als sie es auf Meeresspiegel-Niveau wäre (Radiology Info 2017).
Es überrascht nicht, dass die öffentliche Wahrnehmung der Risiken und positiven Effekte ionisierender Strahlung von vielen Faktoren beeinflusst wird. Das zerstörerische Potenzial der Atomkraft hat sich durch Hiroshima und Nagasaki dauerhaft ins öffentliche Bewusstsein eingeprägt. Gegenüber der emotionalen Aufarbeitung dieser Ereignisse ist die rationale Analyse in den Hintergrund getreten. Ein Beispiel: Obwohl die durchschnittliche Dosis der exponierten Personen etwa 200 mSv betrug (Hendee, O’Connor 2012), wurde in der öffentlichen Diskussion nur wenig berücksichtigt, dass diese große Dosis in kürzester Zeit, nicht über einen längeren Zeitraum hinweg aufgenommen wurde.
Die jüngsten Atomunfälle in Tschernobyl und Fukushima verstärkten die Besorgnis der Öffentlichkeit gegenüber Kernkraft, bildgebenden Verfahren in der medizinischen Diagnostik und sogar der Bestrahlung von Lebensmitteln. Einige Stimmen vergleichen die Risiken einer hohen Strahlenbelastung durch eine Atomkatastrophe in unangemessener Weise mit den Risiken einer niedrig dosierten Röntgenaufnahme. Ein Röntgenbild kann zu einer unerwarteten Diagnose oder zur Feststellung einer Erkrankung in einem heilbaren Stadium führen. Trotz dieser Bedenken ist der Wert von Röntgenstrahlen, Computertomographie (CT) und anderen Bildgebungsverfahren mit ionisierender Strahlung in der amerikanischen Öffentlichkeit weitgehend anerkannt.
In den Vereinigten Staaten werden jährlich 800 Millionen radiologische Untersuchungen durchgeführt (Ip 2017). Medizinische und zahnärztliche Röntgenverfahren machen etwa 90 Prozent der Bevölkerungsdosis aus künstlichen Strahlungsquellen aus (The Phenomenon Called Radiation 1979). Im Jahr 2006 betrug die jährliche durchschnittliche Pro-Kopf-Strahlendosis in den Vereinigten Staaten 6,2 mSv, verglichen mit einer Dosis von 3,6 mSv in den frühen1980er Jahren, wobei der Anstieg auf medizinische Anwendungen zurückzuführen ist (Hendee, O’Connor 2012).
Von Interesse sind die ungefähren Strahlendosen aus Röntgenaufnahmen und die ungefähre Zeitspanne, die benötigt würde, um eine vergleichbare Dosis aus natürlicher Hintergrundstrahlung aufzunehmen (siehe Tabelle 1, Radiology Info 2017).
In einer ausgezeichneten Übersicht mit dem Titel „Radiation Risks of Medical Imaging: Separating Fact from Fantasy“ aus dem Jahre 2012 beschreiben William
Hendee und Michael O’Connor die sogenannten BEIR (Biological Effects of Ionizing)-Berichte, eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, die die U.S. National Academy of Sciences in den vorhergehenden sechs Jahrzehnten in Auftrag gegeben hatte. Schwerpunktmäßig befassten sie sich mit den Überlebenden der Atombombenabwürfe in Japan. Darüber hinaus untersuchten sie Mitarbeiter der Atomindustrie und Personen, die medizinischer Strahlung oder den Atomunfällen auf Three Mile Island und in Tschernobyl ausgesetzt waren. Die Autoren evaluierten das LNT-Modell, ein mathematisches Risikomodell, das seit den 1920er Jahren verwendet wird, um die Auswirkungen von Strahlung vorherzusagen. (LNT steht für linear no-threshold, d. h. linear ohne Schwellenwert.) Kurzum: Das LNT-Modell stellt eine lineare Beziehung zwischen Strahlendosis und der Entstehung von Krebs im Gewebe auf. Demnach kann selbst die kleinste Strahlungsdosis Krebs erzeugen.
1946 erhielt Hermann Muller den Nobelpreis für Medizin, weil er die Auswirkungen von Strahlung auf Mutationen in Fruchtfliegen untersucht hatte. Bereits damals war die Gültigkeit des LNT-Modells fraglich, da es offenbar einen Schwellenwert gab, unterhalb dessen keine Mutationen auftraten. Dies sprach gegen die Grundannahme des LNT-Modells. Muller überzeugte jedoch den BEIR-Ausschuss, das LNT-Modell trotz der Zweifel an seiner Gültigkeit zu übernehmen. Hendee und O’Connor zufolge ist es wenig angemessen, die Dosisreaktionskurve von japanischen Überlebenden der Atombomben (einmalige hohe Strahlungsdosis) auf Personen zu übertragen, die
über längere Zeit medizinischen Bildgebungsverfahren ausgesetzt waren. Sie weisen auf die irrationalen Sorgen und Ängste hin, die in der Öffentlichkeit durch übertriebene Medienberichte erzeugt werden (Hendee und O’Connor 2012).
In einer anderen vergleichenden Studienanalyse des LNT-Modells kommen Maurice Tubiana et al. zu dem Schluss, dass wissenschaftliche Fortschritte im Verständnis der Strahlenbiologie und Karzinogenese das LNT-Modell obsolet gemacht haben. Dazu hatten sie Studien analysiert, nach denen die derzeit verwendeten Labormarker für DNA-Schäden durch ionisierende Strahlung unspezifisch sind und es bei niedrigen Dosen zu einer besonders starken zellulären Abwehr von strahlungsbedingten karzinogenen Effekten kommt. Sie schließen mit dem Ergebnis,dass es beim Menschen „keine Hinweise auf eine krebserregende Wirkung bei akuter Bestrahlung in Dosen unter 100 mSv und bei Langzeitdosis unter 500 mSv gibt“. Trotz der anhaltenden kontroversen Diskussion lehnen sie das LNT-Modell komplett ab (Tubiana et al. 2009).
Die Health Physics Society und die American Association of Physicists in Medicine (AAPM) verfolgen einen Risiko-/ Nutzenansatz für diagnostische Röntgenaufnahmen. Die AAPM rät davon ab, Vorhersagen über hypothetische Krebsinzidenz und Tod durch niedrig dosierte Strahlung auf Basis von epidemiologischen Studien zu treffen, die sich auf Daten großer Populationen mit einer hochdosierten Strahlungsexposition beziehen. Nach ihrer Meinung sind „Risiken der medizinischen Bildgebung bei Patientendosen unter 50 mSv für einzelne Verfahren oder 100 mSv für mehrere Verfahren über kurze Zeiträume zu gering, um nachweisbar zu sein und möglicherweise nicht vorhanden“ (Hendee, O’Connor 2012). Weitere Organisationen, die diese Ansicht teilen, sind die Internationale Organisation der Medizinphysiker, der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen über die Auswirkungen der Atomstrahlung und die Internationale Kommission für Strahlenschutz (Calabrese, O’Connor 2014). Trotzdem ist es ein berechtigtes Anliegen, die Strahlendosen bei medizinischen Bildgebungsverfahren möglichst niedrig zu halten, was zur Entwicklung einklagbarer Sicherheitsrichtlinien geführt hat. Auch die möglichen Auswirkungen ionisierender Strahlung auf Kinder werden sorgfältig geprüft.
Globale Konsequenzen von Strahlungsaberglauben
Während sich Fehlvorstellungen und Strahlungsangst negativ auf den Einzelnen auswirken können, bringen sie auf globaler Ebene möglicherweise katastrophale Folgen mit sich. Dazu gibt es eine ausgezeichnete historischen Übersicht mit dem Titel „Fear of Radiation Is Killing People and Endangering the Planet Too“ (dt. „Die
Angst vor Strahlung tötet Menschen und gefährdet den Planeten”). Autor ist Theodore Rockwell, ein Pionier der Kernenergie, der am Manhattan Project und der Entwicklung eines Nuklearantriebs-Programms der Navy beteiligt war. Er geht darin nicht nur auf eventuelle negative Effekte auf Individuen durch Vermeidung diagnostischer Bildgebungsverfahren, sondern auch auf die Risiken für größere Bevölkerungsgruppen ein. 1998 veröffentlicht, erwies sich seine globale Sicht auf die Auswirkungen irrationaler Strahlungsangst als weitsichtig. Ihn bedrückte, dass Kohlekraftwerke durch anhaltenden Schadstoffausstoß in den USA zu Zehntausenden von Todesfällen durch Atembeschwerden beitragen, obgleich Kernkraftwerke saubere und sichere Energie geliefert hätten.
Weiter beunruhigte ihn, dass Kohlekraftwerke unter anderem zur globalen Erwärmung, zu Smog und saurem Regen beitrugen. Darüber hinaus zeigte er sich entsetzt, wie viele Amerikaner durch verunreinigte Lebensmittel erkrankten und starben, während eine Bestrahlung die Krankheitserreger abgetötet hätte. Auch Rockwell steht dem LNT-Modell ablehnend gegenüber, wobei er betont, dass wir „in einem Meer natürlicher Radioaktivität leben“ und dass die DNA-Schäden, die normalerweise durch freie Radikale in Stoffwechselprozessen entstehen, die der natürlichen Strahlung weit übertreffen, und zwar um das Zehnmillionenfache! (Rockwell 1998).
Paul Kurtz, der Gründer des Center for Inquiry, veröffentlichte 1999 einen Sonderbericht mit dem Titel „Fears of the Apocalypse – The Escape from Reason” (dt.: „Ängste vor der Apokalypse: Die Flucht vor der Vernunft”). Dieser Artikel konzentrierte sich auf Ängste, Aberglauben und Hysterie rund um die Jahrtausendwende 2000. Er beschrieb deutlich die vorherrschenden, beispiellos optimistischen Prognosen in Bezug auf Wohlstand und technologische Triumphe, ging jedoch auch auf die schwarzmalerischen Millenniumsprophezeiungen säkularer wie religiöser Art ein. Zu ersteren schrieb er: „Über all dem hängt das Damokles-Schwert – Kernenergie [...] Alles, was mit Strahlung zu tun hatte, galt als teuflisch“. (Kurtz 1999)
David Ropeik hat eine faszinierende Geschichte dieser ambivalenten Bewertung der Kernenergie in der amerikanischen Öffentlichkeit verfasst. Die hohen Erwartungen an das Potential von Strahlung Anfang des 20. Jahrhunderts führt er auf die Anerkennung der Fortschritte zurück, die die wissenschaftlichen und industriellen Revolutionen geprägt hatten. Als typisches Beispiel genannt seien die Geschichten über die Möglichkeit, mit einer geringe Menge Uran „ein Dampfschiff über den Ozean“ anzutreiben. Die meisten einflussreichen Medien sahen Strahlung in einem positiven Licht, während gleichzeitig magische Erzählungen über deren dunkle Seiten entstanden. Dann schockierten die Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki die Welt, schufen plötzlich ein Sinnbild der Apokalypse und verstärkten die Strahlungsangst in der Öffentlichkeit. Diese Ereignisse signalisierten den Beginn der öffentlichen Erosion des „Glaubens an Wissenschaft und moderne Technologie“, oder begleiteten ihn zumindest.Obwohl spätere Studien zeigten, dass die lebenslange Krebssterblichkeit unter den japanischen Überlebenden der Atombomben um weniger als ein Prozent zunahm und dass bei Personen, deren Strahlungsexposition weniger als 110 mSv betrug, offenbar keine biologischen Effekte auftraten, sollten die furchterregenden Bilder der Bomben für immer an das Zerstörungspotenzial des Atoms erinnern (Ropeik 2012).
Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg brachten eine Reihe von Herausforderungen für die Entwicklung der Kernenergie. Trotz des Atoms-for-Peace-Programms von Präsident Eisenhower, einem Ansatz zur Entwicklung der Kernenergie, hatte die Umweltbewegung Bedenken wegen radioaktiver Niederschläge. Die AEC (Atomic Energy Commission) trug durch unangemessenen Umgang mit zweifelnden Stimmen zum Widerstand gegen die Entwicklung der Kernenergie bei. Auch rechtliche Barrieren wurden errichtet. Darüber hinaus schildert Ropeik Anti-Atomkraft-Kundgebungen, die von angesehenen Intellektuellen wie Albert Einstein und Bertrand Russell geleitet wurden und hauptsächlich für ein Atomwaffenverbot eintraten, aber zu einer Abnahme der Unterstützung für Kernkraftwerke führte.
Nach Ropeiks Ansicht war das nächste nukleare Ereignis mit Symbolkraft in Three Mile Island (Harrisburg) im Jahre 1979 maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Entwicklung von Kernkraftwerken in den Vereinigten Staaten nicht weiter unterstützt wurde (Ropeik 2012). Der Unfall von Fukushima 2011 zeichnete sich durch eine Kombination unglücklicher Umstände aus und wurde zum Gegenstand einer erhitzten bis hys terischen Berichterstattung. In seinem Aufsatz „Radiation Superstition“ verweist Robert Hargraves auf die Untersuchungeneines wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen, wonach in der betroffenen Anlage kein Arbeiter durch Strahlenschäden ums Leben kam (Hargraves 2013). Obwohl weder Tote noch Fälle von Strahlenkrankheit dokumentiert werden konnten, wurden mehr als 100 000 Menschen aus ihren Häusern evakuiert, wobei es zu über 1000 Todesfällen kam.
Die Suizidrate erreichte einen überdurchschnittlich hohen Wert. Tragisch ist dies vor allem, weil nach Schätzung von Fachleuten in einigen evakuierten Gebieten vertretbar geringe Strahlungswerte herrschten. Die erwartete lebenslange Exposition der Bewohner nahe Fukushima von dem Ereignis betrug weniger als 10 mSv. Zum Vergleich: Ihre voraussichtliche lebenslange Exposition durch natürliche Hintergrundstrahlung betrug 170 mSv (World Nuclear Association 2017). Die drastischen Maßnahmen, die in Japan ergriffen wurden, hatten wirtschaftliche Folgen und verstärkten die Strahlenangst und irrationalen Vorstellungen in der Öffentlichkeit. Geld wurde verschwendet, indem man Einwohner daran hinderte, in ihre Häuser zurückzukehren. Darüber hinaus baut Japan als Ersatz für die Atomkraftwerke Dutzende neuer Kohlekraftwerke und importiert größere Mengen verflüssigtes Erdgas, was die Handelsbilanz des Landes negativ beeinflusst (Puko 2018).
Ann Stouffer Bisconti hat untersucht, welche Faktoren die Einstellung der Öffentlichkeit zur Kernenergie beeinflussen, und sie hält Folgendes für bedeutend:
1. die Bildsprache, in der zum Thema Kernenergie kommuniziert wird,
2. Unfälle,
3. Energiebedarf,
4. Nähe eines Unfalls oder einer geplanten Anlage,
5. Gefühl von Kontrolle,
6. politische Zugehörigkeit
und
7. Verständnis der Prinzipien der Kernenergie.
Vielen Personen fühlen sich von dieser Technologie bedroht, weil sie die die physikalischen Grundlagen nicht verstehen. Es sei darauf hingewiesen, dass viele Menschen auch die Grundprinzipien des Computers oder des Autos nicht vollständig durchschauen und diesen Geräten dennoch ohne Ängste gegenüberstehen. Der offensichtliche Unterschied liegt in unseren „praktischen“ Erfahrungen mit Computern und Autos. Sie sind uns durch persönlichen Kontakt vertraut und wir betrachten sie als wesentliche, im Allgemeinen sichere Elemente unseres Lebens.
Warum sind Strahlungsängste und abergläubisches Denken von umfassender Bedeutung? Sie sind es, weil sie zu einer existentiellen Bedrohung der Erde, dem Klimawandel, beitragen. Das Aufkommen alternativer Energiequellen, wie Solar- und Windenergie sowie anderer neuen Technologien, eröffnet uns die Möglichkeit, das Problem des Kohlendioxid-Ausstoßes, des höchsten seit über 800 000 Jahren, anzugehen (PBS.org 2018.) Bevor die Optionen für die Kernenergie erneut geprüft werden, müssen zunächst die Angst und Aberglaubensnarrative über Strahlung entlarvt, aufgedeckt und verstanden werden
Übersetzte und überarbeitete Fassung eines Beitrags, der erstmals in Skeptical Inquirer, 5 / 2018, erschien.Mit freundlicher Genehmigung von CSI.
Die promovierte Medizinerin Jeanne Goldberg ist pensionierte Radiologin und ehemalige Vorsitzende der Florida Division der Breast Cancer Task Force der American Cancer Society. Sie ist als Wissenschaftspublizistin tätig, engagiert sich in verschiedenen Umweltorganisationen und führt Alphabetisierungskurse für Einwanderer im
Südwesten von Florida durch.
Literatur
Bisconti, A. S. (2017): Changing public attitudes toward nuclear energy. Progress in Nuclear Energy 102(1):103–113.
Calabrese, E.; O’Connor, M. (2014): Estimating risk of low radiation doses—a critical review of the BEIR VII Report and its use of the linear no-threshold
(LNT) hypothesis. Radiation Research 182(5):463–474.
Fyfe, A. (2012): Victorian Science & Religion. The Victorian Web
Gregersen, E. (1998): Sievert. Encyclopedia Britannica
Hargraves, R. (2013): Radiation superstition
Hendee, W.; O’Connor, M. (2012): Radiation risks of medical imaging: Separating fact from fantasy. Radiology 264(2): 312–321.
Ip, G. (2017): How robots may make radiologists’ jobs easier, not redundant. Wall Street Journal (November 22).
Kurtz, P. (1999): Fears of the apocalypse: The escape from reason. Skeptical Inquirer 23(1) (January/February): 20–24.
NASA (2013): The Electromagnetic Spectrum.
PBS.org 2018. Decoding the climate machine (April 18).
Washington Post (1979): The phenomenon called radiation.
Puko, T. (2018): U.S. coal exports get a boost from Japan. In: Wall Street Journal.
Radiology Info (2017): Radiation dose in x-ray and CT exams.
Rockwell, T. (1998): Fear of radiation is killing people and endangering the planet too. IAEA / INIS 32:1; reference number 32000260.
Ropeik, D. (2012): The rise of nuclear fear—how we learned to fear the radiation. In: Scientific American.
Tubiana, M.; Feinendegen, L. E.; Yang, C. et al. (2009): The linear no-threshold relationship is inconsistent with radiation biologic and experimental data. Radiology
251 (1): 13-22.
U.S. NRC (United States Nuclear Regulatory Commission) (2017): Radiation All Around Us: Doses in Our Daily
Lives.
World Nuclear Association (2017): Fukushima Accident.
Erstmals erschienen in: Skeptiker 1/2019, S. 4 - 9. Ergänzend steht demnächst eine ausfürhiche, überarbeitete Version des Info-Kastens von Amardeo Sarma, S. 7, zur Verfügung.