Religion
Religion selbst ist kein Thema für die GWUP. Religiöse Aussagen über Moral, Ethik und Tradition haben nichts mit Naturwissenschaft zu tun und können daher mit naturwissenschaftlichen Methoden weder bestätigt noch widerlegt werden. Religiös motivierter Wunderglaube allerdings ist für Skeptiker sehr wohl eine genauere Betrachtung wert – von blutenden Madonnenstatuen bis zum wundertätigen Wasser, das Krankheiten von Pilgern heilen soll.

Neuartige Datierungsmethode wirft Fragen auf

Stephan Matthiesen

Die Probe des Turiner Grabtuches, die durch Radiokarbondatierung (C14-Methode) auf zwischen 1260 und 1390 datiert wurden, sei an einer im Mittelalter ausgebesserten Stelle entnommen worden, und das Tuch sei nach „vorläufigen Schätzungen“ tatsächlich zwischen 1300 und 3000 Jahre alt. Zu diesem Schluss kommt der Chemiker Raymond N. Rogers in einem Artikel in der chemischen Fachzeitschrift Thermochimica Acta mit Hilfe einer von ihm entwickelten Datierungsmethode, zu der bisher jedoch keine unabhängige Validierung vorliegt. Rogers, der früher am Los Alamos National Laboratory arbeitete, hatte verschiedene Proben zur Verfügung. 2003 erhielt er Fäden aus der Probe, die 1988 zur Radiokarbondatierung verwendet wurde. Weiterhin lagen 14 Fäden vor, die 1973 von Gilbert Raes entnommen worden waren und aus einem Bereich neben der Radiokarbon-Probe stammten. Rogers selbst hatte 1978 im Rahmen des Shroud of Turin Research Projects (STURP) mit Klebebändern 32 Oberflächenproben entnommen, sowohl an unversehrt scheinenden Stellen als auch an den 1534 nach einem Feuer ausgebesserten Stellen (dem so genannten Holland-Leinen).

Rogers‘ Überlegungen zu einer Neudatierung beruhen auf dem chemischen Zerfall des Vanillins, das aus dem im Flachs enthaltenen Lignin entsteht. Vanillin zerfällt unter Temperatureinwirkung, sodass die Konzentration des Vanillins mit der Zeit abnimmt. Daher kann der Vanillingehalt einen Hinweis auf das Alter geben. Dieses Prinzip ist aus anderen Datierungsverfahren mit anderen langsam ablaufenden chemischen Umwandlungen gut bekannt, doch wurde bisher der Lignin-Vanillin-Zerfall nicht als Datierungsmethode genutzt. Um die Methode zu testen, untersuchte Rogers einige Kontrollproben, die sich wie erwartet verhielten: Im mittelalterlichen Holland-Leinen war Vanillin noch nachweisbar, Proben aus biblischer Zeit (Leinen aus dem Befundzusammenhang der Schriftrollen vom Toten Meer) enthielten jedoch kein Vanillin. Dass die Radiokarbondatierung nicht das tatsächliche Alter des Tuches wiedergibt, folgert Rogers aus der Tatsache, dass die Radiokarbon-Probe und die angrenzende Raes-Probe noch Vanillin enthielten, während in den übrigen Proben des Grabtuches kein Vanillin nachweisbar war. Demnach wäre das Radiokarbonalter zwar korrekt, aber die gemessene Probe nicht repräsentativ für den Rest des Tuches, wie der unterschiedliche Vanillin-Zerfall zeigt. Nach weitere Analysen der Fasern und der Farbbeschichtung meint Rogers, „die Farbe und die Verteilung der Farbschicht impliziert, dass zu einem unbekannten Zeitpunkt Reparaturen ausgefrführt wurden mit Leinen, das gefärbt wurde, um zum Farbton des älteren Materials zu passen.“ Diese vermutete Reparatur dürfte irgendwann vor der bekannten Reparatur von 1534 durchgeführt worden sein, wohl – nach den Ergebnissen der Radiokarbondatierung – zwischen 1260 und 1390.

Wie alt ist nun das Tuch? Dass im übrigen Teil des Tuches kein Vanillin nachweisbar ist, sieht Rogers als Hinweis auf ein hohes Alter. Analog zu vielen bekannten chemischen Datierungsmethoden lässt sich ein thermodynamisches Zerfallsmodell aufstellen, mit dem bei bekannter Umgebungstemperatur die Zerfallsrate bestimmt wird und damit umgekehrt bei bekanntem Vanillingehalt das Alter. Bei einer konstanten Temperatur von 25 Grad C wäre nach 1300 Jahren der Vanillingehalt unter die Nachweisgrenze gefallen, bei 20 Grad hingegen erst nach über 3000 Jahren. Das Problem dieses Modells ist jedoch die Umgebungstemperatur, die kaum bekannt ist. Vor allem: Da sich kurze Zeiten mit hoher Temperatur viel stärker auf den Zerfall auswirken als lange Zeiten mit geringer Temperatur, kann das Ergebnis sehr stark verfälscht werden, wenn das Tuch (oder die Proben nach ihrer Entnahme) kurzzeitig höheren Temperaturen ausgesetzt wurden. Aufgrund dieser Unsicherheiten bezeichnet Rogers das Ergebnis im Abstract der Publikation als „vorläufige Schätzung („preliminary estimates“). Dass die mehrfach belegten Brände das Ergebnis verfälschten, hält Rogers nicht für wahrscheinlich, da dann verschiedene Bereiche des Tuches unterschiedlich betroffen sein müssten: Das gefaltete Tuch ist nur am Rande verkohlt, im Inneren unversehrt. Andererseits ergeben jedoch die in der Publikation angegebenen Daten des thermodynamischen Modells, dass das Vanillin bei 150 Grad nach nur wenigen Stunden verschwunden wäre – während des Brandes durchaus erreichbar, ohne dass dabei Brandspuren erkennbar wären. Dabei bliebe jedoch die Frage, warum im Bereich um die Radiokarbon-Probe das Vanillin nicht vollständig zerfallen ist. Allerdings ist unklar, ob es zu Verfälschungen kommt, weil die Radiokarbon-Probe und die Rogers-Proben jeweils auf unterschiedliche Art entnommen, unterschiedlich behandelt und über zwei Jahrzehnte unterschiedlich gelagert wurden.

Aus der Erfahrung mit anderen Datierungsmethoden, die auf ähnlichen Prinzipien beruhen, gibt es generelle Gründe zur Vorsicht. Chemische Datierungsmethoden müssen vor ihrer Anwendung durch umfangreiche Tests validiert werden, indem man Proben mit bekanntem Alter untersucht. Dabei muss man z.B. nachweisen, dass die Reaktionsrate tatsächlich genau bestimmbar ist und nicht etwa von der Zusammensetzung des Stoffes, dem Vorhandensein anderer Substanzen oder anderen Faktoren beeinflusst wird. Nur wenige chemische Reaktionen haben sich als zuverlässige Grundlage für Datierungen herausgestellt. Da bisher die Lignin-Vanillin-Datierung nur am Turiner Grabtuch selbst sowie an einigen wenigen Vergleichsproben getestet wurde (wobei das Holland-Leinen zudem noch eine mit ihm verknüpfte Geschichte aufweist), ist die Aussagekraft dieser Methode derzeit noch kaum geklärt. Erst nach umfangreicherer Validierung dieser neuen Datierungsmethode lässt sich entscheiden, ob sie zuverlässige Daten ergibt oder ob der festgestellte Unterschied zwischen der Radiokarbon-Probe und den anderen Tuchproben durch ganz andere Einflüsse erklärbar ist.

(erstmals erschienen am 30.1.2005 als Meldung der „Gesellschaft für Anomalistik„)

Dr. Stephan Matthiesen ist Geophysiker und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Anomalistik e.V.

 

Literatur:

Zusätzliche Informationen:

 

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 4/2005.

Klaus E. Müller

Der Begriff „Schamanismus“ ist neuerlich in vieler Munde. Als Ethnologe könnte man das, mit dem Blick zurück in nostalgischer Wehmut, zu begrüßen geneigt sein; handelt es sich doch um eine der vermutlich ältesten und ethisch anmutendsten Institutionen der Menschheit, die zudem einen hohen analytischen Schlüsselwert für die prämoderne Geistesgeschichte besitzt. Nach qualvollen Berufungs- und Initiationserlebnissen wuchsen Schamanen durch eine jahrelange „Lehrzeit“ in ihre Aufgabe hinein: Durch Kontakt mit jenseitigen Mächten betreuten sie die Seelen der Gruppenmitglieder und sorgten so für die Überlebensfähigkeit und den Erhalt ihrer Gesellschaft.
Allein, die Rückschau wird getrübt durch das ethnologisch ärgerliche Verständnis und den Missbrauch, mit denen der Institution Schamanismus heute Gewalt angetan wird. Im wahrsten Sinne unberufene „Schamanen“ bieten so genannte „alternative“ Therapien aus dem weichen Bereich der „Geistheilerei“ an oder verheißen Glaubenswilligen durch „bewusstseinsverändernde“ Maßnahmen den Einstieg in vorgeblich „höhere“ Erkenntnissphären. Die Absichten sind nicht ganz selbstlos; die modernen „Schamanen“ besitzen ein gediegenes Verhältnis zum Kommerz – in eklatantem Widerspruch zu ihren vermeintlichen Vorbildern. Der Begriff Schamanismus selbst entstammt den tungusischen Sprachen und geht auf die Wurzel sa-, „denken“, „begreifen“, „wissen“, zurück. Vermutlich ab der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr., als der Buddhismus in Mittelasien und Sibirien Fuß zu fassen begann, wurde er von dem Terminus samana aus dem mittelindischen Pali, der Sprache des buddhistischen Kanons, beziehungsweise Sanskrit cramana, „Bettelmönch“, „Asket“, überlagert. In historischer Zeit ist der Schamanismus in seiner „klassischen“ Ausprägung zur Hauptsache für die Jäger-, Fischer- und hirtennomadischen Kulturen Nordeurasiens bis zu den Samen in Skandinavien, die südlich angrenzenden Himalajaländer sowie Indianer des nördlichen Nordamerika und der südamerikanischen Hyläa belegt.

Aufgaben des Schamanen

Denker, das heißt intellektuell auf der Höhe mussten die Schamanen in der Tat sein. Ihre Aufgaben reichten weit über die irdische Erfahrungswelt hinaus. Alter, traditioneller Anschauung nach bildet die Transzendenz oder „Traumzeit“, das „dreaming“ der australischen Aborigines, den Urgrund allen Seins. Aus ihr trat zu Anbeginn der uranfängliche Schöpfer hervor, schied aus der breiartigen materia prima das Feste ab und formte daraus Himmel und Erde, die Gestirne, Pflanzen, Tiere und Menschen. Licht erhellte den Raum, und mit der Bewegung von Sonne und Mond, mit Geburt, Reifen und Tod der Geschöpfe entstand die Zeit, aus ihrer aller Verbundenheit die Raumzeit. Die jenseitige ist der diesseitigen Welt also zeitlich wie essentiell vorgeordnet und überlegen. Was der Schöpfer und später die kulturstiftenden Götter und Heroen einmal ins Werk gestellt hatten, hielten sie auch fürderhin in Gang. Ressortgötter und Ahnen wachten über den Bestand der Welt, erhielten das Leben und ahndeten, oft mit harter Hand, jedes Vergehen wider die Schöpfungsordnung. Was immer auf Erden geschah, folgte Prinzipien oder Impulsen, deren Ursprung im Jenseits lag. Das Bindeglied zwischen beiden Welten bildete die leibunabhängige, rein spirituelle „Freiseele“, da sie von der Art der Geistmächte ist. Neben dem Menschen besaßen sie auch die ihm schöpfungsverwandten und insofern unter den Lebewesen am nächsten stehenden Tiere. Wer Aufschluss über die Ursachen von gerade Geschehenem, über mögliche künftige Bedrohungen, über Jagdaussichten oder selbst die Wetterentwicklung erlangen wollte, musste also seine Freiseele gleich einem Instrument beherrschen, um sie jederzeit zum Einstieg ins Jenseits und zur Kommunikation mit den dortigen Mächten einsetzen zu können. Was anderen nur im Traum geschah, wenn sich die Seele aus der deaktivierten leiblichen Halterung löst und Ausflüge in die Transzendenz unternimmt, sollte ihm auch im Wachbewusstsein möglich sein – in der kontrollierten Ekstase, die er ebenso auszulösen wie zu beenden imstande sein musste. Ebendies vermochten die Schamanen, wie es sie, soliden Hinweisen nach, in Eurasien wohl bereits seit dem Jungpaläolithikum (die Zeit von ca. 36 000 bis 8000 v. Chr.) gab. Schamanen hatten vor allem die Aufgabe, schwere, namentlich psychische Erkrankungen zu heilen, die man dadurch verursacht glaubte, dass die Seele des Patienten sich, etwa im Traum, zu weit vom Körper entfernt und verirrt hatte oder von bösartigen Geistern abgefangen worden war, die sich damit unterhielten, sie nach Kräften zu quälen. Der Schamane versetzte sich dann – mittels Konzentration, Gesang und Tanz, oft auch durch den Genuss halluzinogener Drogen – in Trance, begab sich ins Jenseits, spürte die verlorene Seele wieder auf und geleitete sie heim beziehungsweise suchte sie ihren Peinigern durch geduldiges Verhandeln, Opferversprechen oder auch List wieder abzuringen. Des weiteren verhalfen Schamanen Frauen, die scheinbar nicht empfangen konnten, zu Kinderseelen, indem sie sich zu einem jenseitigen „Seelenkeimzentrum“ begaben, eine geeignete Seele auswählten und sie, wieder zurückgekehrt, der künftigen Mutter einbliesen oder ins Kopfhaar legten. Bei Frauen, die schon häufiger Kinder verloren hatten, wandten sie folgendes ingeniöse Verfahren an: Sie verwahrten die flüchtigen Seelen entweder in kleinen Behältnissen, wie Säckchen zum Beispiel, die sie ständig bei sich trugen, oder brachten sie an einem geschützten Ort im Jenseits unter, wo sich eine Geistamme ihrer annahm und sie alles hatten, was ein Kinderherz begehrt. Dort blieben sie, bis sie außer Gefahr waren, was unter Umständen Jahre dauern konnte. Dass ihr Leib darüber nicht abstarb oder in einen komatösen Dauerzustand verfiel, lag daran, dass die Verbindung über den betreuenden Schamanen erhalten blieb. Oft glaubte man auch, dass eine Art feiner, farbig leuchtender Faden Seele und Körper über die Entfernung hin verband, den allerdings nur Schamanen sehen konnten. Übrigens liegt diese Vorstellung von der Seelenverwahrung in einer Art jenseitigem Schließfach auch dem Grimmschen Märchen Der gläserne Sarg (Nr. 163) zugrunde. Offenbar war die Praxis früher weiter verbreitet.

Drohte dem Bestand der Gruppe Gefahr, weil zu wenig Kinder geboren wurden (oder zu viele starben), suchte der Schamane, um den erforderlichen Nachschub an Seelen zu erbitten, die Ahnen oder den Hochgott im Himmel auf, unter dessen Obhut sich in Sammlerinnen- und Jägerkulturen häufig die Kinderseelen befanden. Hatte er damit keinen Erfolg, stahl er sie auch ganz einfach bei Nachbargruppen. Daneben zählten zu seinen weiteren wichtigen Aufgaben, vor Jagdzügen die Wetterentwicklung vorauszusagen, den Wildstandort zu erkunden und den „Herrn“ beziehungsweise die „Herrin der Tiere“, Übergeistmächte, die über den Erhalt des Jagdwilds wachten, zu bewegen, den Menschen einige ihrer Schützlinge zum Abschuss freizugeben. Und nicht zuletzt hatten Schamanen die Ihren auch vor den Anschlägen übelwollender Geister zu schützen und die Seelen der Verstorbenen sicher ins Totenreich zu geleiten. In summa trugen sie also die Verantwortung für die Überlebensfähigkeit und den Erhalt ihrer Gruppe. Dabei bildete die Kernaufgabe die Betreuung und Hut der Seelen, deren Bestand allein die Fortexistenz aller verbürgte. Das alles belastete die Schamanen nicht nur schwer, es setzte auch zwingend voraus, dass sie über ganz besondere Gaben geboten, eine überlegene Intelligenz und ein entschieden weiter reichendes Wissen als andere besaßen. Schließlich mussten sie sich ebenso gut im Diesseits wie im Jenseits auskennen und geübt im Umgang mit Geistern und Göttern sein. Frühe Beobachter, die noch „echte“, gelegentlich auch große, weithin berühmte Schamanen erlebten, rühmen immer wieder ihre Selbstdisziplin, Konzentrationskraft und übergewöhnlichen Geistesgaben. Ihr Wortschatz lag häufig erheblich über dem anderer Gruppenmitglieder. Bei Jakuten-Schamanen konnte er bis zu 12 000 Wörter umfassen – gegenüber den üblichen 4000 des umgangssprachlichen Wortschatzes. Hinzu kamen besondere mimisch-darstellerische und poetische Gaben. Vielfach dichteten und komponierten sie ihre Gesänge selbst, je nach dem Inhalt der einzelnen Strophen virtuos das passende Versmaß wechselnd, etwa vom Jambus zum Anapäst, vom Trochäus zum Daktylus.

Berufung, Initiation und Ausbildung

Dass Schamanen über derartige Qualifikationen verfügten, kam nicht von ungefähr. Um erfolgreich zu sein, waren sie auf die Kooperation der guten Geistmächte angewiesen. Das setzte deren Bereitschaft voraus. Sie mussten den künftigen Schamanen ihren Segen geben – sie wählten sie eigens aus. Bei denen, die zu Großem ausersehen waren, geschah das durch einen weiblichen „Herrengeist“, ihre sogenannte „Tiermutter“. Sie ließ dazu ein bereits lebendes, mehrere Jahre altes Kind, das ihr geeignet schien, sterben. Cerviden-, das heißt elch-, hirsch- oder rengestaltige Tiermütter verschluckten dann seine Seele zunächst, wurden trächtig mit ihr und gebaren sie als ihr Junges, das sie säugten und aufzogen, bis seine Zeit zur Verkörperung auf Erden gekommen war. Vogelmütter, Adlerweibchen zum Beispiel, legten entsprechend ein Ei in einem Nest hoch oben auf dem Weltbaum und brüteten die Seele dort aus. Kleinere Vögel, etwa ein Specht, trugen sie dann hinunter auf die Mittelwelt und legten sie der irdischen Mutter ins Haar auf die Nahtstelle der Hauptfontanelle, durch die sie hinab in den Leib gelangte und zur Empfängnis führte. Die Schamanen besaßen also in diesem Fall schon pränatal die Voranlagen für ihre künftige Doppelnatur: im Leben Menschen wie andere auch, waren sie gleichzeitig Kinder einer – in Jägerkulturen zudem überlebenswichtigen – Geistmacht, die sie im übrigen auch späterhin mütterlich-fürsorglich betreute. Als Kinder wirkten sie von frühauf unausgeglichen und nervös, als litten sie unter einer steten psychischen Spannung. Sie zeigten sich verschlossen und ernst, nachdenklich bis vergrübelt. Erreichten sie die Pubertät, erfolgte gewöhnlich ihre „Berufung“. Ihre gedankliche Abwesenheit wuchs, sie fühlten sich seltsam matt und zerschlagen, schliefen viel und sprachen im Traum. Dann überfielen sie Fieberanfälle. Wild mit den Augen rollend, stießen sie unartikulierte Schreie aus, die wie Tierlaute klangen, und tanzten wirbelnd herum, bis sie erschöpft zusammenbrachen. Das kam, weil sie Gesichte hatten, mehr bei Nacht im Traum als am Tag. Ihnen erschienen die Seelen verstorbener Schamanen, häufiger jedoch Geister in Tiergestalt, die sie eindringlich aufforderten, Schamanen zu werden. Dagegen wehrten sie sich nach Kräften; sie wussten zu gut, was an Entbehrung, Mühsal und Qual auf sie zukommen würde. Die Geister gaben jedoch nicht auf, bedrohten, schlugen, ja folterten sie, bis sie schließlich einwilligten; andernfalls wurden sie zur Strafe mit lebenslangem Wahnsinn geschlagen. Etliche nahmen sich auch, um dem gefürchteten Ruf zu entgehen, das Leben. Schickten sie sich in ihr Los, genasen sie binnen weniger Tage. Die russische Ethnologin Anna Smoljak erlebte derartige Fälle bei Tungusen in Ostsibirien in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In einem handelte es sich um eine junge gebildete, etwa dreißigjährige Frau und Mutter mehrerer kleiner Kinder. Wie viele ihrer Generation, die nach wie vor Berufungserlebnisse hatten, schenkte sie längst den alten Vorstellungen keinen Glauben mehr und begab sich daher, als die Geister sie riefen, ins nächstgelegene Bezirkskrankenhaus in Behandlung. Doch ihr Zustand besserte sich nicht. Schließlich, nach langen qualvollen Jahren, folgte sie dem Rat erfahrener älterer Leute, fügte sich, griff zur Trommel, genas und blieb von Stund an beschwerdefrei. Allerdings war der Werdegang eines Schamanen mit der Berufung nicht abgeschlossen. Das Schlimmste, seine „Initiation“, stand ihm noch bevor. Nach kurzer Erholungspause erkrankten die Kandidaten aufs neue. Nunmehr sanken sie in tiefe Bewusstlosigkeit, atmeten kaum noch und schienen wie abgestorben. An ihrem Leib wurden Wundmale, dunkelviolette Druckstellen und Blutergüsse sichtbar. Ausschlag und Ekzeme überzogen die Haut. An den Gelenken trat Blut aus. Die Kräfte verließen sie; es schien, als zehre sie etwas aus. Alle kannten die Zeichen: Sie bildeten lediglich äußerlich ab, was den Betroffenen zur gleichen Zeit seelisch widerfuhr. Die Initiation währte in der Regel drei Tage. Der Kandidat erlebte in einer Art Traumvision, wie ihn die Geister – gewöhnlich dieselben, die ihn berufen hatten – in die Unterwelt entführten und dort seinen Leib Stück für Stück auseinander nahmen. Als erstes trennten sie seinen Kopf ab und deponierten ihn an erhöhter Stelle, damit er beobachten konnte, was in der Folge geschah. Daraufhin zogen sie mit eiserner Haken seine Gelenke auseinander, lösten das Fleisch von den Knochen und zerschnitten es in kleine Teile, die sie mit seinem Blut tränkten und gemeinsam verzehrten. Anschließend vollzogen sie die „Wiederbelebung“ des „Getöteten“: Die Knochen wurden anatomisch korrekt zusammengelegt, die Gelenke mit Eisenfäden aneinandergenäht, das Skelett mit neuem Fleisch umkleidet und zuletzt der Kopf auf den Rumpf gesetzt – der Initiand lebte wieder auf, wenn auch zunächst erst im Jenseits. Denn noch bedurfte er seiner professionellen Ausbildung. Dazu unterwiesen ihn die Geister in der Topographie der jenseitigen Welt, machten ihn persönlich mit den Mächten vertraut, die als „Herren“ oder „Herrinnen“ der Pflanzen, Fische, Seesäuger und Landtiere verantwortlich für den Erhalt der Nahrungsgüter waren, lehrten ihn, die verschiedenen Krankheitsgeister unterscheiden, das heißt sichere Diagnosen zu stellen, und unterrichteten ihn in den entsprechenden Heilverfahren. Danach gaben sie seine Seele frei; sie kehrte zurück und verband sich wieder mit ihrem irdischen Leib, der daraufhin genas. Der wahrhaft „frischgebackene“ Adept war, von Grund auf gewandelt, zu einem anderen, neuen Menschen geworden. Er besaß nun seine endgültige Doppelnatur, halb Mensch, halb Geist. Sie verlieh ihm die Gabe der Hellsichtigkeit, Telepathie und Präkognition. Er konnte jederzeit Geister und Verstorbene sehen (bzw. sprechen oder singen hören) und ebenso tief in die Vergangenheit zurück- wie weit in die Zukunft vorausschauen. Nicht zuletzt aber hatte ihn die spirituelle Wiedergeburt zum „Blutsverwandten“ seiner Schutz- und Hilfsgeister gemacht, das heißt, beide waren fortan zur Reziprozität, zur wechselseitigen Hilfeleistung, verpflichtet. Ein Schamane konnte daher später nur Krankheiten heilen oder Übel bekämpfen, deren geistige Urhebermächte von seinem Fleisch und Blut gegessen hatten – je mehr es gewesen waren, desto größer sein Wirkvermögen. Neben der beschriebenen, der im Ganzen gängigsten, kamen auch andere Umwandlungsformen vor. Bei einzelnen sibirischen und Hindukusch-Völkern wurden zum Beispiel Fleisch, Eingeweide und Blut nicht verzehrt, sondern eine Zeitlang in einem Kessel gekocht und danach wieder, gereinigt und erneuert, mit dem Skelett verbunden. Nach dem Glauben einiger Tungusen-Gruppen erhitzten die Geister den Kandidaten in einem Ofen gleichsam bis zum „Erglühen“, um ihn anschließend mit Hammer und Amboss regelrecht „umzuschmieden“. Nach Abschluss seiner Metamorphose und Wiedergenesung erschien der junge Schamanenanwärter wie ausgewechselt. Seine kränkliche Konstitution, Nervosität, Unruhe und häufige Geistesabwesenheit verloren sich vollends. Seine Persönlichkeit straffte sich gleichsam; er wirkte nunmehr beherrscht, konzentriert, entschlossen und kraftvoll. Manche begaben sich danach noch zu einem berühmten Meister in die Lehre, um sich mit den mehr praktischen Kenntnissen und Techniken ihres Berufs vertraut zu machen. Sie begleiteten ihren Lehrer bei seinen Krankenbesuchen, assistierten ihm während der Heilséancen, lernten, wie man sich in Trance versetzt, welche Opfer den verschiedenen Geistmächten dargebracht werden mussten und vieles andere Einschlägige mehr. Zum Abschluss eines derartigen, in der Regel drei- bis fünfjährigen Lehrgangs fand gewöhnlich eine förmliche Weihe statt, mit der dem Schüler gewissermaßen die offizielle „Approbation“ erteilt wurde.

Die schamanistische Séance

Schamanen kamen, wann und zu wem immer sie gerufen wurden, gleichgültig, wie weit der Weg dahin war und welche Witterungsbedingungen herrschten. Da sie des Beistands ihrer Geister bedurften, fanden die Séancen stets nachts, während der „Geisterzeit“, statt. Ihr Auftritt erforderte, wie beim Theater, eine gewisse Vorbereitung und Kostümierung samt Requisiten. Bevor sie aufbrachen, fasteten sie mehrere Stunden lang und unterzogen sich einer gründlichen Reinigung. Darauf legten sie ihre Tracht an, bestehend aus einem knielangen Kittel, Beinkleidern, Schuhwerk, Handschuhen und Kopfaufsatz, deren Besonderheit ihren spirituellen Ursprung, das heißt ihre Übernatur zum Ausdruck brachte und insofern der Form nach ihrer „Tiermutter“, ihrem persönlichen Schutzgeist, entsprach. Zwei Typen überwogen daher. Im einen Fall handelte es sich um ein Cerviden-, im anderen um ein Vogelkostüm. Geweihattrappen, teils rückwärtig an den Schultern angebracht, mehrheitlich jedoch als Kopfaufsatz getragen, markierten Elch, Hirsch oder Ren; Fransen aus Tuch oder Leder an Ärmeln, Schultern und Rocksaum deuteten dabei das Haarkleid an. Die Vogel-, in der Hauptsache Uhu-, Eulen- und Adlernatur war kenntlich gemacht durch Federn sowie längere Stoffstreifen oder Lederbänder, die das Kostüm über und über bedeckten und bis auf den Boden reichten. Sie standen für Schwingen und Federkleid, während Lederriemen und Reihen von Glasperlen am Schuhwerk die krallenbesetzten Vogelfüße markierten. Gürtel und Rock trugen in beiden Fällen Abbilder seiner – fast ausnahmslos tiergestaltigen – Hilfsgeister und waren dicht mit kleinen metallenen Röhren, Plättchen, Schellen und Glöckchen behängt, die bei jeder Bewegung einen entsprechenden Klanglärm verursachten und offensichtlich apotropäischen Zwecken dienten, ferner mit Darstellungen von Sonne, Mond und Erdscheibe zur Orientierung beim Auf- und Abstieg.

Zu den wichtigsten Requisiten zählten – in Nordeurasien zumindest – besondere Zeremonialstäbe und eine Trommel. Erstere dienten als Träger der Hilfsgeister. Rundum mit ihren Darstellungen bemalt, saß dem oberen Ende entweder ein plastisch herausgearbeiteter Vogel oder die Figur eines anthropomorphen, gelegentlich janusköpfigen Geistes auf, der gleichsam doppelte Sehkraft besaß und dem Schamanen besondere Dienste bei der Suche nach verlorengegangenen Seelen und dem Aufspüren feindlicher Geistmächte leistete. Bei der Trommel handelte es sich gewöhnlich um ein Instrument vom Tamburintypus, also einen Rahmen mit einseitiger Bespannung. Das Fell war bemalt und stellte eine Art Kartographie des Kosmos dar: Querstriche schieden Ober-, Mittel- und Unterwelt voneinander. Im Mittelfeld waren das Meer, das die Erdscheibe umschließt, Wald (die Taiga), die großen Flüsse, auf denen sich der Schamane gelegentlich in die Ober- und Unterwelt begab, sowie der Weltbaum mit Vögeln darauf und noch einiges andere zu sehen. Den Himmel markierten Sonne und Mond, Wolken, Sterne und Sternbilder, an denen sich der Schamane beim Aufstieg orientierte, sowie oft auch ein Regenbogen, den er als Brücke in die Oberwelt benutzte. Die Trommel diente vor allem zwei Funktionen. Zum einen schlug sie der Schamane, um sich in Trance zu versetzen, zum andern „ritt“ er auf ihr, wenn er das Jenseits bereiste. Sie entsprach dann einem cervidengestaltigen Hilfsgeist. Der Raum, in dem sich die Séance, etwa zur Heilung eines Kranken, vollzog, musste zuvor gereinigt werden – denn nach universalem Glauben halten sich bösartige Geister bevorzugt im Schmutz auf. In dem Augenblick, in dem der Schamane ihn sozusagen im Theaterjargon „in Kostüm und Maske“ betrat, verwandelte er sich zum Sakralbereich und gewann kosmische Dimensionen – die Bühne wurde zum Welttheater. Das Dach des Zeltes (oder der Hütte) bildete das Himmelsgewölbe, der Boden die Erde ab; der mittlere Stützpfahl entsprach dem Weltbaum, an dem der Schamane gegebenenfalls durch das Rauchloch in die Oberwelt aufstieg. Gewöhnlich war der „Zuschauerraum“ bis zum letzten Platz besetzt. Unabdingliche Voraussetzung der Séance war, dass der Schamane in Trance fiel, genauer: in Ekstase geriet, das heißt ganz Seele wurde, um sich vom Leib befreien und seine irdische Existenz transzendieren zu können. Dazu hatten Schamanen in aller Welt eine Fülle von Verfahren entwickelt. Das älteste scheint rein gedankliche Konzentration gewesen zu sein. „Große“ Schamanen versetzten sich allein dadurch in Trance und Ekstase; Drogen wiesen sie verächtlich ab, da sie die Konzentration wie die Fähigkeit, das Geschehen zu kontrollieren, nur beeinträchtigen würden. Sonst bildete ein gängiges Mittel rhythmisches Trommelschlagen und Sang, begleitet von gleichförmigen wiegenden Körperbewegungen, dann Tanz, der sich stetig steigerte bis zur entfesselten Raserei, die schließlich zum Absturz in die – vorübergehende – Bewusstlosigkeit führte. Oft wurden zur Verstärkung und Beschleunigung des Prozesses auch pflanzliche Stimulanzien verwandt. In Ostsibirien inhalierten die Schamanen zum Beispiel den Rauch von wildem Rosmarin, im Hindukuschraum fand bevorzugt Wacholder-, in Nord- und Südamerika Tabakrauch oder Schnupfpulver aus den gerösteten Bohnen diverser Hülsenfrüchtler (das bekannte Yopo) Verwendung. Mehr aber noch dienten in Mittel- und Südamerika sowie Teilen des südlichen Nordamerika bestimmte alkaloidhaltige Pflanzenextrakte als Trance-Induktoren – zum Beispiel Ayahuasca, das aus verschiedenen Arten der Gattung Banisteriopsis, einer Liane, hergestellt wird, der Stechapfel (Datura) und in Mexiko und Texas der Peyotl, eine Gattung der Kakteengewächse, dessen Wirkung auf dem Alkaloid Meskalin beruht. In den subpolaren und polaren Gebieten Asiens standen derartige Mittel natürlich nicht zur Verfügung. An ihre Stelle trat hier – aber keinesfalls durchgängig – der Fliegenpilz (Amanita muscaria), der neben anderen, teils hochtoxischen Substanzen das Alkaloid Muscarin enthält. Genossen wurden allein die Kappen, entweder frisch oder in Extraktform, verdünnt mit Wasser, Renmilch und bestimmten Pflanzensäften (z. B. aus Weidenröschen, Heidel- und Rauschbeere). Ein Schamane konnte, je nach Erfahrung und Gewöhnung, pro Séance drei bis sieben, maximal neun – dann allerdings immer getrocknete – Kappen zu sich nehmen. Die Wirkung trat, verstärkt durch das vorangegangene Fasten, nach 40 bis 60 Minuten ein. Der Schamane verfiel zunächst in einen knapp einstündigen Tiefschlaf, erwachte dann, sprang zitternd auf und begann zu singen und zu tanzen, wobei seine Bewegungen zunehmend fahriger und wilder, seine Worte immer unverständlicher wurden, wie in Fetzen zerrissen klangen. Alsbald setzten auch Halluzinationen ein. Er hörte Stimmen, die ihn riefen – seine Geister kamen. Dann erblickte er sie, antwortete und unterhielt sich mit ihnen. Dabei löste er sich allmählich vom Körper, den er jetzt unter sich sah, hob ab und flog mit den Geistern davon, bis er zuletzt, nach Stunden und völlig erschöpft, erneut in einen langanhaltenden Tiefschlaf fiel. Manche Schamanen boten ihrem Publikum, bevor sie auf dem Höhepunkt der Séance zum Flug ansetzten, eine Art Vorprogramm. Sie tanzten barfüßig über glimmende Kohlen, nahmen glühende Eisenteile in die Hände oder den Mund, tranken kochendes Wasser, öffneten durch pures Emporheben des Trommelschlegels das Dach und ließen es schneien oder trennten ihren Kopf ab, um ihn gleich darauf wieder aufzusetzen. Trafen die Geister ein, machten sie ihre Stimmen durch Bauchrednerei ebenso deutlich wie differenziert vernehmbar – alles teils auf so meisterliche Weise, dass der Eindruck die Anwesenden wahrhaft überwältigte. Ein Zeuge, der russische Ethnologe Vladimir Bogoraz, berichtet von einer Séance bei den Tschuktschen: „Die Illusion war derart stark, dass ich unwillkürlich in die Luft griff, um die sprechende Person zu greifen. Die Töne beginnen irgendwo weit in der Höhe, sie nähern sich allmählich, dringen durch die Wände wie ein Sturm, versinken in der Erde, in deren Tiefen sie verstummen. Es ertönen die verschiedensten Stimmen, Tier- und Vogelstimmen, Fliegengesumm.“ Doch handelte es sich dabei nicht um bewusste Täuschung und puren Hokuspokus. Die „Tricks“ wurden vom Publikum durchaus als solche verstanden. Der Schamane versuchte durch die Meisterschaft, die er dabei bewies, lediglich auf das eindrücklichste zu demonstrieren, dass er eben kein gewöhnlicher Mensch, dass er zu mehr als andere befähigt war. Den Ventriloquismus zum Beispiel setzte er ein, weil er ihm als das geeignetste Medium erschien, die Stimmen der verschiedenen Geister adäquat wiederzugeben. Die Effekte bildeten – zumindest bei echten Könnern – einen bewusst kalkulierten Bestandteil des Ganzen, ein Mittel, das Vertrauen des Publikums und Patienten in seine Zuverlässigkeit und Meisterschaft zu stärken. Wann es anschließend dann zum Höhepunkt der Séance, zum Abflug des Schamanen kam, war jedem Anwesenden unverkennbar. Der Trommelschlag wurde rascher und härter. Die Bewegung steigerte sich zum rasenden Wirbeltanz. Die Geister näherten sich hörbar. Sie riefen durcheinander, die Stimmen verstärkten sich zu einem zuletzt ohrenbetäubenden Pfeifen, Kreischen und Schreien. Der Schamane begrüßte sie, abgehackt, atemlos, einen nach dem andern, befragte sie etwa nach den Ursachen der Krankheit, um die es ging, und beriet sich mit ihnen. Und dann plötzlich brach das Geschehen ab: Die Seele hatte den Körper verlassen. Der Schamane sank entweder in sich zusammen, saß mit geschlossenen Augen oder abwesend in unergründliche Fernen gerichtetem Blick oder tanzte verhalten zu gedämpftem Trommelschlag auch weiter und schilderte in summendem, manchmal wimmerndem oder gestammeltem Singsang, wo er sich gerade befand, was er sah und erlebte. Oft bezog er den Kranken dabei mit ein. Er befragte ihn etwa nach seinen Träumen in der letzten Zeit, um ihnen mögliche Hinweise auf den Aufenthaltsort der Seele und den Weg dahin zu entnehmen. Fielen die Antworten vage aus, kam er unter Umständen vom Weg ab. Dann versuchte er, durch gezieltere Fragen präzisere Angaben zu erhalten. Meist waren ihm jedoch seine Geister dabei behilflich. Schließlich, ans Ziel gekommen, entrang er die abgängige Seele, sei es mit List oder Gewalt, ihren Entführern und geleitete sie heim. War dann nach mehreren Stunden alles vorüber, brach der Schamane zumeist in totaler Erschöpfung zusammen. Manchmal versank er sofort entweder in Bewusstlosigkeit oder tiefen Schlaf, der bis zu 24 Stunden währen konnte; ein andermal lag er noch lange wachend da, ohne ein Wort zu sprechen. Trugen manche Séancen gelegentlich über kleinere Strecken hin auch komödiantische, ja burleske Züge, beherrschten insgesamt doch eine spürbare Spannung, Beklemmung und drückende Düsternis die Szene. Frühe Reisende, die noch Gelegenheit hatten, echte, „große“ Schamanen zu erleben, zeigten sich ausnahmslos beeindruckt, ja geradezu betroffen von ihrem tiefen, geradezu tragischen Ernst und der eigentümlich lastenden, unheimlichen Atmosphäre der Séancen. Der russische Forschungsreisende Ferdinand von Wrangel, ein anerkannt guter und kaum zu Übertreibungen neigender Beobachter, der in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts an einer Expedition zur Erkundung Nordostsibiriens teilnahm, schildert seinen Eindruck von einer Tschuktschen-Séance wie folgt: „Ein echter Schamane ist gewiss eine höchst merkwürdige psychologische Erscheinung. Sooft ich hier und an anderen Orten operierende Schamanen sah, ließen sie immer einen lange dauernden, düstern Eindruck in mir zurück. Der wilde Blick, die blutrünstigen Augen, die heisere Stimme, die mit äußerster Anstrengung sich aus der krampfhaft zusammengepressten Brust einen Weg zu bahnen schien, die unnatürliche, krampfhafte Verzerrung des Gesichtes und des ganzen Körpers, das empor gesträubte Haar, ja selbst der hohle Ton der Zaubertrommel – alles das gibt der Szene etwas Grauenvolles, Mysteriöses, das mich jedes Mal ganz seltsam ergriffen hat.“

Der Versuch, zu verstehen

Als die Ethnologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Schamanismus aufmerksam zu werden begann, stand noch der Evolutionismus in vollem Flor. Völker fernab der modernen Industriezivilisationen, und namentlich solche, die überwiegend von der Jagd und Sammelwirtschaft lebten, schienen noch auf den untersten Stufen der Entwicklung zu stehen. Ihre Vorstellungen von Natur und Welt konnten sich entsprechend nur auf gleichsam „kindliche“, falsche Deutungen der Zusammenhänge gründen, die erst die neuzeitliche Wissenschaft richtig zu verstehen gelehrt hatte. Der Schamanismus, dessen Kern der Geisterglaube bildete, stellte da lediglich eine besonders bizarre, extreme Ausprägung des primitiven Wahnglaubens dar, so dass nahe lag, die Phänomene zunächst auf psychopathogene Ursachen zurückzuführen, zumal es in der Tat ja auch frappante Parallelen gab. Russische Forscher hielten die Schamanen zunächst pauschal für „nervenkranke Subjekte“, eigentlich aber eher für „echte“ Psychopathen, mal für Hysteriker, mal für Epileptiker, mal für Schizophrene. Der seinerzeit hochrenommierte Neurologe Pavel Evgenieviè Snessarev (1876-1954) befand: „In der Regel sind Menschen, die in diesem oder jenem Grad mit der schamanistischen Praxis zu tun haben, nicht vollwertig oder direkt geisteskrank.“ Auffallend schienen vor allem Übereinstimmungen mit dem Krankheitsbild von Epileptikern und Schizophrenen. Im ersteren Fall handelt es sich allerdings immer nur um sehr kurzfristige Anfallsverläufe, doch charakterisiert immerhin durch Zuckungen, unkoordinierte Bewegungen, Räuspern, starkes Ein- und Ausatmen, wirres Reden, Halluzinationen und traumartige Zustände (dreamy state). Fündiger dagegen wurde man in der Symptomatik der Schizophrenie. Die Kranken erfahren hier beispielsweise Umwandlungen ihrer Persönlichkeit, die in vielen Fällen als Wiedergeburtsprozess erlebt werden. Manche träumen dabei oder „sehen“, wie ihr Kopf durch einen Messerschnitt vom Rumpf getrennt und ihr Körper bis auf die Knochen in Stücke zerlegt beziehungsweise „zersägt“ wird. Auch Verwandlungen in Tiere kommen vor. Und nicht zuletzt zählen Flugerlebnisse und Geistererscheinungen zu den charakteristischen Zügen des Krankheitsbildes. Doch so bestechend und unabweislich die Übereinstimmungen, und zwar in formaler wie inhaltlicher Art, auch sind: Einem unmittelbaren Zusammenhang steht entgegen, dass es sich in beiden Fällen um Krankheiten handelt; die Anfälle treten spontan auf, können also weder nach Belieben ausgelöst noch kontrolliert, geschweige denn beendet werden. Schamanen dagegen waren nach ihrer Initiation durchaus gesunde und lebenstüchtige, ja den Ihren an physischer Widerstandskraft und Selbstkontrolle überlegene Menschen. Sie fielen, wenn man so will, der „Krankheit“ lediglich zweimal, während der Berufung und Initiation, zum Opfer. Danach beherrschten sie die „Symptome“, das heißt bedienten sich ihrer nach Belieben, wann immer ihnen ihr Amt das gebot, um sie anschließend gleichsam wieder „abzuschütteln“. Die Geister, die sie riefen, vermochten sie jederzeit wieder loszuwerden. Hinzu kommt, dass die Einheimischen selbst die Schamanen niemals für Geisteskranke hielten. Sie schieden im Gegenteil, auch terminologisch, sehr genau zwischen beiden: Die einen waren die Kranken, die anderen ihre Ärzte. Im übrigen kommt das Initiationserlebnis auch sonst, weltweit und in allen Kulturen vor. Es hat offenbar mit persönlichen Krisen, kaum aber einem anhaltenden, therapiebedürftigen Leiden zu tun. Typische Züge sind nahezu immer: ein Unfall, eine schwere physische Erkrankung, eine traumatische Erfahrung, eine Vision oder Geistererscheinung, nicht zuletzt auch Nahtodeserfahrungen, das Empfinden, abzusterben beziehungsweise sich vom Körper zu lösen, schließlich ins Leben zurückzukehren mit dem Bewusstsein, wie „neugeboren“ zu sein, woraus vielfach der feste Entschluss erwächst, ein ganz anderes, neues, „besseres“ Leben im Dienst der Gemeinschaft zu führen. Die Beispiele sind wahrhaft Legion. Abgesehen von den traditionellen Kulturen, die keinen Schamanismus, aber gleichwohl analoge Phänomene kennen, könnte man auf bekannte Religionsstifter und neuzeitliche Sektengründer (vgl. z. B. Obst 2000), auf die berühmte Krise Carl Gustav Jungs nach einem totalen Zusammenbruch (vgl. Peat 1992) oder das Nachleben des Motivs in Literatur (vgl. z.B. Bessa-Luis 1998) und Märchen, bei Grimm zum Beispiel auf die zweite seiner Kinderlegenden, verweisen.

Die gesellschaftliche Verpflichtung der Schamanen

Beim Schamanismus indessen handelte es sich demgegenüber um eine festetablierte Institution, das heißt ein überindividuelles soziales Phänomen, über dessen Bestand die Gesellschaft normierend wie kontrollierend wachte. Amt, Legitimation und Praxis stellten einen ebenso zentralen wie integralen, tragenden Bestandteil eines in sich stimmigen, wohlausgewogenen Systems von Vorstellungen und Verhaltensformen dar, das sicher im Boden der gesamten Lebens- und Weltanschauung der Bevölkerungen verankert war. Sein harter Kern, das Initiationserlebnis, fußt dabei sichtlich auf dem universal belegbaren gemeinjägerkulturlichen Glauben, dass getötete Tiere vom Herrengeist ihrer Gattung zu neuem Leben erweckt werden können, sofern ihr Skelett nur unversehrt erhalten geblieben ist: Die Geistmacht umkleidet es dann mit neuem Fleisch, stattet es mit den erforderlichen Organen und Lebenskraft, das heißt der Vitalseele aus und verleiht ihm zuletzt die Freiseele. Die Jäger achteten daher immer sorgsam darauf, dass die Knochen beim Zerlegen des Wildes (bei Fischen die Gräten) möglichst unverletzt blieben. Man löste die Einzelteile an den Gelenken voneinander und vermied, scharfkantige oder spitze Geräte dabei zu verwenden. Nach der Mahlzeit wurden die Knochen dann sorgfältig zusammengelesen und in einem Beutel aus dem Fell des betreffenden Tieres in einen Baum im Wald gehängt oder in der korrekten anatomischen Anordnung in der Wildnis ausgelegt, manchmal sogar auch regelrecht bestattet. Das alles macht die Annahme doch sehr wahrscheinlich, dass der Schamanismus zumindest in seinem Kernbestand in der Tat ein hohes Alter besitzt, das heißt durchaus bis ins Jungpaläolithikum zurückreichen könnte, das zudem in Nordasien erst gegen 4000 v. Chr. ausklang. Er vermochte sich offensichtlich so lange zu halten, weil es um die zentralen Probleme der Gesellschaften ging und Erfahrung wie Erfolg die Zuverlässigkeit der Institution zu bestätigen schienen. Die „Realitätsfrage“ stellt sich für eine Erfahrungswissenschaft nicht. Für sie ist ausschlaggebend, dass Menschen glauben, dass es – beispielsweise – Geister gibt, und danach handeln beziehungsweise ihre Erfahrungswelt entsprechend begreifen und begründen. Schamanen nahmen ihre Aufgabe ernst und fassten sie auf als das, was sie war: als soziale Verpflichtung. „Ein Schamane“, erfuhr die russische Ethnologin Anna Smoljak noch vor wenigen Jahrzehnten bei den Nanaj, „gehört nicht sich selbst“. Da er häufig gebraucht wurde, konnte er seinen eigenen Lebensunterhalt nur sehr bedingt bestreiten. Allerdings halfen ihm dankbare Patienten – so sie dazu in der Lage waren – mit Nahrungsmitteln und anderem, was er und seine Familie zum Leben brauchten, aus. Denn entlohnen lassen durften sich Schamanen nicht. Das hätte sie den Beistand ihrer Geister gekostet, die ihnen das kategorisch versagten. In der Regel hatten sie bei ihrer Weihe eine Art „Hippokrates-Eid“ zu leisten. Bei den Jakuten lautete die Formel zum Beispiel: „Ich verspreche, der Beschützer der Unglücklichen, der Vater der Armen und die Mutter der Waisen zu sein.“ Die Tochter eines Nanaj-Schamanen klagte noch 1972 Anna Smoljak gegenüber: „Vater ist vollkommen verarmt; sie kommen aus den verschiedensten Dörfern und bitten ihn zu schamanisieren; niemals lehnt er ab. Er fischt nicht, schlägt kein Holz zu und schamanisiert nur.“ Schamanen führten ein wenig beneidenswertes, entbehrungsreiches, meist überaus hartes, ja qualvolles Leben, das ein Höchstmaß an physischer und psychischer Disziplinierung, Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit von ihnen verlangte. Sie standen im Dienst ihrer Gruppe, gaben sich auf für die Ihren, ohne irgendeinen nennenswerten Vorteil daraus zu ziehen. Das prägte nicht zuletzt ihre Persönlichkeit. Selten machten sie einen frohen oder gar glücklichen Eindruck. Die Last des Amtes und der Verantwortlichkeit, die sie trugen, drückte sie sichtlich nieder. Hager und abgezehrt, oft müde und erschöpft von der steten Überanstrengung, bewegten sie sich langsam, ja schleppend, scherzten und lachten kaum, wirkten in sich gekehrt, nachdenklich und ernst, oft ausgesprochen finster. Man scheute sich daher in gewisser Weise vor ihnen, was sie selbst unter den eigenen Leuten einsam machte. Doch gleichzeitig straffte sie auch eine besondere, fast unheimliche Würde, die sie wie eine düstere Aura umgab und ihnen so etwas wie tragische Größe verlieh.
Und heute? In Südamerika halten „Schamanen“ vielbesuchte Lehrseminare für zahlungskräftige Adepten vornehmlich aus den USA ab. In Russland treten mittlerweile Hellseher, Wunderheiler und „Schamanen“ im Fernsehen auf und können auf höchste Einschaltquoten zählen. In den Städten der westlichen Welt haben Wahrsager, selbst ernannte „Hexen“, Geistheiler und „Stadtschamanen“ Hochkonjunktur. Doch handelt es sich, jedenfalls ethnologisch gesehen, um eine Scheinrenaissance. Den Schamanen, die heute ihre Stimme erheben, geht die Legitimation dazu ab; weder wurden sie von Geistern berufen, noch durchlitten sie qualvolle Initiationen. Die Lebenswelten, in denen die Schamanen von ehedem gebraucht wurden und notwendige Funktionen erfüllten, gehören der Vergangenheit an. Ihre heutigen Nachtreter stehen nicht im Herzen ihrer Gemeinschaft, leiden und sterben nicht mehr für sie. Sie maßen sich an, was sie weder verstehen noch wozu sie die selbstlose Hingabebereitschaft und moralische Größe aufbringen könnten, wohl auch nicht die Einsamkeit auf sich zu nehmen bereit wären.

Der Text schöpft bis auf einige wenige kleinere Zusätze aus Klaus E. Müllers Buch „Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale“, München: Beck, 2001.

Literatur

  • Bessa-Luis, A. (1998): Die Sibylle. Roman. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 52-61
  • Obst, H. (2000): Apostel und Propheten der Neuzeit: Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 363f.
  • Peat, D. F. (1992): Synchronizität: die verborgene Ordnung. Goldmann, München, S. 20ff.

Prof. Dr. Klaus E. Müller ist Professor emeritus für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und zurzeit Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen und am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst sowie Mitglied verschiedener interdisziplinärer Forschungsgruppen. Kontakt: Zentrum für Wissenschaft und kritisches Denken, Arheilger Weg 11, 64380 Roßdorf.

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 1/2004.

Blut-Spuren: Der Fall Therese von Konnersreuth

Eine aktuelle forensische Untersuchung

Mark Benecke

Rückt die Seligsprechung der Therese von Konnersreuth näher? Die 1898 in dem Marktflecken Konnersreuth/Oberpfalz geborene Bauernmagd war seit 1918 als Pflegefall bettlägerig gewesen und erblindete 1919. Am Tag der Seligsprechung der von ihr sehr verehrten Therese von Lisieux verschwand ihre Erblindung (1923), und 1925, als Therese von Lisieux heilig gesprochen wurde, heilte auch die Lähmung der Kranken. 1962 starb Therese von Konnersreuth, die besonders an Freitagen die Leiden Christi so stark nachempfand, dass unter anderem Stigmata an ihrem Körper bluteten (vgl. Skeptiker 4/2002, S. 171–179: „Wunderwunden?“). Vermittelt durch einen Fernsehsender und im Auftrag der Abteilung für Selig- und Heiligsprechungsprozesse des bischöflichen Konsistoriums in Regensburg, machte sich die DNA-Arbeitsgruppe des Münchener Instituts für Rechtsmedizin kürzlich an die Untersuchung einiger erhaltener biologischer Spuren der potenziellen Kandidatin. Als sinnvoll untersuchbar erwiesen sich eine mehrlagige, durchblutete Verbands-Kompresse (günstig, da die inneren Lagen nicht durch Anfassen o. ä. kontaminiert waren), eine Speichelprobe der noch lebenden Nichte der Therese von Konnersreuth sowie zwei von Therese geschriebene, frankierte und zugeklebte Briefe.

Eine ebenfalls vorhandene Haarprobe wurde nicht untersucht, da sie teils aus ausgefallenen Haaren bestand. Diese sind zwar sehr gut untersuchbar, angeblich sollte es sich aber um „auf dem Sterbebett abgeschnittene Haare“ handeln. Aus kriminalistischen Gründen (unklare Herkunft: ausgefallen oder abgeschnitten?) legte man diese Probe daher zur Seite. Am 6. 2. 2004 berichteten Burkhard Rolf, Birgit Bayer und Katja Anslinger auf dem Spurenworkshop der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Köln von den Ergebnissen ihrer Untersuchung, die klären sollte, ob das „stigmatische“ Blut auf der Verbands-Kompresse tatsächlich von Therese von Konnersreuth stammt – da die mysteriösen Blutungen zu ihren Lebzeiten nie direkt beobachtet werden konnten, zumindest nicht von skeptischen Medizinern, die regelmäßig „ausgesperrt“ wurden. Dazu wurde von Rolf, Bayer und Anslinger zunächst ein Schnelltest auf rote Blutbestandteile (Sangur/Hemastix) an der Kompresse durchgeführt. Der Test war positiv – es handelt sich um Blut. Angesichts des Alters der in einem verschlossenen Schrank 60 bis 70 Jahre lang aufbewahrten Probe war dies ein erstaunliches, vor allem aber erfreuliches Ergebnis: Es ließ bereits vorab den guten Erhaltungszustand der Probe erahnen. Bei trockener Lagerung von biologischen Spuren ist eine gute Erhaltung über Jahre oder Jahrzehnte öfters zu beobachten (z. B. auch Spermien von U.S.-Präsident Bill Clinton am trocken im Schrank gelagerten Kleid der Praktikantin Monica Lewinsky). Als nächstes wurde ein Ouchterlony-Test durchgeführt, bei dem Antiseren von Rind, Schwein Mensch und Huhn gegen die Blutprobe aus der Kompresse aufgetragen wurden. Es zeigte sich keine Reaktion mit den Tier-Antiseren, jedoch ergab sich eine Reaktion mit dem menschlichen Antiserum. Das bedeutet erstens, dass das Blut nicht von den genannten Tierarten, und zweitens, dass es von einem Menschen stammt. Weil Therese über Jahre hinweg (freitags) blutete und zudem auch große Blutflecken auf ihrer Kleidung und besonders unter den Augen aufwies und da sie gleichzeitig einer extremen sozialen Kontrolle unterlag, hatte aus skeptischer Sicht zwar einerseits der Verdacht nahe gelegen, dass sie sich des Blutes von Tieren bediente; andererseits war es aber fraglich, wer es in ihr Zimmer transportiert hätte und wie dies geschehen sein könnte. Dieser Verdacht ist nunmehr ausgeräumt – voraussetzt, dass die Kompresse auf einem der blutenden Stigmata der Therese lag. Die Münchener Forensiker gingen nun noch einen Schritt weiter: Sie verglichen zwei Abschnitte der mitochondrialen DNA (mtDNA) aus der Speichelprobe der Nichte, dem Blut aus der Kompresse und den am Briefumschlag befindlichen Zellen. Anders als genomische DNA aus dem Zellkern wird mitochondriale DNA nur über die mütterliche Linie weitergegeben. Der Grund ist, dass das Spermium bei der Verschmelzung mit der Eizelle keine väterlichen Mitochondrien einbringt. (Das bedeutet hier, dass Therese und ihre Nichte die gleiche mitochondriale DNA ihrer gemeinsamen Vorfahrin geerbt haben.)

Tatsächlich fanden sich auf den mtDNA-Abschnitten HV1 und HV2 („hv“ für „hypervariabel“) aller Spuren identische Sequenzen. Damit ist nachgewiesen, dass das Blut in der Kompresse von derselben Person stammt wie die Zellen auf dem von Therese beschrifteten Briefumschlag, dass diese Person mit der Nichte von Therese auf mütterlicher Linie verwandt ist – und damit, dass das Blut in der Kompresse offenbar wirklich von Therese von Konnersreuth stammt. Auch ein Vergleich der genomischen DNA aus dem Blut in den mittleren Lagen der Kompresse zeigte volle Übereinstimmung mit den Zellen auf der Klebeleiste des Briefumschlags. Dazu wurden diejenigen DNA-Abschnitte untersucht, die heute routinemäßig für genetische Fingerabdrücke angewendet werden. Wohlbemerkt: Aus naturwissenschaftlicher Sicht beweisen diese Befunde keineswegs die Stigmatisierung. Aus meiner Sicht als Sachverständiger für biologische Spuren ist es z. B. interessant, dass die Blutspuren auf der Bekleidung und unter den Augen der Therese wie drapiert wirken – das heißt in Form und Lage unnatürlich. Da die Stigmatisierung von den Anhängern der Therese von Konnersreuth aber nunmehr trotzdem als „bewiesen“ angesehen werden mag und da die Blutungen nur als eine von mehreren wundersamen Erscheinungen gelten (weitere angebliche „Phänomene“ u. a.: Visionen, Nahrungslosigkeit), dürften diese die Seligsprechung weiterhin aktiv vorantreiben – trotz großer kriminalistischer Fragezeichen. Dr. Mark Benecke Dr. Mark Benecke ist international tätiger Kriminalbiologe und Mitglied im GWUP-Wissenschaftsrat sowie im wissenschaftlichen Beirat des Skeptiker. Anm. d. Redaktion: Für die Gläubigen bedeutet eine Seligsprechung, dass die Person „in besonderer Weise“ verehrt werden darf. Die katholische Kirche verehrt Selige (und Heilige) als Vorbilder christlichen Lebens. Der Seligsprechung geht ein Verfahren voraus, das vom Ortsbischof eingeleitet wird. Die Ortsgemeinde sammelt Beweise und Zeugenaussagen, die schließlich von der Kurienkongregation für Selig- und Heiligsprechungen in Rom überprüft werden. Ein solcher Prozess kann sich über Jahre und sogar Jahrzehnte hinziehen. Zum Fall Therese von Konnersreuth heißt es auf der (Pro-) Webseite www.thereseneumann.de: „Nach derzeitigem Stand ist der Seligsprechungsprozess vom Bistum Regensburg noch nicht eingeleitet worden. Dem Bischof von Regensburg liegen bereits Tausende von Bitten um Einleitung des Prozesses vor.“

Literatur

  • Benecke, M. (2001): Genetischer Fingerabdruck. Enzyklopädie der Naturwissenschaften und Technik. Ecomed eds., Landsberg/Lech. 2. Aufl., Suppl. 6 (2/2001), S. G 1-10 (www.benecke.com/dna.html)
  • Harder, B. (2003): Pater Pio u. d. Wunder d. Glaubens. Pattloch/Weltbild, Augsb.
  • Hanauer, J. (1997):„Konnersreuth“ oder Ein Fall von Volksverdummung. Karin Fischer, Aachen
  • Hanauer, J. (1999): Wahrhaftigkeit u. Glaubwürd. i. d. katholischen Kirche. Der Fall Konnersreuth. Mit e. Geleitwort von O.Prokop. Karin Fischer, Aachen
  • Klosa, J. (1982): Das Wunder von Konnersreuth in naturwissenschaftlicher Sicht. Pattloch, München
  • Rolf, B. (2004): Wunder oder Fälschung? Untersuchungen am Blut der stigmatisierten Therese von Konnersreuth. Vortrag auf d. 24. Spurenworkshop der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, Köln, 6. 2. 2004
  • Vandereycken, W./Van Deth, R./Meermann, R. (1990): Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen. Biermann, Zülpich

 

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 1/2004.

Immer wieder wird die GWUP danach gefragt, wie sie denn im Rahmen ihrer Tätigkeit zur Religion stehe bzw. ob auch religiöse Aussagen zu ihrem Gegenstandsbereich gehörten. Da sie auf diese Weise regelmäßig mit dem Meinungsstreit der Weltanschauungen konfrontiert wird und die Fragestellung zudem komplex ist, war dies für die GWUP Anlaß, im Juni 1997 ein GWUP-Seminar eigens zu dieser Frage durchzuführen. In dem folgenden Artikel wurden die dort erarbeiteten und ausformulierten Positionen zusammengefaßt

1. Vorklärungen

Die Frage, ob sich die die GWUP auch mit dem Thema Religion auseinandersetzen sollte (und wenn ja wie) bzw. welches Verhältnis sie zum Thema Religion hat, kann selbstverständlich nicht geklärt werden durch Verweise darauf, welche religiösen Überzeugungen vermutlich wie viele der GWUP-Mitglieder (nicht) teilen dürften (ganz abgesehen davon, daß dies gar nicht bekannt ist). Aus zwei Gründen ist dies hier uninteressant: Denn einerseits geht es bei dieser Frage gar nicht darum, welche Positionen faktisch wie viele GWUP-Mitglieder vertreten, sondern darum, welche Positionen sie im Rahmen der allgemeinen Ziele, die sich die GWUP gesetzt hat, eigentlich vertreten sollten. Dies ist ein grundsätzlicher Unterschied. Andererseits muß auch nicht jede beliebige von GWUP-Mitgliedern vertretene Meinung für die Zielsetzung der GWUP von Relevanz sein. So ist es z.B. für die GWUP irrelevant, wie sich ihre Mitglieder hinsichtlich der parteipolitischen Orientierung zusammensetzen, denn die GWUP verfolgt gemäß ihrer Satzung keine Parteipolitik.

Die zur Diskussion stehende Frage kann natürlich auch nicht durch Hinweise auf Autoritäten bzw. durch Mehrheitsvotum entschieden werden. Genauso wenig kann es darum gehen, ob die Behandlung des Themas Religion für die GWUP eher nützlich oder schädlich wäre, denn eine solche Argumentation wäre opportunistisch.

Die Antwort muß vielmehr aus den allgemeinen Zielen, die sich die GWUP gestellt hat, abgeleitet und begründet werden.

2. Ziele und Gegenstandsbereich der GWUP

Die Bezeichnung GWUP ist Programm: „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“. Unter „Parawissenschaften“ werden dabei Aussagesysteme verstanden, die selbst den Anspruch stellen, wissenschaftlichen Kriterien zu genügen, bei denen aber mehr oder minder starke Zweifel bestehen, ob es sich nicht tatsächlich um „Pseudowissenschaften“ handelt, also um Aussagesysteme, die diesen Anspruch nicht einhalten können.

„Parawissenschaften“ lassen sich weiter differenzieren hinsichtlich der Art und Weise wie sie ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit stellen. Im folgenden sollen drei Typen unterschieden werden:

  1. „explizite Parawissenschaften“: Anhänger solcher Parawissenschaften bezeichnen ihre Überzeugungen ausdrücklich als „wissenschaftlich“.
  2. „implizite Parawissenschaften“: Hier werden die Behauptungen nicht (ausdrücklich) als „wissenschaftlich“ bezeichnet, wohl aber als „überprüfbar“ im Sinne von wissenschaftlicher Überprüfbarkeit.
  3. „negierte Parawissenschaften“: Hier wird weder der Anspruch der Wissenschaftlichkeit noch der Überprüfbarkeit gestellt, tatsächlich sind die aufgestellten Behauptungen aber durchaus wissenschaftlich überprüfbar.

Wird der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit weder explizit noch implizit erhoben und besteht objektiv auch keine solche Überprüfungsmöglichkeit, dann handelt es sich um keine Parawissenschaft. Folglich gehört ein solches Aussagesystem dann auch nicht zum Themenkreis, mit dem sich die GWUP beschäftigt.

Die Methoden, die die GWUP zur Untersuchung von Parawissenschaften heranzieht, sind wissenschaftliche Methoden (keineswegs nur naturwissenschaftliche Methoden). Behauptungen, die mit wissenschaftlichen Methoden nicht prüfbar sind, sind nicht Gegenstand der GWUP.

Betont werden muß in diesem Zusammenhang allerdings, daß die Behauptung, die Aussage X sei eine wissenschaftlich überprüfbare Behauptung, in jedem Fall eine wissenschaftlich prüfbare Behauptung ist, auch wenn die Aussage X in Wirklichkeit doch nicht wissenschaftlich prüfbar sein sollte.

Die GWUP untersucht Parawissenschaften hinsichtlich sehr verschiedener Fragestellungen, z.B.:

  1. Sind die erhobenen Behauptungen zutreffend? Inwiefern sind sie einerseits mit unserem bisherigen wissenschaftlichen Wissen vereinbar („Können sie stimmen?“),inwiefern stimmen sie andererseits empirisch, d.h. unabhängig von der „Kann-Frage“?
  2. Wie ist der (Nicht-)Glaube an derartige Behauptungen aus psychologischer, soziologischer oder historischer Perspektive verständlich? Auch: Inwiefern sind parawissenschaftliche Überzeugungssysteme untereinander und mit anderen Überzeugungssystemen kompatibel?
  3. Sind die Auswirkungen eines parawissenschaftlichen Überzeugungssystems auf Individuen bzw. auf Gesellschaften vor dem Hintergrund gewisser normativer Setzungen eher positiv oder negativ (Frage nach der Chancen-Risiko-Relation)?
  4. Wie können die Ergebnisse der Fragen (a), (b) und (c) popularisiert werden? Welche Zielgruppen gibt es, wie sind sie zu erreichen, was sind die Standardargumenationsmuster? (Dies ist der „aufklärerische“ Aspekt der GWUP-Arbeit: ihr geht es also nicht nur um die Gewinnung, sondern auch um die Verbreitung von Erkenntnissen).

Die genannten „Frageebenen“ sind zunächst einmal relativ unabhängig voneinander, denn von der Antwort auf eine der Fragen ist nicht schon automatisch auf die Antwort einer anderen Frage zu schließen. Allerdings sind sie auch nicht völlig isoliert zu betrachten: Es wäre zum Beispiel naiv, sich Frage (d) zu widmen, wenn man nicht vorher zuverlässige Antworten auf (b) gefunden hat, was auch das Bemühen einschließt, die Anhänger von Parawissenschaften in ihrer Haltung verstehen zu lernen.

Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Religion für die GWUP muß differenziert nach diesen vier Frageebenen betrachtet werden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich zunächst nur auf die Ebene (a). Begründet liegt dies darin, da die Definition von „Parawissenschaft“ im Umfeld der Frageebene (a) angesiedelt ist.

3. Zum Begriff der „Religion“

Vor einem Antwortversuch auf die gestellte Frage muß natürlich erst der zentrale Begriff der „Religion“ geklärt werden. Leider glänzt er sowohl im Alltag als auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch durch eine geradezu schillernde Unbestimmtheit. Wir legen hier fest, daß „Religion“ nicht die pure Mitgliedschaft in einer sich selbst als religiös definierenden Organisation (z.B. einer Kirche oder Sekte) meint (oder gar die von einer solchen Organisation festgelegten Dogmen), sondern ganz allgemein religiöse Überzeugungen, Handlungen und Erfahrungen. Denn es gibt auch nicht-institutionalisierte Formen von Religion, eine Reduktion von „Religion“ auf bloße Kirchlichkeit würde viel zu kurz greifen. Für die GWUP ist es dabei ganz unerheblich, ob bestimmte Behauptungen nur von einzelnen Individuen, Sekten oder großen Kirchen vertreten werden.

Grundsätzlich muß zwischen (mindestens) zwei Varianten der Begriffsverwendung unterschieden werden: substantielle Religionsdefinitionen wie sie etwa von Rudolf Otto oder Max Weber vertreten wurden, halten den Bezug auf oder die Begegnung mit dem „Heiligen“ (im Gegensatz zum „Profanen“) für das wesentliche Merkmal von Religion. Als Beispiel sei die Definition von Goddijn angeführt:

„Religion ist der Glaube an und die Beziehung zu Werten von transzendenter Bedeutung: an letzte und höchste Macht oder auch Mächte, die für das Ganze oder für einen wichtigen Teil der fundamentalen Weltordnung und der menschlichen Existenz als verantwortlich und ursächlich angesehen wird.“

Der Nachteil solcher substantieller Definitionen ist, daß die Trennung zwischen Immanenz und Transzendenz als Definitionsmerkmal kaum mehr aufrecht zu erhalten ist, sobald wir den okzidentalen Kontext verlassen oder zum Beispiel Formen der New-Age-Religiosität betrachten.

Im Gegensatz dazu wird bei funktionalen Religionsdefinitionen der Begriff der „Religion“ an Funktionen festgemacht, die gewisse Überzeugungen oder Praktiken für das Individuum und für die Gesellschaft spielen, etwa als „ein System von Überzeugungen und Praktiken, durch welche eine Gruppe von Menschen mit den letzten Problemen des menschlichen Lebens ringt“ (Yinger), als ein „Unterfangen des Menschen, einen heiligen Kosmos zu errichten“ (Peter L. Berger) oder als „sozialer Kitt“ bei der Integration der Gesellschaft (Durkheim). Insofern kann es auch säkuläre Religionen („Weltanschauungen“) geben, was natürlich mit dem Nachteil verbunden ist, daß der Religionsbegriff dadurch immer schwammiger wird.

Welchen Religionsbegriff wollen wir nun verwenden? Zumindest bezüglich der Frageebene (a) der GWUP ist wohl ein substantieller Religionsbegriff sinnvoller, weil handlicher.

Nun könnte man Immanenz mit empirischer Prüfbarkeit und Transzendenz (als der „Domäne“ von Religion) mit empirischer Unzugänglichkeit gleichsetzen. Dann wäre Religion zweifelsohne grundsätzlich kein Thema für die GWUP (sofern die „Religionen“ nicht wissenschaftliche Ansprüche erheben), weil sie auf empirische Überprüfbarkeit angewiesen ist und folglich zu transzendenten oder metaphysischen Aussagen, die sich auf die existentielle Grundsituation des Menschen beziehen, schweigen muß.

Ganz so einfach ist es jedoch nicht, denn faktisch haben wir es mit einem historischen Ausdifferenzierungsprozeß zwischen „Wissenschaft“ und einem so verstandenen Idealtypus von Religion zu tun, der noch nicht sehr lange zurückliegt: Noch vor wenigen Jahrhunderten wurde ganz einfach nicht zwischen empirischen und religiösen Wahrheiten unterschieden. In einem zähen aber steten „Rückzugsgefecht“ hat sich Religion nur sehr langsam, genötigt durch Erkenntnisfortschritte in den Wissenschaften, aus potentiell oder de facto empirisch zugänglichen Bereichen zurückgezogen (zumindest im Okzident). Als ein Relikt dessen müssen wir damit rechnen, daß auch heute noch in der Alltagssprache einige eigentlich empirisch überprüfbare Sachverhalte unter dem Etikett „Religion“ geführt werden. Auch ist es natürlich möglich, daß sich pseudowissenschaftlich arbeitende Gruppierungen nur zum Schein das Mäntelchen der „Religion“ umhängen, um in den Genuß der staatlich garantierten Religionsfreiheit zu gelangen. Dies kann dann kein Hinderungsgrund für die GWUP sein, solche Behauptungen mit wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen.

Wenn wir öffentlich die Frage thematisieren, ob Religion ein Thema für die GWUP sein kann, dann müssen wir auch an die alltagssprachliche Verwendung des Begriffs Religion denken, wollen wir nicht ständig mißverstanden werden.

4. Die Relevanz von „Religion“ für die GWUP

Letztlich folgt aus dem bisher gesagten, daß aus der öffentlichen Etikettierung eines Themas als „Religion“ oder „religiös“ noch nicht abgeleitet werden kann, ob dieses Thema für die GWUP relevant ist oder nicht. Ausgehend von einem solchen alltagssprachlichen Verständnis von „Religion“ dürften dann die von der GWUP untersuchbaren Behauptungen sowie Behauptungen, die unter dem Etikett „Religion“ geführt werden, eine Schnittmenge bilden. Es gibt also (A) Behauptungen, die nicht „religiös“ aber GWUP-relevant sind, (B) Behauptungen, die „religiöser“ Natur aber nicht GWUP-relevant sind, als auch (C) Behauptungen, die gewöhnlich als „religiös“ klassifiziert und trotzdem GWUP-relevant sind (also die „Schnittmenge“). Allgemein gehören nur parawissenschaftliche Behauptungen zum Gegenstandsbereich der GWUP, gleichgültig, ob sie als „religiös“ bezeichnet werden oder nicht, gleichgültig, ob oder welche weltanschauliche Herkunft sie haben.

5. Beispiele

Welche Themen fallen beispielsweise in die Kategorien (A), (B) und (C)? In der Kategorie (A) sind sicherlich Behauptungen wie Erdstrahlen, Homöopathie, UFOs oder Astrologie zu finden (jedenfalls solange man keinen funktionalen Religionsbegriff anlegt).

In der Schnittmenge (C) ist beispielsweise die Frage nach der Authenzität des „Grabtuchs von Turin“ anzusiedeln. Oder: Gibt es, wie so oft behauptet, wissenschaftliche Belege für Reinkarnation oder für ein Leben nach dem Tod, für die Wirksamkeit von Gebeten, für Wunderheilungen, Madonnentränen oder Marienerscheinungen? Ist wirklich in nächster Zeit mit dem Weltuntergang zu rechnen, wie manche religiöse Gemeinschaften verbreiten? Sind die Behauptungen des Kreationismus haltbar? All dies sind mit wissenschaftlichen Methoden diskutierbare Fragen, die folglich zum Themenbereich der GWUP gehören.

Dazu zählen im Prinzip auch Fragen, die die moderne historisch-kritische Theologie aufgeworfen hat: Stammen zum Beispiel alle Paulusbriefe wirklich von Paulus? Sind die Evangelienberichte zur Geburt Jesu nur fromme Dichtungen? Hatte Jesus die Absicht, eine Kirche zu gründen oder war er vom unmittelbar bevorstehenden Weltende überzeugt, hat er sich also geirrt? Auch diese Fragen könnten, da im Rahmen von kritischer Textanalyse wissenschaftlich überprüfbar, prinzipiell zum Thema der GWUP werden; es handelt sich um negierte parawissenschaftliche Aussagesysteme, sofern sie mit dem Anspruch des „Glaubens“ vorgetragen werden. Dabei ist es übrigens ganz und gar unwesentlich, daß hier wegen der großen zeitlichen Distanz und der mangelhaften Informationslage nur Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können, denn dies ist nur ein gradueller Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Absolut sicheres Wissen ist ohnehin in der Wissenschaft grundsätzlich nicht verfügbar.

Nicht in dieser Schnittmenge, also der Kategorie (B) zuzurechnen, ist etwa die Frage nach der (Nicht-)Existenz Gottes bzw. von Göttern (sofern ihnen keine wissenschaftlich überprüfbaren Eigenschaften zugeschrieben werden), nach dem „Sinn des Lebens“, nach der Rechtfertigung von Werten und Normen und diverse andere ethische, teleologische und soteriologische Fragen. Auch religionspolitische Forderungen, etwa bezüglich der Trennung von Kirche und Staat, sind kein Thema für die GWUP, weil sie normative Postulate und als solche einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht zugänglich sind. Die GWUP kann in diesem Zusammenhang allerdings fordern, daß wissenschaftliche Fragen nur mit wissenschaftlichen Argumenten entschieden werden sollten, dies gilt dann aber für alle Arten von Organisationen, für Kirchen in nicht anderer Weise als für z.B. für Parteien oder auch für wissenschaftliche Organisationen. Natürlich kann man sich in eine wissenschaftliche Debatte auch mit z.B. ethischen Argumenten einschalten, was durchaus legitim ist, solange die Argumente als solche gekennzeichnet werden.

Allgemein muß in diesem Kontext auch betont werden, daß es in der Welt sicherlich viele sinnvolle und erstrebenswerte Forderungen gibt, die deshalb aber noch lange nicht zu einem Thema für die GWUP werden.

6. Können ist nicht Müssen

Daß die GWUP ein Thema im Rahmen ihrer allgemeinen Zielsetzung behandeln kann (nur darum geht es hier!), heißt noch nicht, daß sie dieses Thema auch behandeln muß. Schon aus Ökonomiegründen kann die GWUP gar nicht wirklich alle Behauptungen untersuchen, die für sie prinzipiell untersuchbar wären. Sie wird sich immer überlegen müssen, ob bestimmte Behauptungen aus ihrem Gegenstandsbereich etwa für die forschungsleitenden Fragestellungen oder unter gesellschaftspolitischer Perspektive relevant genug sind, ob sie nicht schon ausreichend von anderen Personen oder Organisationen untersucht wurden und werden, ob die fachlichen und finanziellen Kapazitäten der GWUP zur Untersuchung bestimmter Behauptungen ausreichen usw. Sie wird also auswählen müssen, und zwar in erheblichem Ausmaß. Dies ist aber hier nicht das Thema.

In diesem Text geht es nur darum, die maximal denkbare Ausdehnung des GWUP-Gegenstandsbereichs abzugrenzen, also festzustellen, was grundsätzlich zum Thema für die GWUP werden könnte und was nicht.

7. Überschätzung der Wissenschaft?

Die Weigerung der GWUP, zu weltanschaulichen Fragen Stellung zu nehmen, bedeutet keineswegs, daß diese Fragen unwichtig wären. Die GWUP behauptet nicht, daß wissenschaftliche Erkenntnis allein ausreichen würde, um sich als Mensch in dieser Welt zurecht zu finden. Dafür sind über wissenschaftliche Erkenntnisse hinausgehende, sicher unterschiedlich stark reflektierte weltanschauliche Orientierungen notwendig (z.B. Naturalismus, Theismus). Die Wissenschaft allein kann solche Orientierungen nicht bieten.

Die GWUP vertritt nicht eine Haltung, die annimmt, alle Probleme der Welt wären letztlich allein durch wissenschaftliches Denken lösbar und ergänzende, wissenschaftlich nicht begründbare Überzeugungen seien völlig überflüssig.

Zudem behauptet die GWUP selbstverständlich nicht, daß Wissenschaft völlig voraussetzungsfrei sei. Auch Wissenschaft basiert auf gewissen axiologischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen, bemüht sich dabei aber um äußerste Sparsamkeit, genaue Explizierung und mögliche Falsifizierung im Sinne eines konsequenten Fallibilismus.

Die GWUP geht allerdings davon aus, daß im Konfliktfall wissenschaftliches Wissen anderen Formen des Wissens vorzuziehen ist, weil wissenschaftliches Wissen das sicherste Wissen ist, über das wir derzeit verfügen.

Das Vertreten oder die Kritik weltanschaulicher Positionen an sich gehört hingegen nicht zum Aufgabenbereich der GWUP. Dafür gibt es andere Vereinigungen, in denen sich natürlich ggf. auch GWUP-Mitglieder privat engagieren können. Innerhalb der GWUP herrscht weltanschaulicher Pluralismus.

8. Die GWUP ist keine Weltanschauungsgemeinschaft

Die GWUP ist keine Weltanschauungsgemeinschaft, sondern eine wissenschaftliche Gemeinschaft. Sie führt keinen Weltanschauungskampf. Sie wird sich auch nicht vor den Karren von bestimmten Weltanschauungsgemeinschaften spannen lassen.

Weder eine allgemeine Religionskritik noch das Vertreten eigener weltanschaulicher oder religiöser Positionen zählt zu den Aufgaben der GWUP. Eine solche Auffassung ist nicht etwa inkonsequent, sondern konsequent im Sinne der allgemeinen Zielrichtung der GWUP. Wer meint, die von der GWUP angeführten Argumente gegen Pseudowissenschaften ließen sich ebensogut auch gegen Religionen allgemein anführen (im Sinne einer pauschalen Religionskritik), oder wer denkt, die GWUP müsse einen „wahren Glauben“ anstelle eines von ihr kritisierten „Aberglaubens“ anbieten, der hat die Argumentationsweise und die Aufgabenstellung der GWUP nicht verstanden.

9. Zusammenarbeit mit religiösen und weltanschaulichen Organisationen

Im Rahmen der so festgelegten Aufgabenstellung der GWUP und ihrer Grenzen kann, sollte und arbeitet die GWUP auch faktisch durchaus mit weltanschaulichen und religiösen Organisationen (z.B. Kirchen, nicht-religiöse weltanschauliche Vereinigungen) zusammen, soweit es thematische Überschneidungen gibt und insofern dadurch die weltanschauliche Neutralität der GWUP nicht in Mitleidenschaft gezogen wird.

10. Weitere Fragestellungen der GWUP

Die bisherigen Ausführungen bezogen sich alle auf die GWUP-Frageebene (a), also auf die Frage, inwiefern die von der GWUP untersuchten parawissenschaftlichen Behauptungen zutreffend sind. Daran lehnen sich die Frageebenen (c) und (d) an: nur Behauptungen, die bei (a) zu einem Thema der GWUP werden können, können von der GWUP auch unter den Perspektiven von (c) und (d) betrachtet werden.

Eine Sonderstellung nimmt dagegen die Frageebene (b) ein, die Parawissenschaften als Überzeugungssysteme betrachtet. An dieser Stelle kommt dann doch noch der oben erwähnte funktionale Religionsbegriff zum Tragen. Denn was aus GWUP-Perspektive als Parawissenschaft erscheint, kann funktional gesehen für die Individuen durchaus einen „religioiden“ Charakter haben, es kann sich um ein funktionales Äquivalent für eine traditionelle Sozialform von Religion handeln. Das ist aber eine ganz wesentliche Erkenntnis, will man paranormale Überzeugungssysteme als Phänomene unserer modernen Gesellschaft verstehen lernen, will man die Anhänger von Parawissenschaften verstehen lernen. Auch hinsichtlich Frageebene (b) können nur solche Behauptungen zum Thema der GWUP werden, die diese Bedingung auch bei (a) erfüllen, allerdings ist hier oft auch nach Korrelaten zu traditionell-religiösen Überzeugungssystemen zu fragen. Die diesbezüglichen Ergebnisse von Religionswissenschaft, Soziologie und Psychologie – auch zu traditionellen Religionen – sind dabei in vergleichender Perspektive zu berücksichtigen. Das ist eine etwas andere Situation als bei den Frageebenen (a), (c) und (d), aber auch hier wird Religion und Weltanschauung „an sich“ nicht zum Gegensstandsbereich der GWUP, sondern sie wird nur als Korrelat oder Einflußfaktor in Betracht gezogen.

11. Zusammenfassung

Die GWUP ist keine Weltanschauungsgemeinschaft. Sie beschäftigt sich ausschließlich mit wissenschaftlich prüfbaren Behauptungen. Viele weltanschauliche oder religiöse Aussagen sind dies aber nicht: Die Fragen z.B. nach der (Nicht-)Existenz Gottes oder nach dem „Sinn des Lebens“ können nicht wissenschaftlich entschieden werden. Die GWUP bestreitet nicht, daß diese und andere Fragen interessant und wichtig sind, sie gehören aber nicht zum Aufgabenbereich der GWUP. Daher herrscht innerhalb der GWUP weltanschaulicher Pluralismus: Unter den Mitgliedern der GWUP finden sich sowohl Gläubige aus verschiedenen Religionen als auch Menschen ohne Konfession.

Anders ist es mit Behauptungen, die als „religiös“ bezeichnet werden, aber trotzdem prüfbar sind, etwa die Frage der Authentizität von Wundererscheinungen oder -heilungen oder die nach der Echtheit des angeblichen Jesus-Grabtuchs von Turin. Hier geht es nicht um Glauben, vielmehr können und sollten angebliche „Wunder“ wissenschaftlich untersucht werden.

Literatur:

 

 

Linktipps:

 

 

Robert Todd Carroll (Übersetzung: Tobias Budke)

Als „Leitfaden für den menschlichen Verstand“ bezeichnet die Scientology-Organisation das Buch „Dianetik“ ihres Gründers Ron Hubbard. Nach Auffassung der Scientologen ist Dianetik zugleich eine Wissenschaft und eine therapeutische Technik, die alle psychosomatischen Krankheiten und mentalen Störungen heilen kann. Doch was ist tatsächlich von dieser Heilslehre zu halten?

Im Jahre 1950 veröffentlichte Lafayette Ronald Hubbard sein Werk „Dianetik: Die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit“. (Herausgegeben von The American Saint Hill Organization, Los Angeles. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diese gebundene Ausgabe.) Dieses Buch ist die „Bibel“ der Scientology, die als Wissenschaft, als Kirche und als Religion bezeichnet wird. Hubbard teilt dem Leser mit: „Dianetik enthalte eine therapeutische Technik, mit der alle nicht-organischen Geisteskrankheiten und alle organischen psychosomatischen Erkrankungen mit der Garantie vollständiger Heilung behandelt werden können …“

Er behauptet, er habe die „einzige Ursache mentaler Störungen“ entdeckt (S. 6). Eine vorbeugende Warnung findet sich jedoch auf dem Einband des Buches: Sie besagt, dass „Scientology und ihr Teilgebiet, Dianetik, wie von der Kirche praktiziert … keine Personen anzunehmen beabsichtigen, die eine Behandlung für körperliche oder geistige Erkrankungen wünschen. Diese seien an qualifizierte Spezialisten verwiesen, die sich mit diesen Problemen befassen.“

Dieses „Dementi“ scheint offensichtlich ein Schutzmechanismus gegen Vorwürfe zu sein, man praktiziere Medizin ohne Berufslizenz, da der Autor wiederholt darauf beharrt, Dianetik könne so ziemlich alle Leiden und Plagen heilen. Er beharrt ebenso nachdrücklich darauf, bei Dianetik handele es sich um eine Wissenschaft. Allerdings kann jeder, der sich mit wissenschaftlichen Texten auskennt, schon nach den ersten paar Seiten von „Dianetik“ feststellen, dass es kein wissenschaftliches Werk und der Autor kein Wissenschaftler ist. Dianetik ist ein klassisches Beispiel für eine Pseudowissenschaft.

Auf Seite 5 von „Dianetik“ versichert Hubbard, eine Wissenschaft des Geistes müsse „eine einzige Ursache aller Geisteskrankheiten, Psychosen, Neurosen, Zwangshandlungen, Verdrängungen und sozialen Störungen“ finden. Eine solche Wissenschaft muss laut Hubbard „unabänderliche wissenschaftliche Beweise über die grundlegende Natur und den funktionalen Hintergrund des menschlichen Verstandes“ liefern und „Ursache und Heilung aller psychosomatischen Krankheiten“ verstehen. Dennoch behauptet er gleichzeitig, es sei sinnlos, von einer Wissenschaft des Geistes zu erwarten, sie könne eine einzige Ursache für Geisteskrankheiten ermitteln, da manche durch“missgebildete, zerstörte oder verletzte Gehirne oder Nervensysteme“, andere wiederum durch ärztliche Eingriffe verursacht werden. Frohgemut trotz dieses offensichtlichen Widerspruchs fährt Hubbard fort und stellt fest, dass diese Wissenschaft des Geistes „in Bezug auf die experimentelle Präzision auf einer Stufe mit Physik und Chemie stehen würde.“

Danach erfahren wir, Dianetik sei „… eine geordnete Wissenschaft des Denkens, errichtet auf klaren Axiomen: Aussagen über Naturgesetze auf derselben Stufe wie die der Naturwissenschaften … “ (S. 6).

Es gibt klare Hinweise darauf, dass diese so genannte Wissenschaft des Geistes überhaupt keine Wissenschaft ist. Einen Beweis liefert die Behauptung, Dianetik sei errichtet auf „eindeutigen Axiomen“; ein anderer ergibt sich aus Hubbards a priori-Wissen über die Zahl der kausalen Mechanismen, die für alle Phänomene existieren müssen. Echte Wissenschaft basiert auf vorläufigen Hypothesen zur Erklärung beobachteter Phänomene. Die wissenschaftliche Ermittlung von Ursachen – einschließlich ihrer Zahl – ist eine Sache der Entdeckung, nicht der willkürlichen Festsetzung. Außerdem haben Wissenschaftler im Allgemeinen Respekt für logisches Denken und täten sich schwer, ohne Schalk im Nacken zu sagen: Diese neue Wissenschaft muss nachweisen, dass es eine einzige Ursache aller geistigen Erkrankungen gibt; ausgenommen hiervon seien diejenigen geistigen Erkrankungen, die eine andere Ursache haben.

Weitere Beweise für die Unwissenschaftlichkeit der Dianetik liegen vor. Hubbards Theorie des Verstandes hat nur wenig gemein mit moderner Neurophysiologie und all dem, was über das Gehirn und seine Funktionsweise bekannt ist. Laut Hubbard hat der Verstand drei Teile: „Der analytische Verstand ist der Teil, der Erfahrungen wahrnimmt und speichert, um Probleme zu erfassen, zu lösen und den Organismus entlang der vier Haupttriebe zu steuern. Er denkt in Unterschieden und Ähnlichkeiten. Der reaktive Verstand ist der Teil des Geistes, der körperlichen und emotionalen Schmerz ablegt und speichert und bestrebt ist, den Organismus ausschließlich auf einer Reiz-Reaktions-Basis zu lenken. Dieser Teil denkt nur in Identitäten. Der somatische Verstand ist derjenige, der – angeleitet vom analytischen oder reaktiven Verstand – Lösungen auf der körperlichen Ebene in die Tat umsetzt.“ (S. 39)

Wenn wir Hubbard glauben wollen, dann ist die einzige Ursache von Geisteskrankheit und psychosomatischen Störungen das Engramm. Engramme finden sich in jedermanns „Engramm-Speicherbank“, d. h. im reaktiven Verstand.“Der reaktive Verstand kann bei einem Menschen Arthritis, Asthma, Allergien, Stirnhöhlenvereiterung, Herzprobleme, hohen Blutdruck und alle weiteren Krankheiten auf der Liste der Psychosomatik erzeugen, wobei noch einige hinzukommen, die niemals klar als psychosomatisch eingestuft wurden, etwa die Erkältung“ (S. 51), so Hubbard. Man sucht allerdings vergeblich nach Belegen für diese Behauptungen und wird abgespeist mit: „Das sind wissenschaftliche Fakten. Sie passen ausnahmslos zu den Beobachtungsergebnissen.“ (S. 52)

Ein Engramm wird definiert als“eine klare und permanente Spur, die von einem Reiz auf dem Protoplasma des Gewebes zurückgelassen wird. Man betrachtet es als eine Einheitengruppe von Reizen, die nur das zelluläre Wesen beeinträchtigen.“ (S. 60, Anmerkung)

Wir erfahren, dass Engramme nur während Phasen körperlichen oder seelischen Leidens aufgezeichnet werden. Während dieser Phasen macht der „analytische Verstand“ dicht, und der reaktive Verstand wird aktiviert. Der analytische Verstand hat allerlei fantastische Eigenschaften, einschließlich der Unfähigkeit, Fehler zu begehen. Er hat, so Hubbard, normale Erinnerungsspeicher im Gegensatz zum reaktiven Speicher. Diese normalen Erinnerungsspeicher zeichnen alle möglichen Wahrnehmungen auf und sind laut Hubbard vollkommen und speichern alles Gehörte und Gesehene ganz exakt.

Wie steht es mit Beweisen für die Existenz von Engrammen und ihrer „festen Verankerung“ in Zellen während schmerzhafter körperlicher oder emotionaler Erlebnisse? Hubbard sagt nichts von irgendwelchen Laborstudien, aber er sagt: „In der Dianetik, auf der Ebene der Laborbeobachtungen, entdecken wir zu unserem großen Erstaunen, dass Zellen auf eine zurzeit noch unerklärliche Art offenbar ein Bewusstsein haben. Wenn wir also nicht eine menschliche Seele annehmen wollen, die in Sperma und Ei bei der Zeugung eintritt, dann gibt es Dinge, die keine andere Annahme erklären kann außer der Annahme vom wie auch immer gearteten Bewusstsein der Zelle.“ (S. 71)

Diese Erklärung liegt nicht auf der „Ebene der Laborbeobachtungen“, aber sie stellt eine falsche Alternative dar und führt zu einer Scheinfrage. Darüber hinaus hat die Theorie von Seelen, die in Zygoten eintreten, zumindest einen Vorzug vor Hubbards Vorstellungen: Sie basiert nicht auf Täuschung und ist eindeutig metaphysisch. Hubbard hingegen ist bemüht, seine metaphysischen Behauptungen im wissenschaftlichen Gewand zu präsentieren: „Die Zellen als Gedankeneinheiten haben Einfluss, als Zellen, auf den Körper als Gedankeneinheit und Organismus. Wir sind nicht gezwungen, diese strukturellen Probleme zu entwirren, um unsere funktionalen Grundannahmen zu klären. Zellen speichern offenbar Engramme von schmerzhaften Erlebnissen. Schließlich sind sie es, die verletzt werden…

Der reaktive Verstand könnte durchaus die kombinierte zelluläre Intelligenz sein. Es ist nicht nötig, anzunehmen, dass es so ist, aber es ist eine praktische Strukturtheorie angesichts des Mangels an ernsthafter Arbeit auf dem Gebiet der Strukturen. Die reaktive Engramm-Bank könnte aus dem Material bestehen, das die Zellen selber lagern. Es spielt im Moment noch keine Rolle, ob dies glaubhaft oder unglaublich ist … Es ist eine wissenschaftliche Tatsache – beobachtet und getestet – dass der Organismus angesichts körperlicher Schmerzen zulässt, dass der Analysierende aus dem Kreislauf gestoßen wird und daher nur eine begrenzte oder gar keine Menge an persönlichem Bewusstsein als Einheitsorganismus besteht.“ (S. 71)

Hubbard versichert, dass diese Tatsachen auf Beobachtungen und Tests basieren, aber Fakt ist, dass keine ernsthafte Arbeit auf diesem Gebiet geleistet wurde. Die folgenden Beispiele sind typisch für die „Beweise“, die Hubbard für seine Engramm-Theorie liefert: „Eine Frau wird von einem Schlag getroffen. Sie ‚verliert das Bewusstsein‘. Sie wird getreten und als Simulantin bezeichnet; man sagt ihr, sie tauge nichts, sie sei launisch und unberechenbar. Während dessen wird ein Stuhl umgeworfen. Ein Wasserhahn läuft in der Küche. Ein Auto fährt am Haus vorbei die Straße entlang. Das Engramm enthält eine laufende Aufzeichnung all dieser Wahrnehmungen: Sicht, Geräusche, Körperkontakt, Geruch, organische Wahrnehmung, kinetischer Sinn, Gelenkposition, Durst etc. Das Engramm beinhaltet alles, was die Frau wahrgenommen hat, während sie ‚ohne Bewusstsein‘ war: Lage und Gefühlsausdruck der Stimme, Geräusch und Gefühl der ersten und späteren Schläge, den Kontakt mit dem Fußboden, Gefühl und Geräusch des umkippenden Stuhls, die organische Wahrnehmung des Schlages, vielleicht auch den Geschmack von Blut oder irgendetwas anderem im Mund, den Geruch der Person, die sie angreift, ebenso wie die Gerüche im Zimmer, das Geräusch des vorbeifahrenden Autos (Motor und Reifen), etc.“ (S. 60)

Inwieweit dieses Beispiel einen Bezug zu Geisteskrankheit oder psychosomatischen Erkrankungen hat, wird von Hubbard so erklärt: „Das Engramm, das die Frau erworben hat, enthält eine neurotische positive Suggestion … Man hat ihr gesagt, sie sei eine Simulantin, sie tauge nichts, sie sei launisch und unberechenbar. Wird das Engramm dann später auf eine der zahllosen möglichen Arten wieder ausgelöst [etwa durch das Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens bei gleichzeitig laufendem Wasserhahn und einem umkippenden Stuhl], dann bekommt sie das Gefühl, sie tauge nichts, sie sei eine Simulantin und sie werde mal wieder einer Laune nachgeben.“ (S. 66)

Eine Methode, solche Behauptungen empirisch zu testen, kann es nicht geben. Eine „Wissenschaft“, die nur aus solchen Behauptungen besteht, ist nichts als eine Pseudowissenschaft.

Hubbard gibt an, enorme Datenmengen seien gesammelt und nicht eine einzige Ausnahme von seiner Theorie gefunden worden (S. 68). Wir müssen seinem Wort vertrauen, scheint es, denn die „Datenmengen“, die er präsentiert, haben alle die Form von Anekdoten oder erfundenen Beispielen wie dem obigen.

Ein weiteres Indiz für die Unwissenschaftlichkeit der Dianetik und der Ahnungslosigkeit ihres Begründers in Bezug auf die wissenschaftliche Arbeitsweise findet sich in Behauptungen wie dieser: „Mehrere Theorien könnten aufgestellt werden, warum der menschliche Geist sich so und nicht anders entwickelte, aber es handelt sich um Theorien, und Dianetik befasst sich nicht mit Strukturen.“ (S. 69)

Auf diese Art teilt Hubbard uns mit, dass es ihn nicht kümmert, dass man Engramme nicht beobachten kann, denn obwohl sie als permanente Veränderungen in den Zellen definiert sind, sind sie als physikalische Strukturen unauffindbar. Es schert ihn ebenso wenig, dass die Heilung aller Krankheiten darin besteht, diese „permanenten“ Engramme aus der reaktiven Bank zu „löschen“. Er gibt an, sie werden nicht wirklich entfernt, sondern einfach in die Standard-Bank übertragen; wie dies physikalisch oder strukturell vor sich geht, spielt offenbar keine Rolle. Es wird einfach versichert, dass es so ist – ohne Argumente oder Belege. Hubbard wiederholt schlicht, es handele sich um eine wissenschaftliche Tatsache, als ob dies ausreichen würde.

Noch eine „wissenschaftliche Tatsache“ ist laut Hubbard der Umstand, dass die schädlichsten Engramme im Mutterleib entstehen. Der Mutterleib wird zu einem schrecklichen Ort; er ist „nass, unbequem und ungeschützt“ (S. 130). „Mama niest, das Baby ‚verliert das Bewusstsein‘. Mama läuft leicht und locker gegen einen Tisch, das Baby erhält einen Schlag auf den Kopf. Mama hat Verstopfung und das Baby wird beim Versuch des Stuhlgangs zerquetscht. Papa gibt sich der Leidenschaft hin, und das Baby hat das Gefühl, es sei in eine laufende Waschmaschine geraten. Mama wird hysterisch, das Baby bekommt ein Engramm. Papa schlägt Mama, das Baby bekommt ein Engramm. Der Kleine springt auf Mamas Schoß, das Baby bekommt ein Engramm. Und so weiter.“ (S. 130)

Hubbard informiert uns, dass ein Mensch „mehr als zweihundert“ pränatale Engramme haben kann und dass Engramme, die „man als Zygote bekommt, potentiell die verstörendsten sind, da ganz und gar reaktiv. Diejenigen, die man als Embryo bekommt, sind außerordentlich verstörend. Engramme, die man als Fötus erhält, reichen für sich genommen schon aus, um Leute in eine Anstalt zu bringen.“ (S. 130f.)

Wo sind die Beweise hierfür? Wie testet man eine Zygote auf Engramm-Aufzeichnung? „All diese Dinge sind wissenschaftliche Tatsachen, getestet, nochmal überprüft und dann wieder getestet“, meint Hubbard (S. 133). Aber sein Wort ist alles, was wir kriegen. Anders als Politiker und Fußballtrainer erwarten Wissenschaftler normalerweise nicht, dass man ihrem Ehrenwort glaubt, wenn es um derart aufsehenerregende Behauptungen geht.

Um von einer Krankheit geheilt zu werden, braucht man zusätzlich noch einen Dianetik-Therapeuten, einen so genannten Auditor. Wer hat diese Qualifikation? „Jeder Mensch, der intelligent, von normaler Beharrlichkeit und bereit ist, dieses Buch [‚Dianetik‘] gründlich zu lesen, sollte in der Lage sein, ein Dianetik-Auditor zu werden.“ (S. 173)

Der Auditor muss „dianetische Träumerei“ verwenden, um eine Heilung zu erzielen. Ziel der dianetischen Therapie ist die Herstellung eines „release“ oder eines „clear“ (Anmerkung des Übersetzers: Diese Begriffe werden auch im deutschen Sprachraum in ihrer englischen Form verwendet. Ihre Bedeutung ist etwa „Freigelassener“ bzw. „Reiner“). Beim Ersteren wurden starke Stress- und Angsterlebnisse durch Dianetik entfernt; der Letztere hat weder aktive noch potenzielle psychosomatische Krankheiten oder Störungen (S. 170). „Ziel und einziger Zweck der Therapie ist die Entfernung des Inhaltes der reaktiven Engramm-Bank. Bei einem release wird ein Großteil seiner emotionalen Beschwerden aus der Bank gelöscht; bei einem clear wird alles entfernt.“ (S. 174)

Die „Träumerei“, die man einsetzt, um diese Wunder zu erzielen, wird als intensivierte Verwendung einer speziellen Fähigkeit des Gehirns beschrieben, die jedermann besitzt, die aber „der Mensch durch ein merkwürdiges Versäumnis niemals zuvor entdeckt hat“ (S. 167).

Hubbard hat also etwas entdeckt, das zuvor niemand jemals gefunden hat, und doch geht seine Beschreibung der „Träumerei“ nicht über die eines Menschen hinaus, der still sitzt und einem anderen seine Probleme erzählt (S. 168). Beeindruckend zusammenhanglos verkündet er dann, dass Auditing „vollständig aus dem Bereich der existierenden Gesetzgebung“ herausfalle, anders als Psychoanalyse, Psychologie und Hypnose, die alle „auf irgendeine Weise ein Individuum oder die Gesellschaft schädigen können“ (S. 168f.).

Es wird jedoch nicht klar, warum das Erzählen von Problemen eine monumentale Entdeckung sein sollte – oder warum Auditoren anderen Menschen oder der Gesellschaft keinen Schaden zufügen können, wo Hubbard ihnen doch rät: „Bewerten Sie niemals das Datenmaterial … stellen Sie den Wert der Daten nie in Frage. Behalten Sie Ihre Bedenken für sich.“ (S. 300).

Das klingt nicht wie ein Wissenschaftler, der seinen Schülern einen vernünftigen Rat gibt; es klingt wie ein Guru, der seine Jünger anweist.

Dem, was Hubbard einem als Wissenschaft des Geistes verkaufen will, mangelt es sehr an einem entscheidenden Bestandteil, den man von Wissenschaft erwarten darf: empirische Tests von Hypothesen. Die entscheidenden Bestandteile von Hubbards so genannter Wissenschaft scheinen nicht testbar zu sein, und doch behauptet er wiederholt, er verwende nur wissenschaftliche Tatsachen und Daten aus vielen Experimenten. Es wird noch nicht einmal deutlich, wie solche „Daten“ beschaffen sein könnten; das meiste Material liegt vor in Form von Anekdoten und Spekulationen wie diese über eine Patientin, die glaubt, ihr Vater habe sie mit neun Jahren vergewaltigt. „Viele geisteskranke Patientinnen behaupten so etwas“, sagt Hubbard und fährt dann fort, indem er angibt, die Patientin sei tatsächlich „vergewaltigt“ worden „neun Tage nach der Zeugung … Druck und Durcheinander des Koitus sind sehr unbequem für das Kind und führen normalerweise zu einem Engram, das den Geschlechtsakt und alles dabei Gesagte enthalten wird.“ (S. 144)

Spekulationen dieser Art gehören in einen Roman, aber nicht in die Wissenschaft.

Robert Todd Carroll ist Professor für Philosophie am Sacramento City College in Kalifornien.

Tobias Budke hat im Internet eine „Skeptische Ecke“ eingerichtet; sie ist als kritisches Forum für „skeptisches Denken, Wunderglauben, Esoterik und dergleichen“ konzipiert. Kernstück der Seiten ist neben vielen Literaturhinweisen die Übersetzung von Robert Todd Carrolls „The Skeptic’s Dictionary“ (https://www.skepdic.com). Inzwischen hat Budke etwa 120 Texte von „Abrakadabra“ bis „Zombie“ übersetzt, mit Kommentaren versehen und eigene Einträge hinzugefügt. [Nachtrag 15.03.2009: Die Website existiert inzwischen nicht mehr.]

Anmerkung des Übersetzers: Über Hubbard ist außerordentlich viel geschrieben worden, insbesondere mit Bezug auf Scientology; die Dianetik war insofern die Vorläuferin, da Hubbard aus Steuergründen für seine Therapie einen Religionsstatus haben wollte (bereits 1951 folgte Hubbard mit dem Werk „Science and Survival“, das die Dianetik deutlich in Richtung religiöse Sekte auf Kurs brachte). Der Psychologe Colin Goldner vom „Forum kritische Psychologie“ berichtet von einem Fall, in dem ein Münchner Ingenieur DM 176 000 an Kursgebühren bezahlte, bevor er zu Sinnen kam und Scientology verklagte; die „psychologischen“ Methoden der Kirche gehen samt und sonders auf die Dianetik zurück. Man kann sich Hubbards Ideen gar nicht absurd genug vorstellen. So gibt es bei Scientology nicht nur einfach „clears“, sondern noch zahlreiche höhere Stufen, „Operative Thetanen (OT)“ genannt, offenbar Übermenschen mit Macht über Raum und Zeit. In kostspieligen Kursen kann man sich vom „clear“ zum „OT 1“, „OT 2“ und so weiter hocharbeiten, vermutlich ohne Ende. Hubbard ließ die angeblichen Fähigkeiten einer „clear“ namens Sonya Bianca 1950 vor 6000 Zuschauern demonstrieren; das Publikum war vom Scheitern der Demonstration so verärgert, dass es in Scharen abwanderte. Hubbard selber gab damals zu, er sei kein „clear“, aber später liest man Behauptungen wie die, er habe den Himmel besucht, und zwar „43 891 832 611 177 Jahre, 344 Tage, 10 h, 20 min, 40 sec vor dem 9. 5. 1963, 22:02:30 Uhr“. „Die Bedeutung dieser Aussage entgeht den meisten Menschen“ (James Randi). Er begann als Science-fiction-Autor des so genannten „Goldenen Zeitalters“, lenkte seine SF-Phantasien aber rasch in profitablere Bahnen; zwischenzeitlich war er Mitglied im OTO, der okkulten Vereinigung des Neo-Satanisten Aleister Crowley, und wurde mitsamt seiner Dianetik lange von dem Herausgeber des SF-Magazins Astounding, John Campbell Jr, unterstützt. Hubbard, geboren 1911, starb 1986, obwohl der Kult dies niemals zugegeben hat. Vermutlich betrachten sie ihn als entrückt. Tobias Budke

Der Zehn-Prozent-Mythos„Wir nutzen nur zehn Prozent unseres geistigen Potentials.“ – Auch mit diesem Slogan (und einem Porträt Albert Einsteins) wirbt die Scientology-Organisation für ihre Kurse. Andere Anbieter auf dem Markt der Pseudotherapien bemühen ebenfalls diese Behauptung – natürlich verbunden mit der Aufforderung, die brachliegenden neun Zehntel in einem teuren Trainingsprogramm zu aktivieren. Einige PSI-Fans wiederum glauben, in den „ungenutzten“ Regionen des Gehirns liege der Schlüssel zu „übersinnlichen“ Fähigkeiten wie Telepathie oder Hellsehen verborgen. Doch wie ist die zugrunde liegende Behauptung überhaupt gemeint – fragte sich auch der Zeit-Journalist Christoph Drösser in seiner Rubrik „Stimmt’s?“. Denn es bieten sich gleich mehrere Interpretationsmöglichkeiten an: „Erstens: Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist nur jede zehnte Gehirnzelle aktiv. Da kann man nur sagen: Gut, dass es nicht alle sind, denn das wäre gleichbedeutend mit einem epileptischen Anfall. Zweitens: Neunzig Prozent der Gehirnzellen liegen nutzlos im Schädel herum und haben keine Funktion. Auch das ist Unsinn. Soweit die Wissenschaft es beurteilen kann, sind alle gesunden Zellen in irgendeiner Weise an den Prozessen im Gehirn beteiligt. Drittens: Wir nutzen nur einen Bruchteil unseres Erinnerungsvermögens, könnten uns also eigentlich viel mehr Dinge merken. Aber das Gehirn hat keine ‚Speicherzellen‘ wie ein Computer. Erinnerungen sind Muster, an denen viele Zellen beteiligt sind, und die Zahl dieser Muster ist unbegrenzt.“

Moderne Untersuchungsmethoden wie die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) zeigen, dass sämtliche Hirnregionen aktiv sind – wenn auch nicht alle zur gleichen Zeit, genauso wenig wie wir sämtliche Muskeln unseres Körpers gleichzeitig anspannen können. Richtig ist, dass „nur etwa zehn Prozent der 100 Milliarden Neuronen mit Denkprozessen beschäftigt sind“, erklärt der Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, Professor Wolf Singer. Doch die restlichen Nervenzellen liegen mitnichten brach, sondern sie steuern beispielsweise die vegetativen Funktionen. Die Vorstellung, mehr Hirnaktivität sei gleichbedeutend mit „besserem“ Denken, ist also völlig irrig. Bernd Harder

Literatur

  • Drösser, C. (2000): Stimmt’s? Sonderausgabe. 122 moderne Legenden im Test. Rowohlt, Reinbeck
  • Radford, B. (2000): The Ten-Percent-Myth. In: Bizarre Cases, S.118, Committee for the Scientific Investigation in Claims of the Paranormal (CSICOP), Amherst

 

„Den Verstand verstehen“ – oder ihn verlieren? Das Buch „Dianetik“ (von Scientology mit „Den Verstand verstehen“ übersetzt) erschien erstmals am 9. 5. 1950 und ist nach Angaben der Scientology-Organisation bislang in mehr als 50 Sprachen übersetzt worden. Es soll weltweit eine Auflage von 18 Millionen Exemplaren haben. „Durch die Anwendung der Dianetik-Verfahren wurde schon früh erkannt, dass der Mensch ein unsterbliches geistiges Wesen ist, das sich nach seinem Tode erneut verkörpert – aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte sich nur wenige Jahre später die Scientology-Religion“, heißt es in einer Pressemitteilung der Organisation vom Mai 1999. Scientology hat nach eigenen Angaben acht Millionen Mitglieder, in Deutschland 30 000. Das rheinland-pfälzische Familienministerium geht allerdings von nur noch 5000 bis 6000 aktiven Mitgliedern in Deutschland aus. Schon der bekannte Psychoanalytiker Erich Fromm („Die Kunst des Liebens“) kritisierte 1950 in der New York Herald Tribune die Scientology-Ideologie als Mixtur aus „Missverständnissen, verworrenem Freudianismus und hypnotischen Regressionsexperimenten“ (im Internet unter https://www.erichfromm.de/lib_1/1950b2.html). In ihrem „Bericht über die Tätigkeit von Sekten“ warnt die Landesregierung Schleswig-Holstein: „Von den Scientology-Anhängern wird gefordert, dass sie vor der Organisation ihre gesamte Persönlichkeit, ihr ganzes Leben offen legen. In ‚Auditing‘-Sitzungen stellt ein dafür geschulter Funktionär persönliche, intime und emotional belastende Fragen und protokolliert die Reaktion seines Gegenüber. Scientologen sollen sich ihrer Organisation vorbehaltlos ausliefern … Scientology strebt nach Macht über die einzelnen Menschen und nach Macht über die Gesellschaft.“ Bernd Harder


Internet-Tipp: „Auditing und andere Psychotechniken aus wissenschaftlicher Sicht“ von Professor Hans Kind (www.ingo-heinemann.de)

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 1/2002.