Das Voynich-Manuskript ist ein handgeschriebenes Buch, das in einer unbekannten Schrift verfasst ist und zahlreiche Rätsel aufgibt. Experten und Hobby-Forscher versuchen seit fast 100 Jahren erfolglos, den Text zu entschlüsseln. An Theorien, die sich um dieses einzigartige Dokument ranken, herrscht kein Mangel. Neben plausiblen Überlegungen kursieren allerdings auch zahlreiche Behauptungen, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar sind.
Das Alter des Voynich-Manuskripts wird meist auf etwa 500 Jahre geschätzt. Da der jetzige Besitzer – die Beinecke-Bibliothek der US-Universität Yale – keine Untersuchung mit physikalischen oder chemischen Methoden zu lässt, kann man jedoch eine Fälschung aus neuerer Zeit nicht ausschließen. Zweifelsfrei belegt ist die Existenz des Manuskripts erst seit dem Jahr 1912. Damals will es der Buchhändler und -sammler Wilfried Voynich, nach dem es benannt ist, in einem italienischen Jesuiten-Kolleg aufgespürt haben. Voynich präsentierte außerdem ein auf das Jahr 1666 datiertes Schreiben, das dem Manuskript beigelegen haben soll. Dieses Dokument nennt einige angebliche Vorbesitzer, die alle in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebten.
Zu den zahlreichen ungeklärten Punkten im Zusammenhang mit dem Voynich-Manuskript gehört die darin verwendete Schrift. Diese ist nicht lesbar und taucht in keinem anderen bekannten Schriftstück auf. Es ist unklar, ob es sich dabei um eine Verschlüsselung oder einfach nur um unbekannte Buchstaben handelt. Letztere Variante erscheint allerdings deutlich weniger wahrscheinlich, da statistische Untersuchungen des Texts zahlreiche Ergebnisse hervorgebracht haben, die beim Schreiben in einer bekannten Sprache aber in unbekannter Schrift nicht zu erwarten wären. Deutlich plausibler sind folgende Theorien:
- Möglicherweise hat der Urheber des Manuskripts einen kürzeren Text (z.B. 50.000 Buchstaben) in eine unbekannte Schrift übertragen und das Resultat zu den 170.000 Buchstaben ausgeweitet, die er schließlich niederschrieb. Eine derartige Verschlüsselung ist auch mit modernen Methoden schwer zu knacken.
- Eine weitere Theorie stammt von dem US-Kryptologen William Friedman (1891-1969). Dieser gilt zwar als erfolgreichster Codeknacker aller Zeiten, doch zum Voynich-Manuskript konnte er der Nachwelt nicht mehr als eine begründete Vermutung hinterlassen. Diese lautete, dass der Text eine in einer Kunstsprache verfasste und anschließend verschlüsselte Abhandlung ist. Allerdings gibt es bisher keinen konkreten Verdacht, wie die zu Grunde liegende Kunstsprache ausgesehen haben könnte.
- Die dritte und wohl wahrscheinlichste Theorie besagt, dass das Voynich-Manuskript gar keinen sinnvollen Text enthält. Auf diese Schabernack-Theorie deuten Arbeiten des britischen Linguisten Gordon Rugg (Rugg 2004) und des österreichischen Physikers Andreas Schinner hin (Schinner 2007).
Da man den Text des Voynich-Manuskripts bisher nicht lesen kann, bieten die zahlreichen darin enthaltenen Bilder die wichtigsten Anhaltspunkte, um Schlüsse auf Inhalt, Alter und Autor zu ziehen. Die unterschiedlichen Illustrationen stellen von Menschen über Pflanzen bis zu Himmelskörpern unterschiedliche Objekte dar, die sich kaum einem gemeinsamen Thema zuordnen lassen. Die Abbildungen lassen sich weder mit einer bestimmten Denkschule noch mit einer Religion in Verbindung bringen. Auch die insgesamt 126 Pflanzen-Darstellungen, die teilweise eine ganze Seite ausfüllen, geben wenig her. Kein einziges der abgebildeten Gewächse lässt sich eindeutig identifizieren. Wenig Verwertbares bieten schließlich auch die im Buch abgebildeten Menschen – in vielen Fällen handelt es sich um nackte Frauen. Immerhin lassen die Frisuren und die Kleidung einiger Personen sowie die Art der Darstellungen eine Datierung zu. Demnach könnte das Manuskript zwischen 1450 und 1520 entstanden sein – vorausgesetzt, es ist keine Fälschung.
Sollte es sich um eine Fälschung handeln, dann ist eine Entstehungszeit im frühen 20. Jahrhundert am wahrscheinlichsten. Ein eventueller Fälscher müsste hervorragende Arbeit geleistet haben, denn historisch falsche Darstellungen sind im Manuskript bisher nicht nachweisbar. Es ist durchaus denkbar, dass Voynich selbst hinter der Fälschung steckte oder dass er das Manuskript unwissentlich einem Fälscher abkaufte.
Während die Schulwissenschaft noch rätselt, haben bereits mehrere Personen behauptet, das Geheimnis des Voynich-Manuskripts gelüftet oder zumindest wichtige Entdeckungen gemacht zu haben. Hier eine Auswahl:
- Voynich selbst hielt den englischen Mönch und Universalgelehrten Roger Bacon (1214-1294) für den Autor. Zwar scheint das dem Buch beiliegende Schreiben diese Behauptung zu stützen, doch neuere Untersuchungen zeigen recht deutlich, dass Bacon als Verfasser nicht infrage kommt.
- Der US-Philosoph William Newbold verkündete 1921, das Mansukript gelöst zu haben (Newbold 1928). Er hielt nicht die Buchstaben an sich für relevant, sondern kleine, kaum sichtbare Markierungen, die scheinbar daran angebracht waren. Newbolds These wirkte jedoch reichlich konfus und konnte sich daher zu Recht nicht durchsetzen.
- 1943 veröffentlichte der Rechtsanwalt Joseph Feely eine vermeintliche Lösung der Voynich-Verschlüsselung (Feely 1943). Ihm zufolge ist das Manuskript in lateinischer Sprache verfasst und enthält zahlreiche Abkürzungen sowie gekürzte Sätze. Feelys angebliche Übersetzung eines kleinen Ausschnitts ließ sich jedoch nicht auf den Rest des Manuskripts übertragen.
- Robert Brumbaugh, ein Professor für Philosophie des Mittelalters, behauptete, die unlesbaren Buchstaben im Manuskript seien eigentlich Ziffern, denen jeweils mehrere Buchstaben des lateinischen Alphabets zugeordnet sind (Brumbaugh 1978). Allerdings ergaben die von ihm vorgelegten Entschlüsselungen keinen erkennbaren Sinn.
- Der Arzt Leo Levitov (Levitov 1987) behauptete ebenfalls, den Voynich-Text entschlüsselt zu haben. Seiner Meinung nach ist das Buch in einem alten Flämisch verfasst, in das deutsche und französische Wörter einflossen. Allerdings basiert Levitovs Veröffentlichung fast nur auf spekulativen Annahmen und liefert keine Beweise.
- Der Brite Nick Pelling (Pelling 2006) sieht den italienischen Architekten Antonio Averlino (1400-1469) als Voynich-Autor. Seine These ist jedoch nicht durch harte Fakten belegt.
- Der Buchautor Erhard Landmann fand 2005 nach eigenen Angaben auf den ersten Blick die Lösung des Voynich-Manuskripts (Landmann 2007). Seiner Ansicht nach sind die seltsamen Voynich-Zeichen undeutlich geschriebene Buchstaben. Leider hat Landmann bisher keine detaillierte Beschreibung seiner Theorie veröffentlicht, geschweige denn eine Klartextversion des Manuskripts.
- Der bekannte Autor und Präastronautiker Erich von Däniken äußerte sich ebenfalls zum Voynich-Manuskript (Däniken 2007). Er sieht eine mögliche Verwandtschaft zum Buch Henoch, lieferte jedoch keine Lösung oder weiterführende Erklärung.
Nach fast 100 Jahren Voynich-Manuskript-Forschung bleibt also nur die Erkenntnis, dass fast alle zentralen Fragen zu diesem Thema ungelöst sind. Das Voynich-Manuskript gilt daher als das bedeutendste Verschlüsselungsrätsel überhaupt. Dies ist nicht zuletzt deshalb erstaunlich, weil die meisten anderen ungelösten historischen Verschlüsselungen aus dem 20. oder 21. Jahrhundert stammen – zu dieser Zeit standen bereits vergleichsweise moderne Verschlüsselungsmethoden zur Verfügung. Die wenigen Ausnahmen (etwa die Dorabella-Chiffre oder die Shugborough-Hall-Inschrift, die aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert stammen und beide ungelöst sind) enthalten deutlich weniger Text als das Voynich-Manuskript und bieten deshalb wenig Angriffspunkte für eine Entzifferung. Ein (mutmaßlich) 500 Jahre altes, in Gänze verschlüsseltes und ungelöstes Buchs ist daher absolut einzigartig.
Bei einem Blick auf die zahlreichen Veröffentlichungen zum Voynich-Manuskript fällt auf, dass sich bisher vor allem Hobby-Forscher und Laien mit dem rätselhaften Dokument beschäftigt haben. Sachkundige Wissenschaftler sind dagegen eher spärlich vertreten. Es gibt daher durchaus noch Raum für weitere Untersuchungen. Dabei ist eines klar: Auch ohne pseudowissenschaftliche Theorien und abenteuerliche Spekulationen ist das Thema Voynich-Manuskript spannend genug.
Literatur
Übersicht:
- Zeitschriftenartikel: Schmeh, Klaus (2008): Das Voynich-Manuskript: das Buch, das niemand lesen kann. Skeptiker 2/2008.
- Buch zum Voynich-Manuskript:: Kennedy, Gerry; Churchill, Rob (2005): Der Voynich-Code. Das Buch, das niemand lesen kann. Rogner & Bernhard, Berlin 2005.
- Buch über die Geschichte der Verschlüsselungstechnik mit zahlreichen Beispielen für gelöste und ungelöste historische Verschlüsselungen: Schmeh, Klaus (2007): Codeknacker gegen Codemacher. W3L Verlag, Bochum 2007.
Im Text verwendete Quellen:
- Brumbaugh, Robert S. (1978): The most mysterious manuscript, the Voynich „Roger Bacon“ cipher manuscript. Southern Illinois Univ. Pr., Carbondale Ill 1978.
- Däniken, Erich von (2007): Falsch informiert. Kopp, Rottenburg 2007.
- Feely, Joseph Martin (1943): Roger Bacon’s Cipher. The Right Key Found. Feely, Rochester NY 1943.
- Landmann, Erhard (2007): Das sogenannte Voynich-Manuskript. Magazin 2000plus; Alte Kulturen Spezial.
- Levitov, Leo (1987): Solution of the Voynich Manuscript. A Liturgical Manual for the Endura Rite of the Cathari Heresy, the Cult of Isis. Aegean Park Press, Laguna Hills 1987.
- Newbold, William Romaine (1918): The Cipher of Roger Bacon. in: Transactions of the College of Physicians of Philadelphia. Serie 3. Baltimore 43.1918, S. 431.
- O’Neill, Hugh (1944): Botanical Remarks on the Voynich MS. in: Speculum 19.1944, S. 126.
- Pelling, Nick (2006):The Curse of the Voynich. Compelling Press, 2006.
- Rugg, Gordon (2004): An elegant Hoax? A possible solution to the Voynich Manuscript. in: Cryptologia. Philadelphia Bd 28.2004 (Jan.), S. 31.
- Schinner, Andreas (2007): The Voynich Manuscript. Evidence of the Hoax Hypothesis. in: Cryptologia. Philadelphia Bd 31.2007 (April), S. 95.
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