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GWUP / Thema / Aberglaube / Interview Dr. Stephan Bachter
13.07.2012
GWUP: Was ist Aberglaube?
Dr. Stephan Bachter: Aberglaube ist eine Zuschreibungskategorie, die dazu dient, aus einer bestimmten Warte heraus Handlungen und Vorstellungen von Menschen zu beschreiben und vor allem zu bewerten. Wer mit dem Begriff „Aberglauben“ argumentiert, argumentiert aus einer angeblich überlegenen Position heraus, etwa der einer Religion, die sich für die einzig wahre hält oder aus der eines absolut gesetzten Wissenschaftsverständnisses. „Aberglaube“ ist ein abwertender Begriff. Er bedeutet „falscher, missverstandener Glaube“.
Aus Sicht der Volkskunde, die sich so intensiv wie keine andere Wissenschaftsdisziplin mit dem Thema „Aberglaube“ beschäftigt hat, meint man konkret mit „Aberglaube“ Praktiken und Vorstellungen, die auf popularisierten, trivialisierten und fragmentierten Kenntnissen von Magie beruhen. Magie ist ein in der Antike entwickeltes Welterklärungsmodell, das von verborgenen Kräften im Kosmos ausgeht, die der Mensch nach intensivem Studium für seine Zwecke nutzbar machen kann.
Inhaltlich fasst man in unserem Fach unter „Aberglauben“ Themen wie Vorzeichendeutung, Formen der Wahrsagerei wie Astrologie oder Handlesen und Zauberei unter Anwendung der magia naturalis und der magia daemoniaca zusammen. Die magia naturalis nutzt angebliche verborgene Kräfte in der Natur, etwa zu Krankheitsbehandlungen, die magia daemoniaca arbeitet mit Dämonenbeschwörungen.
Volkskundler und andere Kulturwissen-schaftler vermeiden aber den Begriff „Aberglauben“ wenn möglich, weil wir die Phänomene inhaltlich beschreiben wollen und uns für ihre historische, soziale und kulturelle Herkunft und Bedeutung interessieren, nicht für ihre Bewertung.
Warum ist Aberglaube so verbreitet?
Menschen wollen vor allem gesund, geliebt und reich sein. Das war schon immer so und das ist noch heute so. Schauen Sie doch nur das Angebot der heutigen „Aberglaubensszene“, der sogenannten Esoterik, an! „SEX INTELLIGENZ REICHTUM durch GMP-Meditation“ versprach ein Flyer, der mir einmal auf einer Münchner Esoterikmesse in die Hand gedrückt wurde. Darum geht es! „Abergläubische“ Praktiken und Handlungen zielten und zielen darauf ab, diese menschlich-allzumenschlichen Wünsche zu erfüllen.
Zur Verbreitung von „Aberglauben“ trägt wesentlich bei, dass dahinter ökonomische Interessen stehen und die Vermittlung durch Medien eine tragende Rolle spielt.
„Abergläubische“ Angebote werden häufig von bestimmten Anbietern gemacht, ich nenne sie magische Dienstleister. Von Gesundbetern, Wahrsagern, Hexenbannern, Erdentstrahlern, Wünschelrutengängern, Geisterjägern und – aktuell - den Stand’lbetreibern auf Esoterikmessen und ihren Scharlatanskollegen in der Esoterikindustrie. Sie alle wollten und wollen mit „Aberglauben“ - den sie natürlich nicht so nennen - etwas verdienen!
Eine erhebliche Rolle spielt auch die Verbreitung durch Medien. Damit meine ich zunächst Hand- und Druckschriften, aus denen man „abergläubisches“ Wissen beziehen kann, von den kostbaren Grimoires des 18. Jahrhunderts bis zum unüberschaubaren Angebot in den Esoterikabteilungen heutiger Buchhandlungen. Zeitungen und Fernsehen, die leider meist unkritisch und affirmativ über „Esoterik“, magische Rituale und magie-medizinische Heilmethoden berichten, spielen eine weitere wichtige Rolle.
Salz war früher sehr teuer und es war schade darum, es zu verschütten. Hatten viele abergläubische Handlungen früher einmal einen objektiven Sinn bzw. Nutzen?
Salz nicht zu verstreuen ist zunächst einmal eine genauso vernünftige Anweisung wie Spiegel nicht zu zerbrechen, denn beides waren in der Vergangenheit teure Produkte. Allerdings gibt es auch recht unvernünftige magische Handlungsanweisungen. Das Rezept, Warzen mit einem gestohlenen Stück Speck zu bestreichen und diesen dann Hunden zum Fressen zu geben – ein Analogiezauber, wie der Speck sollen die damit verbundenen Warzen verschwinden – ist ja zunächst einmal eine Aufforderung zum Diebstahl und der wird strafrechtlich verfolgt. Und so manches magische Rezept ist zumindest, nun sagen wir einmal: etwas widerlich.
Woher kommt der Aberglaube, historisch gesehen?
Häufig gibt es eine historische Herleitung vieler „Aberglaubenshandlungen“, weil Anweisungen für magische Methoden über einen sehr langen Zeitraum vor allem durch schriftliche Medien übermittelt wurden. Ein Mittel gegen angezauberte Liebe (ist man gegen seinen Willen durch Liebe gefesselt, ziehe man Schuhe an, laufe darin so lange, bis die Füße schwitzen, dann ziehe man die Schuhe aus, gieße Wein und Bier hinein, trinke das, und mit der angezauberten Liebe hat es ein Ende) konnte ich von einem gelehrten Arzneibuch des 16. Jahrhunderts über verschiedene Hand- und Druckschriften bis in die Zauberbücher des 20. Jahrhunderts verfolgen.
Hinter vielen „abergläubischen“ Handlungen steht das Denksystem der Magie, also die Lehre von verborgenen Kräften im Kosmos, die der Mensch sich für seine Zwecke nutzbar machen kann. Dieses System wurde in der Antike entwickelt und in der Renaissance von den gebildeten Köpfen dieser Zeit wieder entdeckt und diskutiert, bevor es dann in häufig verkürzter und entstellter Form zur Basis vieler „Aberglaubens“-praktiken wurde.
Gibt es regionale Unterschiede, und wenn ja, welche?
Ja, es gibt Unterschiede. Innerhalb Deutschlands, innerhalb Europas und natürlich weltweit. Bei uns ist die 13 die Unglückszahl, in Italien ist es die 17 und in Shanghai die 4. Für alle diese Meinungen gibt es kulturelle Begründungen und Herleitungen.
Wir sind über die Aberglaubensvorstellungen in den einzelnen deutschen Regionen sehr gut durch ethnographische Umfrageprojekte informiert, etwa den „Atlas der deutschen Volkskunde“.
Außerdem spielen auch konfessionelle Unterschiede eine Rolle dabei, ob und wofür die Bewertungskategorie „Aberglauben“ zum Einsatz kommt. Was für einen süddeutschen Katholiken eine fromme Praxis ist, mag sich für einen norddeutschen Protestanten als purer „Aberglaube“ darstellen.
Sind durch die Internationalisierung in den vergangenen Jahren neue Formen des Aberglaubens bei uns in Erscheinung getreten?
Ja. Die Esoterikindustrie beutet für ihre Angebote schamlos und in kolonialistischer Manier die religiösen und kulturellen Traditionen anderer Völker aus.
Ein bisschen Aberglaube schadet doch nicht. Oder kann er auch gefährlich werden?
Vermutlich schadet ein bisschen „Aberglaube“ an der richtigen Stelle nicht, und man muß auch nicht unbedingt jede lieb gewonnene Alltagshandlung kritisch hinterfragen, auch wenn manche davon „abergläubisch“ ist. Ich stecke mir ja selbst immer im Herbst drei frisch gefundene, glänzende und handschmeichelnde Kastanien in die Hosentasche (angeblich ein Mittel gegen Gicht). Einen allzu tiefen Schaden dürften auch mitgeführte Glücksbringer nicht anrichten, vorausgesetzt, man verlässt sich etwa im Straßenverkehr und bei Klassenarbeiten nicht ausschließlich auf sie. Lieber an die Verkehrsregeln halten und fleißig lernen, sonst dürfte das trotz Glücksbringer schief gehen!
Schaden richtet „Aberglauben“ auf jeden Fall an, wenn man für die Angebote der magischen Dienstleister und der Esoterikindustrie Geld ausgibt. Keinen Cent für Scharlatane! Gefährlich, ja sogar lebensgefährlich kann „Aberglaube“ werden, wenn dadurch notwendige medizinische Eingriffe oder psychologische Interventionen unterbleiben.
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