„Edu-Kinestetik ist eine ganzheitliche und wirkungsvolle Methode zum Abbau von Lernblockaden“, „Edu-Kinestetik befreit blockiertes Lernpotential“, „Brain-Gym hat sich als wirksam erwiesen bei Lernschwierigkeiten, Ängsten und Konzentrationsstörungen“, „Bewegung ist das Tor zum Lernen“, „Brain-Gym integriert das gesamte Gehirn“: So oder ähnlich lauten Aussagen, die im Zusammenhang mit Edu-Kinestetik, auch Brain-Gym genannt, auftauchen.
Die Begründer der so genannten Edu-Kinestetik sind Teilhaber eines privaten „Instituts“ (Institut für Angewandte Kinesiologie - IAK) sowie Verlages (Verlag für Angewandte Kinesiologie - VAK). Sie bieten zahlreiche Kurse an und verkaufen Literatur und Übungsmaterial in großen Mengen. Edu-Kinestetik ist mittlerweile so verbreitet, dass sie längst nicht mehr nur von den Begründern kommerziell angeboten wird. Viele Heilpraktiker, Psychologen und Pädagogen (insbesondere Lehrer) haben entsprechende Fortbildungen absolviert und bieten nun in Schulen, Volkshochschulen, in der Lehrerfortbildung oder in privaten Praxen eine Behandlung von Kindern mit Edu-Kinestetik bzw. Kurse an. Ihre Vertreter behaupten, mit der Edu-Kinestetik eine Methode zur Lösung vielfältiger pädagogischer Probleme vorzulegen. Ihr Hauptbegründer, der Amerikaner Paul Dennison, so heißt es, sei ein „Pionier in Angewandter Gehirnforschung“ (Dennison & Dennison 1998a) und habe Edu-Kinestetik auf dem Hintergrund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt (Dennison 1996).
Dreh- und Angelpunkt der Edu-Kinestetik sind körpernahe Behandlungstechniken (sog. Korrekturen), die beim Menschen angewandt angeblich viele positive Wirkungen erzielen können. Dabei werden vor allem positive Effekte für den (schul)pädagogischen Bereich bzw. bei Kindern versprochen, wie etwa die Beseitigung von Lernschwierigkeiten, Hyperaktivität und Ängsten, vermehrte Leistungssteigerungen oder eine „Erweiterung des Gehirnpotentials“. In speziell an Pädagogen und Kinder gerichteten Schriften wird die Anwendung der Korrekturtechniken unter umfangreichen Heilungsversprechen propagiert. Die Edu-Kinestetik wird dabei als eine wissenschaftliche Methode bezeichnet, und eine fachwissenschaftlich klingende Sprache sowie der Verweis auf angebliche Forschungen suggerieren ein ernst zu nehmendes wissenschaftliches Konzept. Mit Slogans wie „Bewegung ist das Tor zum Lernen“ oder dem Verweis auf „Ganzheitlichkeit“ u. ä. erweckt Edu-Kinestetik zudem den Anschein eines reformerisch und humanitär orientierten Ansatzes.
Welche Annahmen liegen diesem Ansatz zugrunde?
Die Edu-Kinestetik ist eine Spezialrichtung der Angewandten Kinesiologie, einem wissenschaftlich nicht anerkannten unkonventionellen Diagnose- und Therapieverfahren. Wie die Angewandte Kinesiologie beruht auch Edu-Kinestetik auf religiösen Ideen der Traditionellen Chinesischen Medizin, nämlich auf der Annahme einer spirituellen kosmischen „Energie“ (Qi), die das gesamte Universum durchdringen und im Körper von Menschen durch Leitbahnen, so genannte Meridiane, fließen soll. Die besagten Meridiane sollen mit Organen und Muskeln des menschlichen Körpers "energetisch gekoppelt" sein. Der „richtige“ Fluss der kosmischen Energie durch den Körper soll dabei konstitutiv sein für Wohlbefinden, seelische und körperliche Gesundheit sowie Leistungs- und Lernfähigkeit u.a., wobei eine „Balance“ der Energie zwischen angenommenen Polaritäten (Yin-Yang) im Kosmos, der Erde und dem menschlichen Körper (v.a. den Gehirnhälften) herrschen muss. Es wird davon ausgegangen, dass dieser Energiefluss bzw. diese Energiebalance gestört sein kann, was eine „energetische“ Unter- oder Überversorgung von Meridianen bzw. Organen zur Folge haben soll und angeblich dazu führt, dass diese sich „abschalten“. Insbesondere sollen sich Gehirnareale (vor allem die Hemisphären) abschalten können, wodurch die Funktionsfähigkeit des Körpers in Hinblick auf Erleben und Verhalten eingeschränkt würde. Eine solche „energetische Dysbalance“ wird entsprechend als Ursache für körperliche und seelische Leiden sowie insbesondere für Lernschwierigkeiten und mangelnde Leistungsfähigkeit betrachtet.
Ziel der Edu-Kinestetik ist es, die angeblichen energetischen Dysbalancen mit Hilfe des sog. Muskeltests, bei dem die Kraft bestimmter Testmuskeln des Armes Aufschluss über den energetischen Zustand von Meridianen bzw. „abgeschalteten“ Organen geben soll, zu diagnostizieren und dann mit bestimmten Behandlungstechniken zu korrigieren. Als Behandlungstechniken werden verschiedene „Korrekturen“ propagiert die im Wesentlichen aus dem Drücken bestimmter Stellen auf dem Körper (in Anlehnung an Akupunkturpunkte auf Meridianen), einzelnen isolierten Bewegungen, bestimmten Gedanken, Blickrichtungen u.a. bestehen und die die energetischen Dysbalancen im Körper bzw. Gehirn aufheben sollen, indem sie Energien „umprogrammieren“ oder „umleiten“ und Meridiane („Bahnen“) von Energieblockaden befreien („Befreite Bahnen“). Am bekanntesten sind dabei die so genannten Brain-Gym-Korrekturen („Denkmütze“, „Gehirnknöpfe“), die insbesondere von Kindern selbstständig angewandt werden sollen und denen zudem eine vorbeugende Wirkung zugeschrieben wird.
Handelt es sich hier wirklich um einen wissenschaftlich fundierten Ansatz?
Edu-Kinestetik beruht im Wesentlichen auf vorwissenschaftlichen, religiös motivierten mystischen Erklärungen, die der Traditionellen Chinesischen Medizin, einem archaischen Medizinsystem, entlehnt sind. Die Idee von der kosmischen Energie und von Meridianen entspricht also esoterischen Vorstellungen, die nicht durch wissenschaftliche Erkenntnis erworben, sondern aus Glaubenssystemen erwachsen sind. Qi stellt eine metaphysische Energie dar, für die es – ebenso wie für die Existenz von Meridianen – keinerlei wissenschaftliche Belege gibt. Edu-Kinestetik geht mit diesen Annahmen, die konstitutiv für das gesamte Konzept sind, völlig an heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers vorbei. Sie bezieht sich auf eine spirituelle Überwelt, aus der heraus weltliche Vorgänge gedeutet werden. Religiöse Symboliken und Deutungen werden als Analogien u.a. auf menschliche Körpervorgänge übertragen (z.B. Kosmologie, Yin-Yang, Hirnhälften) und wissenschaftliche Erkenntnisse dabei völlig ignoriert.
Gemischt werden diese esoterischen Vorstellungen mit Aussagen zu neurologischen Sachverhalten, die wissenschaftlich ebenso unhaltbar sind. So gibt es beispielsweise kein „Abschalten“ von Hirnhälften und auch keine Ausnutzung von nur „10 Prozent unseres Gehirnes“ oder dergleichen. Die theoretischen Erörterungen zur Edu-Kinestetik zeichnen sich zudem durch fehlende Systematik, unzulängliche Erklärungen, diffuse Begriffe sowie zahlreiche Widersprüche aus. Es werden weder schlüssige Hypothesen formuliert noch existiert eine stimmige Theorie. Und schließlich werden keinerlei Belege für die behaupteten Körpervorgänge und die angebliche Wirksamkeit der edu-kinestetischen "Korrekturvorgänge" vorgelegt, obwohl diese von den Kinesiologen als wissenschaftlich erwiesen dargestellt werden.
Ist Edu-Kinestetik tatsächlich ein sinnvoller Ansatz zur Förderung von Kindern?
Eine Behandlung von Kindern mit Edu-Kinestetik kann auch aus pädagogisch-psychologischer Sicht nicht empfohlen werden. Edu-Kinestetik lässt Kinder und Erwachsene glauben, Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten hätten ihre Ursache allein in körperlichen Dysfunktionen. Statt den vielfältigen möglichen Ursachen solcher Schwierigkeiten nachzugehen, werden mechanistisch „Korrekturen“ am Kind vorgenommen. Eine Analyse des sozialen Umfeldes wird völlig außer Acht gelassen. Kindern wird damit suggeriert, mit ihrem Körper sei etwas nicht in Ordnung und sie müssten die propagierten Techniken anwenden, um einen (vermeintlichen) Defekt zu beheben. Gleichzeitig wird der Eindruck erweckt, man könne erwünschte Fähigkeiten beliebig „anschalten“ („Gehirnknöpfe“, „Positive Punkte“). Damit verbreitet die Edu-Kinestetik einen Machbarkeitswahn, der – insbesondere auf dem esoterischen Hintergrund – in eine Irrationalisierung und Trivialisierung pädagogischer Realität mündet und eine adäquate Bearbeitung pädagogischer Probleme verhindert.
Dr. Barbro Walker
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Literatur
- Decker F, Bäcker B (1998) Kinesiologie mit Kindern. Ravensburger Buchverlag: Ravensburg
- Dennison PE (1996) Befreite Bahnen. Verlag für Angewandte Kinesiologie: Freiburg
- Dennison PE, Dennison G (1998a) Brain Gym. Verlag für Angewandte Kinesiologie: Freiburg
- Dennison PE, Dennison G (1998b) Brain Gym. Lehrerhandbuch. Verlag für Angewandte Kinesiologie: Freiburg
- Dennison PE, Dennison G (1998c) Edu-Kinestetik für Kinder. Das Handbuch der Edu-Kinestetik für Eltern, Lehrer und Kinder jeden Alters. Verlag für Angewandte Kinesiologie: Freiburg
Kritische Literatur
- Hund W (1997a) Edu-Kinestetik: Denk-, merk-, frag-würdig? Kritische Anmerkungen zu einer „neuen Methode“. Grundschulmagazin, Heft 7-8: 10-12
- Hund W (1997b) Ein merkwürdiges Ei im pädagogischen Nest:
- Edu-Kinestetik. Bayerische Schule, Heft 4: 36-37
- Hund W (1998a) Edu-Kinestetik als pädagogische Wunderwaffe? Skeptiker 11: 23-26
- Hund W (1998b) Esoterische Heilswege in der Schule? Beispiel: Edu-Kinestetik. unterrichten/erziehen, Heft 3: 31-34
- Hund W (2000) Falsche Geister - echte Schwindler? Esoterik und Okkultismus kritisch hinterfragt. Echter-Verlag: Würzburg, pp 129-144
- Walbiner, W (1997) Edukinesiologie. Ein neuer Heilsweg in der Pädagogik? Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung, München (Arbeitsbericht Nr. 290)
- Walker B (2004a) „Edu-Kinestetik“ - ein pädagogischer Heilsweg? Dissertation J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt, TectumVerlag.
- Walker B (2004b) Edu-Kinestetik - Ein seriöser, wissenschaftlich fundierter und pädagogisch sinnvoller Ansatz? Skeptiker 17: 88-95
Stand: 01.09.2009
Lesen Sie außerdem bei den Skeptikern:
- Eintrag "Edu-Kinestetik" im Weblexikon
- "Edu-Kinestetik in Hessen" und "Edu-Kinestetik in Hessen zum Zweiten" (Newsmeldungen, 07. und 14.12.2006)