(gwup) 02.07.2016
An die Redaktion von bild der wissenschaft
"Der Impf-Krieg": Sachliche Bestandsaufnahme tut not!
Sehr geehrter Herr Hess, mit der Impfung steht uns erstmals in der Geschichte der Menschheit ein wirksames Mittel gegen schwere Infektionen zur Verfügung, die in früheren Zeiten oft bleibende Schäden oder sogar den Tod mit sich brachten. Gleichwohl lässt sich in der Bevölkerung ein diffuses Misstrauen gegenüber Impfmaßnahmen feststellen. Aus Angst vor angeblich negativen Auswirkungen verzichten viele Eltern auf die Impfung ihrer Kinder. Doch damit erreichen sie das Gegenteil: Ohne es zu wollen, setzen sie Gesundheit und Leben nicht nur der eigenen Kinder auf Spiel.
Deshalb ist jede fundierte Aufklärung über die Vorteile und Risiken des Impfens zu begrüßen, wobei einem qualitativ wertvollen Wissenschaftsjournalismus eine bedeutende Rolle zukommt. Von einer renommierten Wissenschaftszeitschrift wie bild der wissenschaft erwarten Leserinnen und Leser zu Recht fundierte Informationen.
Mit dem Beitrag "Der Impf-Krieg" (bild der wissenschaft 6/2016, S. 60-65) von Bettina Gartner verspricht die Redaktion ihren Lesern "eine sachliche Bestandsaufnahme". Doch stattdessen bietet der Beitrag unfundierten und falschen Behauptungen ein Forum und trägt auf diese Weise dazu bei, die Impfangst in Deutschland zu schüren.
Wie es zur Veröffentlichung solch eines irreführenden Artikels kommen konnte, darüber lassen sich von unserer Seite lediglich Vermutungen anstellen. Eine bedeutende Rolle mag dabei ein unreflektiertes Bestreben nach journalistischer Ausgewogenheit gespielt haben.
Unstrittig ist hingegen, was der Leser von einer wissenschaftlich und journalistisch fundierten Berichterstattung zum Thema "Impf-Krieg" erwarten darf: Nämlich die Enttarnung von scheinbar wissenschaftlichen, in Wahrheit jedoch ideologisch motivierten Behauptungen. Andernfalls verkommt der Name bild der wissenschaft zur bloßen Makulatur.
Zu kritisieren sind hier vor allem die Äußerungen des Kinderarztes und Homöopathen Martin Hirte. Beispielsweise will er in seiner Praxis bei geimpften Kindern häufiger Erkrankungen festgestellt haben als bei ungeimpften. Was Hirte beobachtet haben will, mag Effekten der selektiven Informationssuche (Selective-Exposure) geschuldet sein: Er könnte also die Kinder mehr beachtet haben, die seine Grundüberzeugungen zu bestätigen scheinen, und sich besser an diese erinnern – ein in der psychologischen Forschung bestens bekanntes Prinzip, das die Unzuverlässigkeit der menschlichen Informationsverarbeitung und Erinnerung vor Augen führt. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist Hirtes Beobachtung aber nicht haltbar. Denn gerade junge Säuglinge profitieren in besonderem Maße vom Impfschutz. Mit gutem Grund erfolgen die ersten Impfungen gegen bestimmte Infektionen bereits im Alter von zwei Monaten. Dazu gehören Keuchhusten und Infektionen mit dem Bakterium Haemophilus influenzae, die bei Kindern unter drei Jahren zu einer schweren Hirnhautentzündung führen können.
Diese Erkrankungen nehmen bei jungen Säuglingen einen deutlich schwereren Verlauf als bei älteren Kindern. So bringt Keuchhusten nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) bei Kindern unter sechs Monaten in rund 25 Prozent der Fälle teils dramatische Komplikationen mit sich, darunter Lungenentzündung oder Atemstillstand. Im späteren Alter geht die Komplikationsquote auf zirka fünf Prozent zurück. Wie das RKI zeigt, bietet gerade die frühe Keuchhusten-Impfung einen bedeutenden Schutz für Säuglinge:
Bereits die erste Impfdosis im Alter von zwei Monaten kann die Wahrscheinlichkeit einer Krankenhauseinweisung aufgrund einer Keuchhustenerkrankung um etwa zwei Drittel senken. Durch die Wiederholungsimpfungen im Laufe des ersten Lebensjahres wird der Keuchhustenschutz komplettiert.
Auch Hirtes Einschätzung der Gefahr durch Aluminiumzusätze in Impfseren muss aus wissenschaftlicher Sicht kritisiert werden – gerade im Hinblick auf den Nutzen der meisten Impfungen. Verantwortungsvolle Eltern und Mediziner werden bei jeder einzelnen Impfung – wie auch bei anderen medizinischen Interventionen – Nutzen und Risiko abwägen. Für diese Situationen eine Entscheidungshilfe zu liefern, ist Anliegen einer ausgewogenen Berichterstattung im besten Sinn.
Mit den oft sehr feinen Unterschieden zwischen Wissenschaft und Parawissenschaft bzw. den als Wissenschaft getarnten ideologischen Behauptungen, wie denen von Herrn Hirte, beschäftigt sich die GWUP nun seit fast 30 Jahren. Es trifft uns daher besonders schmerzlich, wenn diese so entscheidenden Differenzierungen von einem so renommierten populärwissenschaftlichen Magazin wie bild der wissenschaft ignoriert werden. Die klare Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Belegen und ideologischen Scheinargumenten ist – zugegeben – eine zeitraubende und ressourcenintensive Aufgabe nicht nur im Redaktionsalltag. Wir gehen aber dennoch davon aus, dass die bdw-Redaktion diese Aufgabe künftig besonders sorgfältig wahrnimmt – insbesondere wenn es um das Leben und die Gesundheit zahlreicher Kinder geht und darum, die Verunsicherung der Eltern zu verringern statt durch wissenschaftlich unbelegte Panikmache noch zu verstärken.
Falls unser Schreiben dazu beiträgt, würde uns das sehr freuen. Wir wären Ihnen daher dankbar, unsere Intervention in diesem Sinne konstruktiv zu verstehen und stehen für Rückfragen und einen fruchtbaren wissenschaftlichen Dialog jederzeit gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Vorsitzender der GWUP
Im Namen des Wissenschaftsrats der GWUP:
Prof. Dr. Michael Bach, Lydia Benecke, Prof. Dr. Dr. Ulrich Berger, Prof. Dr. Peter Brugger, Prof. Dr. Edzard Ernst, Prof. Dr. Dittmar Graf, Dr. Natalie Grams, Prof. Dr. Wolfgang Hell, Prof. Dr. Dieter Herrmann, Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider, Prof. Dr. Johannes Köbberling, Prof. Dr. Walter Krämer, Prof. Dr. Peter Kröling, Prof. Dr. Martin Lambeck, Dr. Rainer Rosenzweig, Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer, Dr. Barbro Walker, Dr. Christian Weymayr, Dr. Rainer Wolf.
Zu diesem Offenen Brief erreichte uns am 15.07.2016 eine Antwort von Dr. Alexander Mäder, stellvertretender Chefredakteur von bild der wissenschaft, die wir im Folgenden wiedergeben.
Sehr geehrter Herr Sarma, sehr geehrter Wissenschaftsrat der GWUP,
in einem offenen Brief haben Sie unseren Beitrag „Der Impf-Krieg“ in bild der wissenschaft 6/2016 kritisiert. Darauf möchte ich antworten. Da der Artikel – wie alle Artikel des gedruckten Magazins – nicht online erscheint und inzwischen die nächste Ausgabe am Kiosk liegt, erlaube ich mir, auf einige Punkte hinzuweisen, die in dem Artikel enthalten sind:
- Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission werden erläutert und auch in einer Tabelle dargestellt. Am Ende des Artikels wird auf die Website www.impfen-info.de/impfempfehlungen verwiesen, ein Angebot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
- Mit Zahlen des Robert-Koch-Instituts wird die Wirksamkeit der Impfungen charakterisiert.
- Es wird ausführlich erläutert, warum eine hohe Impfquote angestrebt wird und warum sie auch dann aufrecht erhalten werden sollte, wenn eine Infektionskrankheit in Deutschland nicht mehr auftritt.
- Es wird festgehalten, dass Komplikationen nach Impfungen nur selten ursächlich auf die Impfung zurückgeführt werden können.
- Die schweren Komplikationen der vermeintlichen Kinderkrankheiten werden dargestellt. In Ihrem Brief schreiben Sie: "So bringt Keuchhusten nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) bei Kindern unter sechs Monaten in rund 25 Prozent der Fälle teils dramatische Komplikationen mit sich, darunter Lungenentzündung oder Atemstillstand." In unserem Beitrag heißt es: "Keuchhusten kann für Säuglinge vor allem in den ersten drei Lebensmonaten und für chronisch kranke Kinder lebensbedrohend werden, da es dabei zu Symptomen wie Atemstillstand und einer schweren Lungenentzündung kommen kann."
- Nach der Aussage von Martin Hirte, dass durch Impfungen der Grenzwert für die Aufnahme von Aluminium überschritten würde, wird das Paul-Ehrlich-Institut zitiert. Dort steht, dass die Impfstoffe in den Muskel und nicht ins Blut gespritzt werden, Aluminiumverbindungen zudem schwer löslich sind und deshalb zu keinem Zeitpunkt das gesamte Aluminium gleichzeitig im Blut verfügbar ist.
Nun zu Ihrer Kritik. Sie tadeln vor allem unseren Umgang mit zwei Aussagen von Martin Hirte, die klarer hätten eingeordnet werden sollen. Die beiden Passagen im Text sind tatsächlich unglücklich.
- An einer Stelle wird Martin Hirte zitiert, dass er in seiner Praxis bei geimpften Kindern mehr Krankheiten wie zum Beispiel fieberhafte Infekte beobachte. Er erklärt sich das damit, dass das Immunsystem geimpfter Kinder mit diesen "normalen" Kinderkrankheiten weniger effizient umgehe. Doch bei seiner Beobachtung handelt es sich um eine „anekdotische Evidenz“ mit geringer Beweiskraft. Das hätte in dem Artikel auch so eingeordnet werden müssen.
- Im weiteren Verlauf des Artikels rechnet Martin Hirte vor, dass bei Säuglingen der Grenzwert für die Aufnahme von Aluminium deutlich überschritten werde. Danach wird zwar eine Erwiderung des Paul-Ehrlich-Instituts zitiert (s.o.), doch die Rechnung lässt sich nicht ohne weiteres nachvollziehen. Zudem decken sich die genannten Zahlen nicht mit denen der deutschen Behörden, ohne dass diese Diskrepanz thematisiert würde. Diese inhaltliche Lücke werden wir in der nächsten erreichbaren Ausgabe mit einem Beitrag über die Aluminium-Debatte schließen.
In der Diskussion des offenen Briefs auf Facebook ist auch der Titel des Beitrags kritisiert worden: Es gebe in der Wissenschaft keine Diskussion – und schon gar keinen Krieg – über das Impfen. Der Titel drücke damit eine skeptische bis ablehnende Haltung zum Impfen aus. Aus meiner Sicht sollte sich der Titel auf die teils hitzige öffentliche Debatte beziehen. Doch das scheint leider nicht eindeutig zu sein und lädt zu anderen Interpretationen ein.
Ich danke der GWUP für ihre konstruktive Kritik.
Leinfelden, 15.7.2016
Alexander Mäder
Stv. Chefredakteur bild der wissenschaft