Blutspuren auf dem Turiner Grabtuch
Ein neuer Artikel und eine kritische Analyse
Luigi Garlaschelli
Ein neuer Artikel und eine kritische Analyse
Luigi Garlaschelli
Abb. 1: Vorderseite des Turiner Grabtuchs (Foto: Giuseppe Enrie – Wikimedia Commons). Die dunklen Streifen und Löcher an der Seite wurden durch ein Feuer im Jahr 1532 verursacht, wobei die Löcher mit dreieckigen Stoffflicken übernäht wurden. Die Lanzenwunde (s. Abb. 2, in der sie aufrecht zu sehen ist) ist durch einen Pfeil (Anmerkung des Übersetzers) hervorgehoben. Bearbeitung: Philippe Leick
Am 19. Juli 2024 erschien ein Artikel1 von Giulio Fanti, außerordentlicher Professor an der Fakultät für Wirtschaftsingenieurwesen der Universität Padua, in dem er seine neueste Analyse der (echten oder vermuteten) Blutspuren auf dem Turiner Grabtuch vorstellt. Die folgenden Informationen sollen zu einer Einordnung seiner Argumentation beitragen. in der Zeitschrift Archives of Hematology Case Report and Review des Verlags Peertechz veröffentlicht wurde. (Anmerkung des Übersetzers: Angesichts der Einreichung des Artikels am 10.07.2024, seiner Annahme am 18.07. und seiner Veröffentlichung nur einen Tag später ist offensichtlich, dass kein ernsthaftes Peer Review stattgefunden hat.) Peertechz steht seit jeher auf der berüchtigten Liste2 der sogenannten predatory journals („Raubjournale“), die eingereichte Arbeiten ohne ein angemessenes kritisches Prüfverfahren gegen Bezahlung veröffentlichen. Siehe zu diesem Thema auch den Beitrag auf S. 34 – 38 in dieser Ausgabe und einige aktuelle Artikel der italienischen Skeptikerorganisation CICAP3.
Über die Frage der Blutflecken auf dem Grabtuch wurde bereits viel diskutiert. Auf der einen Seite stehen die „Sindonologen“ (von griech. sindon, Leichentuch), die davon überzeugt sind, dass es sich tatsächlich um Blut handelt, und auf der anderen Seite die Kritiker, denen diese Behauptung kaum glaubwürdig erscheint4. Erstens sind die angeblichen Spuren von herabgelaufenem Blut – am Kopf, an den Händen, an den Füßen, an der Seite – morphologisch unrealistisch. Außerdem ist ihre Farbe – nach 700 oder sogar 2000 Jahren – leuchtend rot-rosa, während echtes Blut nach kurzer Zeit dunkel wird, bis es fast schwarz erscheint.
Dabei versteht sich von selbst, dass es unerheblich ist, ob die angeblichen Blutflecken Farbe, echtes Blut oder beides enthalten, wenn man davon ausgeht, dass es sich bei dem Grabtuch um ein Artefakt handelt. Ein Fälscher könnte zunächst Blut verwendet und später das Tuch mit Farbe retuschiert haben, aber das könnte auch geschehen sein, wenn das Grabtuch echt wäre. Nur die Bestätigung, dass es keine Spuren von echtem Blut gibt, sondern ausschließlich Farbe, wäre ein starkes Indiz für eine Fälschung.
Die ersten Analysen der von Kardinal Michele Pellegrino 1976 eingesetzten Kommission, die sich auf „neutrale“ Gerichtsmediziner stützte, ergaben weder Hinweise auf Blut noch auf rote Blutkörperchen oder andere für Blut typische Teilchen; stattdessen wurden Partikel einer färbenden Substanz entdeckt.5 1980 fand der berühmte Mikroskopiker Walter McCrone Spuren von Ocker, Zinnober (Quecksilbersulfid, ein im Mittelalter weit verbreitetes rotes Pigment) und Alizarin (ein rot-rosa Pflanzenpigment) auf den Bändern, die ihm von der STuRP-Kommission (Shroud of Turin Research Project) zur Verfügung gestellt wurden. Er berichtete auch über das Vorhandensein eines Bindemittels für Pigmentpartikel auf Protein-Basis, bei dem es sich seiner Meinung nach um Kollagen (Gelatine) oder Eiklar handeln könnte.
Im Gegensatz dazu behaupteten John H. Heller und Alan D. Adler – beide keine Experten für forensische Analysen und die einzigen Chemiker, die diese Mikroanalysen innerhalb der StuRP-Gruppe durchführten – sie hätten das Vorhandensein von Blut festgestellt, indem sie auf einer mittels Klebeband entnommenen Probe Reaktionen zeigten, die typisch für Porphyrine sind, einer Molekülfamilie, zu der essentielle Bausteine von Hämoglobin und seinen Derivaten gehören. Allerdings wurde das Band von ihnen ruiniert und es wurden keine Kontrolltests mit anderen Proben durchgeführt.
McCrones Schlussfolgerungen wurden heftig angefochten. So wurde entgegnet, er habe sich geirrt in der Annahme, das Grabtuch sei mit Ocker bemalt worden. Die Eisenspuren stammten vom Hämoglobin im Blut oder von Rückständen der Behandlung der Leinenfasern vor dem Spinnen, auch seien Ocker und andere Farbpigmente das Ergebnis späterer Verunreinigungen: zum Beispiel von Partikeln, die sich von umliegenden Fresken abgelöst hatten oder die bei der Herstellung von Kopien auf das Grabtuch gelangt seien.
Einige der Forschungsergebnisse McCrones wurden jedoch später auf einer Konferenz von Sindonologen bestätigt. Im Jahr 2008 wurden nämlich Raman-Spektroskopie-Analysen an dem Staub durchgeführt, den der Mikroanalytiker Giovanni Riggi di Numana während der (STuRP)-Analysen im Jahr 1978 mit einem speziellen Sauger zwischen dem Grabtuch und einem 1532 auf der Rückseite angebrachten Stützgewebe gesammelt hatte. Auf den Filtern wurde das Vorhandensein einer großen Menge von Eisenoxidpartikeln in verschiedenen Hydratationsgraden (Ocker) sowie von Zinnober, Alizarin und anderen, in der Malerei verwendeten Pigmenten6, bestätigt – sowie einige sehr schwache Signale eines einzigen Partikels erkannt, die dem Hämoglobin zugeschrieben wurden.
In seiner Arbeit untersucht Fanti verschiedene Fotografien des Grabtuchs, vier Klebebandstreifen von einem Millimeter Breite, die von den 1978 von STuRP verwendeten Bändern abgeschnitten wurden, Staub von den oben erwähnten Staubsaugerfiltern und Leinenfasern (mit einem Gewicht zwischen einem und drei Milligramm), die ebenfalls von einem Staubsaugerfilter stammen. Die von ihm verwendeten Instrumente sind ein optisches Polarisationsmikroskop im Durchlicht, Auflicht sowie im UV bis zu einer 1500-fachen Vergrößerung sowie ein Elektronenmikroskop. Die Analysen der Partikelzusammensetzung wurden mit der EDX-Technik („Energy Dispersion X-Ray Spectroscopy“, Energiedispersions-Röntgenspektroskopie) und der Raman-Spektroskopie durchgeführt.
Für einen Laien ist es nicht einfach, sich durch solche spezialisierten Untersuchungen, Hypothesen, persönlichen Meinungen und allgemeine Aussagen zu navigieren. Der Autor dankt fünf oder sechs Experten für ihre Hilfe.
Ein solcher Versuch wurde auf dem Blog7 von Hugh Farey unternommen. Farey ist Lehrer sowie ehemaliger Chefredakteur des Magazins der British Society for the Turin Shroud und wurde später zu einem der überzeugtesten Anhänger der Hypothese, derzufolge das berühmte Tuch eine Fälschung sei. Auf Fareys Einwände antwortete Fanti umgehend.
Betrachten wir im Folgenden einige Punkte, die einen Kommentar wert sind.
Abb. 2: Abb. 3 aus Fanti (2024, CC BY 4.0, unverändert) ‒ im Foto (links) aus dem Bereich der Lanzenwunde ist eine Reihe von Punkten markiert und entsprechend ihres Farbtons in einem Diagramm (rechts) eingetragen, auf dessen Achsen die Farbkoordinaten abgelesen werden können. Fanti erkennt drei Farbgruppen, sein Kritiker Farey hält die Trennung von Gelb und Blau für willkürlich.
Abb. 3: Abb. 10 aus Fanti (2024, CC BY 4.0, unverändert) – „runde, scheibenförmige“ Partikel von den auf Klebeband gesicherten Proben, die „donutartige“ Form des hervorgehobenen Partikels soll Fanti zufolge an die Form von roten Blutkörperchen erinnern, obwohl letztere mit einem Durchmesser um 7,5 μm deutlich größer sind; die gefundenen Elemente sind Fanti zufolge „kompatibel“ mit denen von Blut. Anders als von Fanti behauptet, ist in der Analyse allerdings kein Stickstoff zu erkennen (rechts), obwohl Stickstoff zu den wesentlichen Elementen roter Blutkörperchen zählt.
Anhand von Farbfotografien wählt Fanti Punkte aus dem großen Blutfleck an der Seite aus, andere in weniger farbigen Bereichen des Flecks selbst und wieder andere weit davon entfernt. Mit einem geeigneten Grafikprogramm versucht er, die Punkte mit der gleichen Farbe zu identifizieren und erhält so ein Diagramm mit den farblichen Koordinaten der Punkte, die grob in zwei Gruppen eingeteilt sind: die farbigen und die nicht farbigen Punkte (Abb. 2 bzw. Abb. 3 bei Fanti). Doch dann teilt der Autor die Gruppe der weniger farbigen Punkte willkürlich in zwei Teile auf und erklärt, dass einige der in den weniger farbigen Bereichen der „Seitenwunde“ gefundenen Punkte anders aussehen und dem Blutserum eines Lungenödems entsprächen: vielleicht das, was das Evangelium erwähnt, wenn es heißt, dass „Blut und Wasser“ aus der Wunde kamen.
Die Substanz scheint Fanti zufolge derjenigen zu ähneln, die von anderen (nicht genannten) Gelehrten auf dem Tuch von Oviedo gefunden wurde, einem kleinen Tuch, das in Spanien mehrfach untersucht wurde und das auf das Gesicht des toten Christus gelegt worden sein soll. Bedauerlicherweise wurde diese angebliche Reliquie viermal mit der 14C-Methode datiert, wobei die Ergebnisse auf eine Entstehungszeit im 7. Jahrhundert nach der Zeitenwende hinweisen.
In seinem oben erwähnten Blog untersucht Hugh Farey die gleichen Bilder mit dem Grafikprogramm Photoshop. Wenn man die farbmetrischen Koordinaten bestimmt und entsprechende Bereiche durch das Programm in Rot, Gelb und Blau darstellen lässt, kann man sehen, dass die roten Flecken denen entsprechen, die als „Blut“ sichtbar sind, dass die gelben Flecken großen Bereichen der Leinwand entsprechen und dass die blauen Flecken ebenfalls großen Bereichen des Hintergrundes entsprechen, nur in einem etwas anderen Farbton, und nicht charakteristisch für das angebliche „Serum“ sind.
In seiner Antwort auf Fareys Beitrag, die umgehend im Blog erschien, erklärt Fanti, dass die Kritik akzeptabel wäre, wenn man Fareys Methode mit geringer Empfindlichkeit anwenden würde, aber sicher nicht für die hochempfindliche Methode seines Mitarbeiters Christian Privitera. Aber dies, so fügt er hinzu, sei nur eine vorläufige Studie, die noch nicht veröffentlicht wurde.
Fanti unterscheidet drei Arten von Partikeln, die kleiner als ein Mikrometer sind und die er je nach Größe als „Blut A, B und C“ bezeichnet. Am Rande erwähnt er „verschiedene Partikel von rotem Ocker und Zinnober, die mit Blut vermischt sind, was wahrscheinlich auf eine Verunreinigung des Grabtuchs durch Kopien zurückzuführen ist, die mit ihm in Berührung kamen“. Das ist eine Erklärung, die man immer wieder hört, ebenso wie die, dass das Eisen von Hämoglobin stammen könnte, von dem Wasser, mit dem das Leinen nach der Ernte eingeweicht wurde, von Fragmenten von Fresken, die auf das Grabtuch gefallen sind, und dergleichen mehr.
Angesichts der Tatsache, dass unter dem Grabtuch, zwischen Tuch und dem Verstärkungsstoff auf der Rückseite, fast nur Spuren von Ocker gefunden wurden (siehe Endnote 6), ist unklar, wie wahrscheinlich diese Hypothese ist.
Fanti identifiziert einige dieser Partikel als rote Blutkörperchen, die niemand vor ihm als solche erkannt habe, weil sie von 7 Mikrometer auf 0,7 Mikrometer geschrumpft seien. Dieses Phänomen sei darauf zurückzuführen, dass das Blut Christi aufgrund des Leidens während des Passionswegs eine große Menge an Harnstoff in das Serum abgegeben habe. Die roten Blutkörperchen, die in diese konzentrierte Lösung eingetaucht waren, wären durch das Phänomen der Osmose zusammengeschrumpft.
Fanti berichtet auch über ein von ihm durchgeführtes Experiment: Er legte rote Blutkörperchen in eine gesättigte Harnstofflösung und beobachtete, dass sie auf einen Durchmesser von weniger als einem Mikrometer schrumpften. Schade, dass eine gesättigte Harnstofflösung die absurde Menge von 545 Gramm pro Liter enthalten muss!
Es erscheint viel logischer, dass es sich bei diesen Teilchen um diejenigen handelt, die bereits von der Pellegrino-Kommission beobachtet wurden (siehe Endnote 5): Deren Experten sahen „rundliche oder ovale Teilchen […] von 0,5 ‒ 0,7 Mikrometer“, die „aufgrund ihrer Merkmale mit Sicherheit als bakterielle Sporen identifiziert werden können“.
Fanti erwähnt erneut den Nachweis von Ferritin und Kreatinin, die angeblich typisch für das Blut von Menschen seien, die ein schweres Trauma erlitten haben. Dabei bezieht er sich auf eine eigene Arbeit aus dem Jahr 2017, die jedoch nach der Veröffentlichung (wenn auch ohne Fantis Einverständnis) zurückgezogen wurde.8
Es gibt noch weitere Unklarheiten. Fanti gibt an, dass das Spektrum eines Teilchens der „Blut A“-Gruppe (Abb. 3 bzw. Abb. 10 der Veröffentlichung) Anzeichen für die Elemente Kohlenstoff (C), Sauerstoff (O), Eisen (Fe), Kalzium (Ca), Chlor (Cl), Stickstoff (N), Kalium (K) und Phosphor (P) zeige.
Tatsächlich zeigt das Spektrum Anzeichen für C, O, Fe, Natrium (Na), Cl, Ca, möglicherweise K sowie Gold (Au) und Silizium (Si), wobei letztere aus der Probenvorbereitung für das Elektronenmikroskop stammen. Stickstoff, Phosphor, Zink, Magnesium und Schwefel erscheinen wider Erwarten nicht. Andere Partikel des mutmaßlichen Blutes (Abb. 19 des Papers) zeigen Anzeichen für C, O, Mg, Al, Si, Cl, K, Ca und Fe. Auch hier kein Stickstoff, kein Phosphor, Zink oder Schwefel.
In seiner Antwort auf Fareys Bemerkungen in dem oben erwähnten Blog verweist Fanti auf seine eigene, in einer anderen Zeitschrift veröffentlichte Arbeit9, in der er erklärt, dass Schwefel, Magnesium und Zink bei dieser Art von Analyse manchmal nicht erscheinen. Viel wichtiger aber: Laut dieser Arbeit fehlt der Stickstoff, weil … er während der Auferstehung von einem Neutronenstrom getroffen wurde, der ihn in Kohlenstoff-14 umwandelte und damit auch die Radiodatierung verfälschte! Nur warum behauptet Fanti dann in seinem Paper, dass Stickstoff und Phosphor vorhanden seien?
Jede Anomalie wird dann mit einer wundersamen Erklärung aufgelöst, die als zusätzlichen Bonus auch die Untersuchung der Physik der Auferstehung ermöglicht. Hier sind einige weitere Beispiele:
Fanti findet einige scheibenförmige Partikel, die er aufgrund der darin enthaltenen Elemente als rote Blutkörperchen identifiziert, die aufeinander gestapelt seien. Ein Zufall? Nein, natürlich nicht: Da er (s. u.) auch entdeckt, dass einige Fasern Betastrahlung aussenden, sind die Blutkörperchen elektrisch geladen. Wenn sie also in ein äußeres elektrisches Feld gelangen (ein sehr starkes elektrisches Feld ist seine Hypothese zur Entstehung des Leichentuchbildes durch den „Koronaeffekt“), erklärt dies, warum sie sich auf diese Weise ausrichten.
Ein weiteres Beispiel: Fanti erkennt etwas außerhalb vom Rückenbereich des Körperbildes einige Blutspuren – eine Geißelspur im Bereich der rechten Schulter und noch eine in der Nähe des Knies. Ein Versehen des angeblichen Malers? Oder war das Bild vielleicht schon vorher da und ist mit der Zeit an den Rändern verblasst? Nein, die Erklärung wäre, dass der blutige Abdruck gar nicht ausschließlich, wie man annehmen sollte, durch direkten Kontakt mit der Leinwand entstanden sei, die der Krümmung des Körpers folgte. Das Bild des Körpers soll auch durch ein vertikales elektrisches Feld erzeugt worden sein, dessen Intensität an den Seiten des Körpers abnahm und deswegen dort keine starke Färbung hinterließ, während der Kontakt zwischen Haut und Stoff zur Bildung von Blutflecken führte.
Weiter vermutet Fanti, dass der Neutronenstrom, der den 14C-Gehalt des Tuches verfälscht haben soll, auch die Farbe der Blutflecken verändert haben könnte. Warum er dann aber eine Verfärbung der Leinwand nicht auch in Betracht zieht, bleibt sein Geheimnis.
In früheren Arbeiten erklärte Fanti das unrealistische Aussehen der Blutspuren auf den Haaren folgendermaßen: Die Blutspuren befanden sich auf dem Gesicht und hinterließen einen Abdruck durch Berührung, als ein Tuch darüber gelegt wurde. Dann löste sich der Körper in Nichts auf und das Tuch sackte ab und breitete sich aus, während der Abdruck entstand, sodass die Blutspuren auf den Haaren landeten.10
Und wieder: Fanti will jede mögliche Art von Strahlung gemessen haben, die von den ihm zur Verfügung stehenden Fasern ausgehen soll, wie z. B. Alphastrahlen (Heliumkerne, mit zwei positiven Ladungen), Betastrahlen (Elektronen, mit einer negativen Ladung), Gammastrahlen (elektromagnetische Strahlung ähnlich der Röntgenstrahlung) und Neutronen. Überraschenderweise stellt Fanti fest, dass die Blutpartikel Betastrahlung einer Intensität aussenden, die um viele Größenordnungen höher ist als die des üblichen Strahlungshintergrundes. Da es sich hierbei offenbar um eine neue Analyse handelt, die zudem an Partikeln durchgeführt wurde, die nur wenige Mikrogramm wiegen und in einem Klebestreifen eingebettet sind, der auf einem Objektträger angebracht ist, bleibt aber selbst Fanti eher zurückhaltend, wenn es darum geht, sich zu dieser „Tatsache“ zu äußern.
Schließlich gibt es in dem Werk noch allerlei andere Überlegungen: zum Staub, der auf dem Tuch gefunden wurde und der dem in Jerusalem ähnlich sein soll, zu den Ursachen des Todes Christi, zur Form und Richtung der Spuren von herabgeflossenem Blut, zur Fluoreszenz des Blutes und sogar zu den Texten der Seherin Maria Valtorta, die Fanti auch in seinen anderen Texten zitiert.11
Ein Gastzitat von Philippe Leick
Das Turiner Grabtuch wurde im Jahr 1988 mit Hilfe der Radiokarbonmethode von drei unabhängig voneinander arbeitenden renommierten Laboren auf eine Entstehung zwischen den Jahren 1260 und 1390 n. Chr. datiert. Es wäre damit viel zu jung, als dass es als Grabtuch den Leichnam Christi nach der Kreuzigung und während der Auferstehung umwickelt haben könnte. Gemeinsam mit der Tatsache, dass die früheste gesicherte Erwähnung des Turiner Grabtuchs aus dem 14. Jahrhundert stammt, ist die Datierung ein starkes Indiz für eine „mittelalterliche Fälschung“ (siehe auch Skeptiker 2/2000, S. 76 – 85).
In der wissenschaftlichen Gemeinschaft wird die Altersbestimmung des Grabtuchs weitestgehend anerkannt. Das hindert aber eine Vielzahl mehr oder weniger prominenter Gelehrter nicht daran, aus dem allgemeinen Konsens auszuscheren und mit unterschiedlichsten – teils spekulativen, teils fantastischen – Argumenten die Datierung auf das späte Mittelalter in Frage zu stellen und für eine Entstehung um die Zeit Christi einzutreten.
Einer der häufigsten Kritikpunkte: Eine spätere Verunreinigung – durch Feuer oder Hitze, durch Ungeziefer oder Mikroorganismen – könnte das Tuch mit „frischem“ Kohlenstoff-14 (14C) angereichert und die Altersbestimmung verfälscht haben. Doch wie Holm Hümmler in seinem Buch Faktenimmun (Hirzel, 2024; S. 174) vorrechnet, ist diese These wenig plausibel: Damit bei der Datierung einer echten, 2000 Jahre alten Reliquie Werte gemessen würden wie bei einem 700 Jahre alten mittelalterlichen Artefakt, müsste das Tuch viermal so viel Verunreinigung wie ursprüngliches Material enthalten!
Kontamination ist immerhin ein reales Problem, das Radiokarbon-Datierungen verfälschen kann. Entsprechend intensiv wird diese Möglichkeit in der wissenschaftlichen Literatur diskutiert. Geradezu fantastisch (oder amüsant) dagegen ist die Idee, ein intensiver Neutronenstrom könnte die Zusammensetzung der Elemente und Isotope im Turiner Grabtuch verändert und die Datierung verfälscht haben. Sie wurde erstmals 1989 von T. J. Phillips in einem Leserbrief an die Fachzeitschrift Nature, in der die Ergebnisse der Datierung veröffentlicht worden waren, ausformuliert. Auch Giulio Fanti scheint ein Anhänger dieser Hypothese zu sein, fügt ihr jedoch noch eine weitere aberwitzige Finesse hinzu.
Phillips zufolge erinnert das Bild auf dem Tuch an Brandspuren. Es müsste also während der Auferstehung zu einem intensiven Strahlungsblitz gekommen sein, an dem vielleicht auch ein starker Neutronenstrom beteiligt war. Freilich könnte man eine derart unplausible Idee ohne weitere Diskussion verwerfen – aber nur, wenn man sich auf die Möglichkeit nicht einlassen möchte, dass das Turiner Grabtuch trotz aller gegenteiliger Evidenz „echt“ sein muss. Ansonsten lohnt es sich, die philosophischen Implikationen einer „Physik des Übernatürlichen“ beiseite zu legen und den Gedanken zu Ende zu führen.
14C ist ein äußerst seltenes, radioaktives Isotop, das in der oberen Atmosphäre durch kosmische Strahlung erzeugt wird. Der Zusammenstoß eines Neutrons mit einem Stickstoff-Atom (N), bei dem das Neutron im Kern „stecken bleibt“ und ein Proton herauswirft, ist dabei der wichtigste Mechanismus. Über die Photosynthese bzw. die Nahrung nehmen Lebewesen 14C auf, das mit einer Halbwertszeit von 5730 Jahren zerfällt; nach ihrem Tod wird der 14C-Vorrat nicht mehr aufgefrischt, und aus dem verbliebenen Anteil lässt sich das Alter des Fundes bestimmen.
Könnte ein intensiver Strom thermischer Neutronen einen Teil des Stickstoffs im Tuch in 14C umgewandelt haben und es auf diese Weise jünger aussehen lassen, als es tatsächlich ist?
Die natürliche Häufigkeit des 14C ist äußerst gering – etwa 1 C-Atom pro 1000 Milliarden – daher müsste auch nur ein äußerst geringer Bruchteil des Stickstoffs umgewandelt worden sein, um die Altersbestimmung um ca. 1300 Jahre zu verfälschen. Die Zusammensetzung der häufigen Isotope wäre nicht messbar verändert, nur seltene und ausreichend stabile Isotope wie Chlor-36 könnten gehäuft vorkommen – es würde entstehen, wenn das „gewöhnliche“ Chlor-35 ein Neutron absorbiert. Eine entsprechende Untersuchung hat allerdings (aus gutem Grund) nie stattgefunden, und die Abwesenheit von 36Cl würde aller Erfahrung nach nicht als Falsifikation anerkannt werden, da Pflanzen zwar Spuren von Chlor enthalten, es aber wasserlösliche Salze bildet, die leicht aus dem Tuch gewaschen worden sein könnten.
Es lässt sich noch anmerken, dass der Neutronenstrom in Phillips’ Hypothese zwar nur einen sehr geringen Anteil des Stickstoffs umwandeln müsste, aber dennoch so intensiv wäre, dass die Strahlendosis für jedes Lebewesen unmittelbar tödlich wäre.
Fanti hebt Phillips’ Idee jedoch auf die nächste Stufe: Der Neutronenstrom hätte nicht nur die Altersbestimmung verfälscht, sondern auch den Stickstoff, der in seinen (vermeintlichen) Blutproben vorkommen sollte, fast vollständig in 14C umgewandelt!
This study therefore found confirmation of the hypothesis of neutron irradiation which altered the isotopic percentage of the carbon atoms of the linen present in the Relic, reporting that, unlike common human blood which contains nitrogen (percentages by weight of the order of 10%), the blood nitrogen level of the [Holy Shroud of Turin] is lower than the background noise of the instrument (about 1%).
Ob sich Fanti der Implikationen bewusst ist? Auf Details geht er nicht ein, doch Folgendes lässt sich leicht berechnen:
Die letzten drei Punkte sind offensichtlich durch die Erfahrung widerlegt. Falls es einer Erwähnung bedarf: Im Zuge der Radiokarbon-Datierung wurde auch das Verhältnis der stabilen Kohlenstoff-Isotope 13C und 12C bestimmt – das Ergebnis entsprach der Erwartung für Flachs, die Pflanze, aus der das Leinen des Tuchs hergestellt wurde.
Dass Stickstoff aus dem Turiner Grabtuch durch einen intensiven Neutronenblitz entfernt worden sein könnte, sollte also selbst für all diejenigen eine aberwitzige Idee sein, die keine Sekunde an der Echtheit des Tuches und der biblischen Auferstehungsgeschichte zweifeln! Jedem kompetenten Gutachter wäre dies selbstverständlich auch aufgefallen – entsprechend hätte der Gedanke nie ohne massive Vorbehalte in einer ernsthaften wissenschaftlichen Zeitschrift geäußert werden können!
Philippe Leick