Psychotechniken
Unser Gehirn ist ein äußerst merkwürdiges Objekt. Dass man mit ihm überraschende Dinge anstellen kann, steht außer Zweifel. Allerdings verbreiten sich manchmal auch Theorien über angebliche Psycho-Techniken, die einer genaueren Untersuchung nicht standhalten.

 Werner Haas

An Patentrezepten, zumal mit dem Nimbus des Magischen versehen, ist die Psychoszene nicht arm. Eines dieser umstrittenen Angebote ist das Familienstellen. Zwar gibt sich diese Technik als Weiterentwicklung der etablierten systemischen Familientherapie aus, ist jedoch aufgrund des weltanschaulichen Kontextes und der praktischen Implikationen etwas grundsätzlich anderes, nämlich ein Rückfall in vorwissenschaftliche Denkmuster und quasi-exorzistische Praktiken.

Schon lange vor Hellinger nutzte man die Möglichkeit, familiäre und andere Beziehungsgeflechte durch räumliche Anordnung von Personen darzustellen und mit Hilfe dieses Mediums therapeutisch zu intervenieren. So wurde beispielsweise von Virginia Satir der Begriff „Familienskulptur“ geprägt. In der wissenschaftlich fundierten Familientherapie galt dieses Vorgehen als hinterfragbare Einzeltechnik in einem rational zu begründenden psychotherapeutischen Gesamtkonzept (widerspruchsfreie und empirisch prüfbare Theorie über Veränderung von Verhalten). Doch mit und nach Hellinger mutierte dieses Verfahren, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zu einem kultisch inszenierten Selbstzweck, zu einer Methode der „Aufdeckung“ und „Lösung“ für alles und alle.

Das technische Prinzip des hellingerschen Familienstellens besteht darin, dass ein Gruppenteilnehmer (Klient, Patient, Ratsuchender) – auch „Protagonist“ genannt – aus der Gruppe so genannte Stellvertreter als Rollenspieler auswählt und mit diesen „sein inneres Bild seiner Gegenwarts- oder Herkunftsfamilie“ aufstellt (Hellinger 1998a, S. 243). Auch für sich selbst sucht der Protagonist zunächst einen Repräsentanten aus. Wenn die Konstellation steht, teilen die Stellvertreter nacheinander mit, wie sie sich an ihrem Platz fühlen. Angeblich stehen sie dabei in Verbindung zu einer Art Überseele, von anderen auch „wissendes Feld“ (Mahr 2000) genannt. Der Aufstellungsleiter (Therapeut) entwickelt nun unter Berücksichtigung der Rückmeldungen der Mitwirkenden ein „Lösungsbild“. Das ist erreicht, wenn alle Stellvertreter das Gefühl zu haben glauben, dass die „Ordnung“ wiederhergestellt ist, was in der Regel durch ein Unterwerfungsritual bestätigt wird.
Die in der Aufstellung inszenierte „Lösung“ soll sich auf wunderbare Weise in die Wirklichkeit übertragen: Suizidale entdecken ihre Lebenslust, Inzesttraumata werden aufgelöst, Rückenschmerzen verschwinden und Krebs wird geheilt. Wenn nicht, hätte man sich immerhin mit seinem unentrinnbaren Schicksal versöhnt. Hellinger selbst gibt dieses Spektakel oft vor hunderten von Zuschauern zum Besten.

Die Vorgehensweise wird inzwischen auf Fragestellungen aller Art übertragen. In der Szenerie können, repräsentiert durch Stellvertreter, Lebende und Tote erscheinen, reale Personen und fiktive, ja sogar Funktionen, Zustände, Gefühle, Körperteile bis hin zu homöopathischen Arzneimitteln. Zum Verständnis und zur Bewertung dieser Praxis ist es wichtig, einige Eckpfeiler des dahinterstehenden Welt- und Menschenbildes näher unter die Lupe zu nehmen.

Patriarchale Ordnungsvorstellungen

Hellinger schwört auf das Senioritätsprinzip: Wer vorher da war, ist kraft dieses Faktums als höherrangig einzustufen. Die Dynamik von Geben und Nehmen wird hauptsächlich aus der Perspektive der Weitergabe des Lebens betrachtet, das Individuum somit weitgehend reduziert auf seine Funktion als Gattungswesen. Kinder sind per Definition Nehmende und Eltern Gebende. Die einen verpflichtet dies zutiefst, umfassend und unbefristet, die andern werden dadurch in den Zustand seliger Immunität und immerwährender Verehrungswürdigkeit versetzt.

„Das Elternsein ist unabhängig von der Moral und jenseits von Gut und Böse“ Bert Hellinger

In Hellingers Worten: „Das Elternsein ist unabhängig von der Moral und jenseits von Gut und Böse, (…) Jede Beurteilung der Eltern (…) ist anmaßend. Das Ergebnis [sic!] nämlich, das Kind, stellt sich ja unabhängig vom Gutsein oder Bösesein der Eltern ein und begründet eine Bindung vor und jenseits jeder Moral“ (Hellinger 1995b, S. 93). An anderer Stelle: „Und die Bindungsunschuld erleben wir als (…) unserer Kindersehnsucht letztes Ziel. (…) Aus Liebe ist ein Kind bereit, alles dranzugeben, selbst das eigene Leben und Glück, wenn es den Eltern und der Sippe dadurch besser geht. Das sind dann die Kinder, die für ihre Eltern oder Ahnen in die Bresche springen, vollbringen, was sie nicht geplant, sühnen, was sie nicht getan (…), tragen, was sie nicht verschuldet haben oder für erlebtes Unrecht anstelle ihrer Eltern Rache üben“ (Hellinger 1998a, S. 42-43). Das lässt erahnen, wie nach Hellinger Unglück und Leid in die Welt kommen, gleichzeitig ergibt sich daraus eine wichtige therapeutische Maxime: „Wenn man den Eltern Ehre erweist, kommt etwas tief in der Seele in Ordnung“ (zit. nach Krüll, Nuber 1995). Wie weit dieses Dogma getrieben wird, zeigt der nächste Abschnitt.

(Be-)Deutung von Sexualität und Inzest

Hellinger sieht im Inzest keine persönlich zu verantwortende Tat, sondern ein „systemisches“ Geschehen, in dem es letztlich weder Täter noch Opfer noch unschuldig beteiligte Dritte gebe, sondern nur Statisten in einem von einer transzendenten Macht inszenierten Drama. Vor allen Dingen sollen die, die nach allgemeinem Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden als Hauptschuldige gelten, entschuldigt werden: „Den Tätern, seien es Väter, Großväter, Onkel oder Stiefväter, wurde etwas vorenthalten, oder es wird etwas nicht gewürdigt, und der Inzest ist dann ein Versuch, dieses Gefälle auszugleichen“ (Hellinger 1998, S. 89).

Mit dieser Entschuldigung für die Patriarchen forciert Hellinger gleichzeitig die Beschuldigung der Frauen: „Kommt hinzu, dass es auch noch einen Mangel an Austausch und Ausgleich bei den Partnern gibt, zum Beispiel in der sexuellen Beziehung, entsteht in diesem System ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Ausgleich, das sich wie eine Triebkraft durchsetzt und der naheliegende Ausgleich ist, dass die Tochter sich anbietet oder die Frau dem Mann die Tochter überlässt oder anbietet“ (ebd., S. 90).
Macht Hellinger hier nicht den Körper des Kindes zur Manövriermasse in einem obskuren Spiel des „Ausgleichs“? Wer diese Logik einmal akzeptiert hat, wundert sich auch nicht mehr über seine Lösungsvorschläge: „Die Lösung für das Kind ist, dass das Kind der Mutter sagt: ‚Mama, für dich tue ich es gerne‘, und dem Vater: ‚Papa, für die Mama tue ich es gerne'“ (ebd., S. 91). Man beachte die Rollenverteilung: „Der Mann ist nur Blitzableiter, er ist in der Dynamik verstrickt, weil die alle gegen ihn zusammenwirken. Er ist sozusagen das arme Schwein“ (ebd., S. 92), die Mutter hingegen glaubt Hellinger generell als die „graue Eminenz des Inzests“ (Hellinger 1995a, S. 281) dingfest gemacht zu haben. Zöge die missbrauchte Tochter den Vater nun juristisch zur Verantwortung, würde sie laut Hellinger damit signalisieren, dass sie „lieber stirbt als ihrem Vater (…) die Ehre zu geben“ (Hellinger 1998a, S. 96).

Dazu muss man wissen, dass solche gegen die „Ordnungen der Liebe“ verstoßende Taten in Hellingers „Krankheitslehre“ oft die „Ursache“ von tödlichen Krankheiten sind. Da Hellinger den Menschen offenbar zu einem tumben Gattungswesen degradiert hat, sieht er im „sexuellen Vollzug“ den „größten menschlichen Vollzug überhaupt“. Er geschehe „im Angesicht des Todes“ (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 145), was auch immer das heißen mag. Darüber hinaus scheinen „schicksalhafte“ Ereignisse wie Kriege oder Sexualverbrechen von höheren Mächten gesteuert zu sein. Darum gilt für Hellinger: „Wenn es eine Vergewaltigung gab, dann ist die Sexualität dennoch etwas ganz Großes“, denn sie komme „vor der Liebe“ und sei größer als diese (ebd., S. 146). Die Therapie einer durch Vergewaltigung traumatisierten Frau kann dann darin bestehen, dass sie – in der „Aufstellung“ – zum Vergewaltiger sagen soll: „Ich habe dich benutzt. Es tut mir leid“ (ebd., S. 139f). Nach Hellingers Weltsicht fügt sich nämlich da, „wo Schicksal wirkt und Demut heilt“, so einer seiner Buchtitel, letztlich alles wieder in die „Ordnungen der Liebe“, so ein anderer Buchtitel. Große Worte für eine Haltung, die besser mit Schicksalsgläubigkeit, Demütigungskult und patriarchalem Ordnungswahn umschrieben wäre.

Eine okkultistische Ursachenlehre

Nach Hellinger rühren die meisten Probleme, die ein Psychotherapeut zu Gesicht bekommt, nicht aus der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen her, sondern sind „Wiederholung eines fremden Schicksals“ (Hellinger 1998a, S. 242). Dies geschehe unter dem Druck des „Sippen- oder Gruppengewissens“ (ebd., S. 150), das sich der „nicht Gewürdigten und der Toten“ annehme, indem es einen unschuldigen „Nachgeborenen“ auswähle, der unbewusst das Schicksal des nicht Gewürdigten erleide, sozusagen als Preis und Sühne für das erlittene Unrecht des Ahnen (ebd., S. 152). Nach Hellinger ist diese „Identifizierung“ eine Art „systemischer Wiederholungszwang, der Früheres noch einmal inszeniert und wiederholt (…), ein nachträglicher Versuch, einer ausgeklammerten Person noch einmal zu ihrem Recht zu verhelfen“ (ebd., S. 153). Und: „Bei uns werden so viele krank oder gestört, weil einige aus dem System ausgestoßen sind. Oft sind das Verstorbene. Wenn man die wieder hereinholt, sind die anderen wieder frei“ (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 77). Hellingers Lehre von den Krankheitsursachen zeigt auffallende Parallelen zu dem Gespensterglauben und Ahnenkult der Zulus, bei denen er längere Zeit als Missionar gewirkt hat. Er selbst dazu: „Wenn man sich Geistergeschichten anhört, sind Geister Wesen, denen man die Zugehörigkeit verweigert hat. Sie klopfen an, bis sie ihren Platz bekommen. Wenn sie den haben, geben sie Frieden“ (ebd., S. 76). Man fragt sich, wer hier wen bekehrt hat, denn lt. „Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften“ ist es bei den bantusprachigen Völkern Südafrikas heilige Pflicht, die Ahnen zu ehren. Wenn sie aber „vergessen werden, dann bringen sie sich oft schmerzhaft in Erinnerung.“ Die Folge: „Unglück, Krankheit, Verluste, Niederlagen“ (Horn 2000). Abhilfe schafft hier wie dort rituelle Ehrerweisung.

Aufstellung als Orakel

Von den „Stellvertretern“ wird angenommen, dass sie durch das Therapieritual der Aufstellung in die Lage versetzt werden, gewissermaßen störungsfrei die Seele des jeweiligen Familienmitgliedes zu repräsentieren. Die Stellvertreter sind also laut hellingerscher Aufstellungsphilosophie keine Rollenspieler, sondern mystische Repräsentanten der dargestellten Personen (ob tot oder lebendig). Doch ihre oft kolportierten, angeblich so erstaunlichen und stimmigen Reaktionen können mühelos auf bekannte psychologische Mechanismen (Erwartungshaltung, Einfühlungsvermögen, Suggestion, Illusion, Manipulation) zurückgeführt werden (siehe S. 10 – 14 in diesem Heft; Haas 2005). Die Äußerungen, Symptome und psychophysischen Zustände, von denen die Stellvertreter scheinbar heimgesucht werden, geben der Wissenschaft also keinerlei Rätsel auf. Rätselhaft mag höchstenfalls sein, wie mitunter sogar Menschen, die an einer deutschen Universität eine wissenschaftliche Ausbildung genossen haben, diesem Hokuspokus erliegen können.

„Im Grunde kann der diagnostische Anspruch des Familienstellens in die Tradition des Hellsehens und der Wahrsagepraktiken eingereiht werden.“

Im Grunde kann der „diagnostische“ Anspruch des Familienstellens in die Tradition des Hellsehens und der Wahrsagepraktiken eingereiht werden. Analog dem Deuten von Sternenkonstellationen (Astrologie), des Vogelflugs (Ornithomantie), von Karten (Tarot) 8 usw. glauben auch Familiensteller, auf wunderbare Weise Einsicht in verborgene Wirklichkeiten zu gewinnen, die weder dem Alltagsverständnis noch dem auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitenden Therapeuten zugänglich sind. Eine in der therapeutischen Profession übliche Anamnese, also eine ausführliche Befragung nach psychologisch oder medizinisch relevanten Daten, findet daher nicht statt. Sie wird von Hellinger sogar explizit abgelehnt: Der Verzicht auf solche fachliche Standards „spart viel Zeit, weil man dann nicht danach zu fragen braucht, was das für ein Mensch war. Das lenkt ab und verwirrt“ (Hellinger 1998a, S. 197). Dies führt unweigerlich dazu, dass ein von diesem therapeutischen Konzept eingenommener Therapeut seine Klienten bei Aufstellungen dirigiert, manipuliert, sie in Konstellationskonstrukte hineinbugsiert oder ihnen – nicht selten unter Drohungen – „Lösungen“ aufdrängt: „Bei der Psychotherapie“, so Hellinger, „geht es einem wie einem guten Führer. Ein guter Führer sieht, was die Leute wollen, und das befiehlt er ihnen“ (zit. nach Lakotta 2002).

Will ein Klient sich nicht gleich auf generationenübergreifende und personentranszendierende Problemsichten einlassen, sondern seine individuelle Lage und Sicht mitteilen, hat Hellinger schnell den Verdacht, dieser wolle ihn „zum Handlanger machen für das, was er für die richtige Lösung hält“ (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 91). Das lasse er nicht zu, er schaue dann am Klienten vorbei. Versuchte ihm ein Klient seine persönlichen Probleme mit seinen Eltern zu erzählen, z. B. von einer depressiven Mutter oder einem fordernden Vater, würde Hellinger gleichsam allergisch reagieren: „Das tut mir physisch echt weh. Da hätte ich vorher schon unterbrochen. Ich richte mich da nach meinem Wohlbefinden. Was mir physisch weh tut, kann nicht relevant sein“ (ebd., S. 92). Das Nicht-Zuhören geht bei Hellinger Hand in Hand mit einer Vorliebe für makaber anmutende Schnellschüsse: „Vor kurzem war ein junger Mann in einem Seminar. Mein Bild war: Er lebt nicht lange. Er schaute in eine Richtung, und da wurde mir auf einmal klar: Es ist der Tod, auf den er schaut“ (ebd., S. 39). Hellinger begründet solch gefährliche Kaffeesatzleserei philosophisch, er nennt es die „phänomenologische Vorgehensweise“: Dabei setze er sich „einem größeren Zusammenhang aus, (…) ohne Furcht vor dem, was hochkommt. Ich fürchte mich auch nicht, wenn etwas Entsetzliches hochkommt“, und währenddessen komme „blitzartig die Einsicht“ (ebd., S. 37). Dieser Vorgang, nämlich von solchen Eingebungen heimgesucht zu werden, sei „sehr demütig“ und „das Gegenteil von Wissenschaft“ (Hellinger 1998b, S. 16f). Letzteres in der Tat! Doch Hellingers Demutsrhetorik wird nicht glaubhafter, wenn er an anderer Stelle hinzufügt: „Phänomenologie ist Gottesschau“ (Hellinger 1997, S. 44). Damit wird jeder vernünftige Diskurs unmöglich, denn gegen Offenbarungen gibt es bekanntlich keine Argumente.

Aufstellung als magisches Theater

Der Therapeut gewinnt nach Hellinger durch die Aufstellung nicht nur Einblick in fremde und zukünftige Schicksale, sondern soll diese durch szenische Manipulationen auch abwenden können, sofern die Abwendung des Schicksals vom Schicksal vorgesehen ist. Andernfalls wüsste der Klient wenigstens, dass er seinem Schicksal nicht entgehen kann, und wenn er es doch versucht, „landet (er) im Grab“ (zit. nach Buchholz 2003).

Hilfe kommt offenbar aus der quasimagischen Wirkung der Aufstellung. Hellinger: „So, wie die wirkliche Familie in dieser Aufstellung gegenwärtig ist, so wirkt auch die Lösung von der dargestellten Familie auf die wirkliche Familie zurück“ (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 83). Und zwar unabhängig davon, ob die reale Familie etwas davon wisse. Auf eine wissenschaftliche Prüfung will er es dennoch nicht ankommen lassen: „Die Erfolgskontrolle (…) ist schlimm in der Psychotherapie“ (Hellinger 1998a, S. 201). Außerdem sei in den „Aufstellungen etwas von Liturgie“ und der Aufstellungsleiter habe eine „priesterliche“ Funktion: „Als Therapeut fühle ich mich im Einklang mit einer größeren Ordnung. Nur weil ich in diesem Einklang bin, sehe ich die Lösung“ (Hellinger, ten Hövel 1997, S. 22). Diese besteht dann meist darin, dass eine „Identifizierung“ aufgelöst und den Ahnen per Unterwerfungsritual die Ehre erwiesen wird. Dabei geht der Klient auf die Knie, verbeugt sich und würdigt die Ahnen mit formelhaften, vom Aufsteller vorgegebenen Sätzen.
Hellingers Therapie ist eine Verführung zur Regression, d. h. zur Wiederaufnahme von Verhaltensweisen, die einer kindlichen Entwicklungsstufe entsprechen.

„Wer sich wehrt, dem schleudert der priesterliche Heiler den Bann entgegen.“

Wer diesem Druck nachgibt, spürt möglicherweise eine(trügerische und vorübergehende) „Entlastung“, aber zum Preis der Einfügung in das wahnhafte Züge tragende Überzeugungssystem des Therapeuten und der Gefahr des Identitätsverlusts. Wer sich wehrt, dem schleudert der priesterliche Heiler den Bann entgegen: „Du bist nicht zu retten“ (Hellinger 1995a, S. 340). Einen widerspenstigen Krebskranken z. B. belehrt er vor versammeltem Publikum: „Meine Hypothese bei Krebs ist, dass viele Krebskranke lieber sterben, als dass sie sich vor den Eltern tief verneigen“ (ebd., S. 417). Aber auch wer sich gläubig fügt, lebt gefährlich: Eine Frau nahm sich das Leben, nachdem ihr in einer hellingerschen Rosskur attestiert wurde, dass sie ihren Ex-Mann nicht genügend gewürdigt habe. In Ihrem Abschiedsbrief nimmt sie explizit Bezug auf Hellingers „Ordnung“: „Vielleicht gibt es Menschen, die soviel Schuld auf sich laden, dass sie kein Recht mehr haben, hierzubleiben. Und wenn es (…) die Ordnung herstellt, will ich meinen Teil dazu tun“ (Gerbert 1998).

Doch „der Tod ist wunderschön. Weißt du das? Die Engel stehen ums Grab“ (zit. nach Lakotta 2002), kommentiert Hellinger das Schicksal einer anderen, seiner Meinung nach todgeweihten Frau. Seine „philosophische“ Begründung: „Das Leben ist das Spiel von einer größeren Kraft. Wenn dieses Spiel aus ist, werden alle Figuren wieder in die gleiche Schachtel gepackt und liegen nach dem Spiel nebeneinander. Wenn man das so sieht, ist das kurze Leben kein Verlust und das lange Leben kein Gewinn“ (zit. nach Hohnen 2001). Ein Therapeut, der sich diese Auffassung zu eigen macht, stellt sich einen Blankoscheck auch gegen krasseste Kunstfehler aus.

Hellingers Ordnung – gottgewollt?

Hellingers Ordnung verspricht nicht nur Heilung den Familien und Individuen, sondern Heil in einem umfassenderen Sinne durch Annehmen des Gegebenen: „Ich stimme der Welt zu, wie sie ist. (…) Ich denke, dass in der Welt Kräfte am Werk sind, die lassen sich nicht steuern. Deswegen tun mir Weltverbesserer leid. Die großen geschichtlichen Bewegungen, der Nationalsozialismus, der Humanismus, die Wende, all das sehe ich als Teil eines gesteuerten Prozesses, bei dem die Opfer sowohl wie die Täter in Dienst genommen sind, für etwas, das wir nicht begreifen“ (zit. nach Krüll, Nuber 1995).
Dieser Weltsicht sind wir schon oben bei der Würdigung von Vergewaltigern und sexuellen Missbrauchern begegnet. Übrigens war „auch Hitler in den Dienst genommen“ (zit. nach Glunk 2003), den Hellinger in seinem Buch „Gottesgedanken“ (Hellinger 2004a) würdigt. Moralische Unterscheidungen seien beim Thema Drittes Reich fehl am Platze; so gälten zwar die Mitglieder der Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ heute als die großen Helden, aber „hätten die Nazis gesiegt, wären sie (die Weiße Rose; W. H.) die Verbrecher geblieben. Das ist der ganze Unterschied von Gut und Böse“ (Hellinger 1998a, S. 203). Was haben Politik und Geschichte mit Psychotherapie zu tun? Hellinger: Durch das Familienstellen „kommen wir in Tiefen hinein, die über die Psychotherapie weit hinausgehen“, wir stoßen vor in das Reich der „schöpferischen Urkraft“, welche die „Ordnungen“ festlegt (Hellinger 2004b). Diese Urkraft sei es auch, die die großen Bewegungen der Geschichte steuere, z. B. den Nationalsozialismus (Hellinger 2004c). „Wo kommt diese Bewegung her? Von Gott. Woher denn sonst?“ (ebd.). Alle großen Bewegungen seien „göttliche Bewegungen“ (ebd.). Das gelte auch für das Familienstellen (Hellinger 2004b).

Schlussbemerkung

Hellingers Lehre müsste nicht ernst genommen werden, wenn ihn andere nicht ernst nähmen. Das Gros der sich offen zu Hellinger bekennenden Aufsteller ist zwar eher der Eso-Szene zuzurechnen. Aber trotz des wissenschaftsscheuen und unverhohlen antiaufklärerischen Grundtenors finden sich darunter nicht wenige diplomierte und promovierte ärztliche sowie psychologische Therapeutenkollegen. Sie tragen meines Erachtens ihre akademischen Grade zu Unrecht. Hinzu kommt, dass unter dem Druck kritischer Berichte und Analysen über die hellingerschen Praktiken eine Welle der halbherzigen Distanzierung von dem Gründervater eingesetzt hat, ohne dass man sich wirklich von den zentralen Inhalten der gängigen Aufstellungsphilosophie und -praxis verabschiedet hat. Für den Hilfesuchenden wird dadurch die Suche nach einem Helfer noch abenteuerlicher. Bei aller Behutsamkeit, die sich ein Therapeut, Supervisor, Coach, Berater oder Heilpraktiker auferlegen mag: Wenn er unter welchen wohlklingenden Namen auch immer, mit Aufstellungen nach Hellinger liebäugelt, wirbt er, versteckt oder offen, für dessen Welt- und Menschenbild und fördert damit die Verbreitung eines destruktiven Kultes.

(Zusammenfassung des Buches: Werner Haas: Familienstellen – Therapie oder Okkultismus? Asanger, 2005)

 

Beispiel: Waschzwang

Selbst Sozialarbeiter und Therapeuten nehmen an Aufstellungen teil, weil sie sich davon Hilfe bei der eigenen Beratungsarbeit versprechen. Im Folgenden ein Beispiel:

Teilnehmer

Ich habe eine Klientin von Ende dreißig. Sie hat einen sehr schweren Waschzwang. Der systemische Hintergrund ist …

Hellinger

Nein.
Als der Teilnehmer protestiert Ich will es nicht wissen.

Teilnehmer

Ich weiß selbst nicht, ob es der Hintergrund für das Symptom ist, aber es ist wichtig, ihre Geschichte zu kennen.

Hellinger

Nein.
Zur Gruppe Was passiert, wenn er mir das sagt? Dann ist meine Handlungsfreiheit eingeschränkt. Meine Wahrnehmung kann nicht mehr unmittelbar bei dem sein, was sich zeigt.
zum Teilnehmer Einverstanden?

Teilnehmer

Ja.

Hellinger

Okay, dann werden wir mal sehen, was los ist.
Hellinger wählt eine Stellvertreterin aus und stellt sie allein auf. Die Stellvertreterin der Klientin geht etwas in die Knie und schaut dauernd auf den Boden. Hellinger wählt einen Mann aus und lässt ihn sich vor ihr mit dem Rücken auf den Boden legen, dorthin, wohin ihr Blick geht.

Hellinger

zur Gruppe Sie hat dorthin geschaut. Wenn jemand auf den Boden schaut, schaut er immer auf einen Toten.
Die Klientin hat sich aufgerichtet. Der Tote ist ganz unruhig. Die Klientin atmet schwer und schluchzt.

Hellinger

zur Gruppe Schaut ihre Hände an.
Sie hat die Hände ganz verkrampft. Auch der übrige Körper ist verkrampft. Sie will sich nach vorn bewegen, setzt immer wieder dazu an, kann es aber nicht. Dann ballt sie die Fäuste, winkelt die Arme an und hält die Fäuste verkrampft und unruhig vor ihre Brust. Sie bewegt dauernd die Hände vor ihrer Brust.
Hellinger stellt ihr eine Frau gegenüber.
Die Klientin lässt die Arme sinken, entspannt sich etwas, weint aber immer noch.

Hellinger

zur Gruppe Jetzt lässt das bei ihr nach. Ich wollte testen, ob ihr Verhalten systemisch bedingt ist oder persönlich.
Nach einer Weile dreht Hellinger die Klientin um.
Die Klientin atmet tief durch und hört auf zu weinen.

Hellinger

zum Teilnehmer Kann ich es so lassen?

Teilnehmer

Es fühlt sich insofern gut an, als die Ausstrahlung der Stellvertreterin genau der Ausstrahlung der Klientin entsprach. Jetzt wirkt es sehr gelöst oder sehr anders. Trotzdem bleibe ich mit Fragen zurück.

Hellinger

Jetzt hast du etwas zu tun. – Es ist ganz klar, dass es in dem System einen Mord gab. Ich erzähle ein Beispiel.
In Stockholm im September habe ich eine Aufstellung mit einem autistischen Mann gemacht. Er hat in seinem ganzen Leben zwei Worte gesagt. Seine Betreuer haben ihn zu dem Kurs gebracht. Er hat fortwährend seine Hände mit den Handflächen nach oben gedreht und sie angeschaut. Dann hatte ich das Bild von der Lady Macbeth und habe gesagt: ‚Der schaut auf Blut.‘
Ich habe die Betreuer gefragt, ob sie etwas wissen von seiner Familie. Sie haben gesagt: ‚Ja, die Urururgroßmutter hat ihren Mann verloren, der ist gestorben. Dann hat sie sich mit einem Seemann eingelassen, und der hat sie ermordet.‘
Wenn ihr das nun systemisch auf euch wirken lasst, wer muss hereingenommen werden? Ich habe die Urururgroßmutter aufgestellt und ihren Mann. Plötzlich fing der an, die gleiche Bewegung zu machen. Er drehte fortwährend die Handflächen nach oben und hat sie angeschaut. Der Urururgroßvater hat sie umgebracht, nicht der Seemann. Dann haben sich beide nebeneinander hingelegt, die Urururgroßmutter und der Urururgroßvater. Den autistischen Mann habe ich sich daneben legen lassen. Dann hat er seine Hände verschränkt und gefaltet. (…)

zum Teilnehmer Okay?

Teilnehmer

Ja.

Hellinger

zur Stellvertreterin der Klientin Wie geht es dir da?

Klientin

Wenn ich nach vorn schaue und nicht nach unten oder nach hinten, geht es mir gut.

Hellinger

Genau. Danke dir.
zu den Stellvertretern Danke euch allen.
zum Teilnehmer Das hättest du nicht herausgebracht mit der Geschichte, die du mir erzählen wolltest.
zur Gruppe Die Aufstellung bringt es an den Tag, wenn man ganz vorsichtig vorgeht. Man macht nicht mehr als nötig.
(aus: Bert Hellinger: Ordnungen des Helfens. Ein Schulungsbuch. Band 1, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2003, S.55-59.)

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“ 1/2008.

Literatur

  • Buchholz, M. (2003): Heilung oder Hokuspokus – Familie als Schicksal. ARD-Film vom 08.06.03.
  • Glunk, F. R. (2003): Der Protofaschist: Das Weltbild des Bert Hellinger. In: Goldner, C. (Hg.): Der Wille zum Schicksal: Die Heilslehre des Bert Hellinger. Ueberreuter, Wien, S. 249f.
  • Gerbert, F. (1998): Psycho-Szene: Wenn Therapeuten Gott spielen. In: Focus, 13/98, S. 222-223.
  • Haas, W. (2005): Stellvertreter-Reaktionen in Familienaufstellungen. Ein Erklärungsversuch. In: www.religio.de/therapie/hellinger/stellvertreter.pdf (Zugriff am 20.05.07).
  • Hellinger, B. (1995a): Ordnungen der Liebe. Ein Kursbuch. 2. überarb. u. erg. Aufl., Carl-AuerSysteme, Heidelberg.
  • Hellinger, B. (1995b): Finden, was wirkt: Therapeutische Briefe. 5., erw. Neuaufl., Kösel, München.
  • Hellinger, B. (1997): Verdichtetes: Sinnsprüche, Kleine Geschichten, Sätze der Kraft. 3. Aufl., Carl-Auer-Systeme, Heidelberg.
  • Hellinger, B. (1998a): in: Weber, G. (Hrsg.): Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. 11. Aufl., Carl-Auer-Systeme, Heidelberg.
  • Hellinger, B. (1998b): Einsicht durch Verzicht. Der phänomenologische Erkenntnisweg in der Psychotherapie. In: Praxis der Systemaufstellungen, 1/98, S. 16-17.
  • Hellinger, B. (2004a): Gottesgedanken: Ihre Wurzeln und ihre Wirkung. Kösel, München.
  • Hellinger, B. (2004b): Das Familienstellen als angewandte Philosophie. Vortrag auf der Tagung „Helfen und Lassen“ vom 9.-11. Februar 2004 in Garmisch-Partenkirchen. In: www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/bewegungen_des_geistes/familienstellen_als_angewandte_philosophie.shtml (Zugriff am 14.06.07).
  • Hellinger, B. (2004c): Unruhiger Junge: Der Großvater war bei der Waffen-SS. (Auszug aus einem Aufstellungsseminar.) In: www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/bert_hellinger/beitraege_zur_homepage/un ruhiger_junge.shtml (Zugriff am 14.06.07).
  • Hellinger, ten Hövel (1997): Anerkennen, was ist. Gespräche über Verstrickung und Lösung. 4. Aufl., Kösel, München.
  • Hohnen, H. (2001): Erfahrungen aus letzter Zeit: Ein Interview von Harald Hohnen mit Bert Hellinger am 26.06.2001 in Berlin. In: www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/bert_hellinger/interviews/2001_06_26_inte rview_hohnen.shtml (Zugriff am 14.06.07). Horn, P.(2000): Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften: „Kultur“ in den Gesellschaften der bantusprachigen Völker Südafrikas. In: www.inst.at/ausstellung/enzy/kultur/bantuhorn.htm (Zugriff am 18.05.07).
  • Krüll, M.; Nuber, U. (1995): „Wenn man den Eltern Ehre erweist, kommt etwas tief in der Seele in Ordnung“ (Interview mit Bert Hellinger). In: Psychologie heute, 6/95, S. 2226.
  • Lakotta, B. (2002): „Danke lieber Papi.“ In: www.spiegel.de/spiegel/0,1518,druck_182682 ,00.html (Zugriff am 27.02.02).
  • Mahr, A. (2000): Die Weisheit kommt nicht zu den Faulen: Vom Geführtwerden und von der Technik in Familienaufstellungen. In: Weber, G. (Hrsg.): Praxis des Familien-Stellens. Beiträge zu Systemischen Lösungen nach Bert Hellinger. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, S. 30-39.

Absurde Methoden der Psychodiagnostik

 Uwe Kanning

Kann man aus der Schädelform, den Gesichtszügen eines Menschen, seiner Handschrift oder seinem Vor- und Zunamen Informationen über seine Persönlichkeit, seine Talente oder gar seine Bestimmung ablesen? Nein, natürlich nicht. Dennoch versuchen Pseudowissenschaften wie die Psycho-Physiognomik, die Graphologie oder die Namenspsychologie, uns das Gegenteil glauben zu lassen. Dabei lassen sie sich z. T. erstaunlich gut vermarkten. Nicht nur Privatpersonen, auch Firmen nutzen bisweilen die Dienste entsprechender Anbieter beispielsweise zum Zwecke der Personalauswahl. Im Folgenden werden die drei genannten Methoden in ihren Grundzügen vorgestellt. Dabei wird jeweils nach der inhaltlichen Stimmigkeit sowie der empirischen Evidenz gefragt

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 Das Interesse an den verborgenen Eigenschaften eines Menschen, seiner wahren Natur oder gar seiner Bestimmung ist so alt wie die Geistesgeschichte der Menschheit. Bis auf den heutigen Tag möchte man sein Gegenüber gern durchschauen und hinter die Fassade aus Freundlichkeit, Selbstdarstellung und gesellschaftlicher Konvention blicken. So verständlich dieses Streben auf der einen Seite auch sein mag, so erschreckend sind doch auf der anderen Seite viele der Methoden, die dem Ratsuchenden heute angeboten und mitunter für viel Geld verkauft werden. Manche bereits totgeglaubten Methoden – wie etwa die Schädeldeutung – sind Jahrhunderte alt, trotzen jeder wissenschaftlichen Evidenz und erleben dennoch eine erstaunliche Renaissance. Andere, wie die Graphologie, scheinen sich nur sehr langsam aufzulösen, während z. B. die Namenspsychologie erst vor wenigen Jahren neu entstanden ist.

 

Psycho-Physiognomik

Die Psycho-Physiognomik geht davon aus, man könne die Persönlichkeit eines Menschen an dessen Schädelform und Gesichtszügen ablesen. Ihre historischen Wurzeln lassen sich bis auf Aristoteles zurückverfolgen, wobei die tatsächliche Urheberschaft des Altmeisters nicht zweifelsfrei geklärt ist. Aus dem Frühwerk der Schädeldeutung „Physiognomica“ erfährt der geneigte Leser beispielsweise, dass kleine Ohren auf eine kriminelle Neigung hindeuten, während sich ein Feigling dem kundigen Betrachter durch einen weichen Haarwuchs, geduckten Körper und lange dünne Finger offenbart. Besondere Aufmerksamkeit fanden in früheren Zeiten auch Vergleiche zwischen Tier- und Menschengesichtern (Abb. 1), denen zufolge man die vermeintlichen Eigenschaften eines Tieres auf ähnlich aussehende Menschen übertragen kann. Wer einem Schaf oder Kamel ähnelt, sollte mithin eher dümmlich bzw. genügsam sein.

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Abb 1: Vergleich zwischen Tier- und Menschengesichtern

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts greift Johann Caspar Lavater (1741–1801) die alte Lehre wieder auf und legt ein vierbändiges Werk vor, das eine Wiedergeburt der Physiognomik begründet. In seiner Folge haben sich viele Gelehrte mit den Thesen der Schädeldeutung auseinandergesetzt und in Befürworter (Goethe) sowie Kritiker (Kant, Hegel) gespalten. Die relative Popularität der Publikationen von Lavater mag nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass er seine Argumente mit umfangreichen Illustrationen versehen hat. So stellt er beispielsweise Bilder von Adeligen und berühmten Persönlichkeiten wie Sir Isaac Newton den Bildern unbekannter Menschen aus dem Volk gegenüber und erklärt anhand der Physiognomie, warum erstere zu besonderen gesellschaftlichen Aufgaben und Leistungen prädestiniert seien (Abb. 2).

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Abb. 2: Vergleich zwischen einem Unbekannten und Sir Isaac Newton

Zudem liefert er Skizzen von der typischen Physiognomie unterschiedlichster Intelligenz- und Verbrechertypen. Letzteres wird später zu einem Schwerpunkt der Arbeit des italienischen Psychiaters Cesare Lombroso (1836–1909; vgl. Abb. 3).

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Abb. 3: „Gesichter des Verbrechens“ nach Lombroso.

Moderne Schädeldeuter berufen sich in aller Regel auf einen Mann, der an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die Bezeichnung „Psycho-Physiognomik“ geprägt hat – den gelernten Porzellan- und Porträtmaler Carl Huter (1861–1912), dessen Lehren durch den in der Schweiz ansässigen Carl-Huter-Bund lebendig gehalten werden. Huter gilt seinen Anhängern bis heute als Universalgenie. Er legte äußerst umfangreiche Deutungskataloge für alle Regionen des menschlichen Schädels vor. So unterscheidet er beispielsweise zehn Nasen- und fünf Kinnformen, denen er jeweils spezifische Persönlichkeitsdeutungen unterlegt, wobei jede Nasenform wiederum  in einzelne Deutungsareale zu unterteilen ist. Der Mund bietet fünf solcher Areale, während für die Partie oberhalb eines Auges nicht weniger als sieben vorgesehen sind. Auf der Schädeloberfläche finden sich mehrere dutzend Deutungspunkte. Berücksichtigt man nun noch, dass jedes Areal unterschiedliche Formen aufweisen kann (z. B. mehr oder weniger gewölbt oder groß ist), so bekommt man eine ungefähre Vorstellung von der Komplexität möglicher Interpretationen. Alleine die Betrachtung der Ohren kann zu weit mehr als 3000 Charakterisierungen herangezogen werden (3 Ohrgrößen x 3 Formen der Segelohrigkeit x 3 Ohrzonen x 3 Schrägheitsgrade x 3 Höhenparameter x 5 Ohroberkantenareale x 3 Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen rechtem und linkem Ohr). Hinzu kommen Kriterien wie etwa die „Schönheit“ der Ohren. Aber Carl Huter beschäftigt sich nicht nur mit der Schädeldeutung. Für ihn bietet der gesamte Körper eine Grundlage zur Interpretation. Dabei beschränkt er sich jedoch auf die Unterscheidung grundlegender Körpertypen – so genannter „Naturelle“ –, die bereits in der Lehre von den vier Körpersäften nach Galen (129–216) angelegt ist und im 20. Jahrhundert vor allem in der Konstitutionstypologie des deutschen Psychiaters Ernst Kretschmer (1888–1964) weiterlebte. Der Ruf Huters als Universalgenie rührt jedoch nicht nur von seinen Ideen zur Psycho-Physiognomik. Jenseits dieser Arbeit formuliert er Modelle zu unterschiedlichsten Themenfeldern, die ihn und seine Zeit bewegt haben: Graphologie, Irisdiagnostik, Rassenlehre, Paläontologie und schließlich sogar die Entstehung des Weltalls.

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Abb. 4: Deutungsareale auf dem Oberkopf (nach Huter 1904, S. 216)

Fragt man nach den Gründen, warum sich überhaupt die Persönlichkeit eines Menschen in der Schädel- und Gesichtsform widerspiegeln soll, so stößt man  in der zeitgenössischen Fachliteratur auf weitestgehende Leere. Dies scheint ein Thema zu sein, das heute kaum noch einen Schädeldeuter interessiert. Der erste, der systematisch nach den Ursachen der behaupteten Zusammenhänge gefragt hat, war Franz Joseph Gall (1758–1828), der Begründer der Phrenologie. Er geht davon aus, dass jeder menschlichen Eigenschaft ein spezifisches Hirnareal zugeordnet werden kann. Je stärker eine bestimmte Eigenschaft ausgeprägt ist, desto größer sollte das entsprechende Areal sein. Je nach Größe des Areals wird nun von der Innenseite des Schädels ein mehr oder minder starker Druck auf den Knochen ausgeübt. Dieser Schädelinnendruck wiederum sollte dafür verantwortlich sein, dass an bestimmten Stellen Wölbungen entstehen, die auf eine besonders starke Ausprägung des darunter liegenden Hirnareals hindeuten. Für die damalige Zeit, in der man so gut wie nichts über die Funktion des Gehirns wusste, war dies durchaus eine legitime Hypothese. Aus heutiger Sicht ist sie jedoch völlig unhaltbar. So ist es beispielsweise nicht gelungen, jeder denkbaren Eigenschaft eines Menschen ein spezifisches Hirnareal zuzuordnen und es ist auch unwahrscheinlich, dass dies jemals gelingen wird. Eigenschaften sind wohl eher das Ergebnis eines netzwerkartigen Zusammenspiels unterschiedlicher Hirnstrukturen.

Selbst wenn es klar lokalisierbare Zuschreibungen gäbe, dürfte die Masse der jeweils winzigen Hirnsubstanz nicht stark genug sein, um eine Verformung des Schädels an spezifischen Stellen herbeiführen zu können. Jenseits dieser grundlegenden Einwände hätte man sich zudem auch schon zu Zeiten Galls fragen können, wie denn der vermutete Schädelinnendruck auf die Gestaltung von weiter entfernten Knorpel- und Weichteilen (Nasenform, Ohrläppchengröße etc.) wirken sollte. Dies kann die Theorie Galls nicht erklären.

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Ein Schädel, beschriftet nach Franz Joseph Galls Phrenologie-System

Carl Huter beschreitet einen völlig anderen Weg und bleibt dabei deutlich nebulöser als Gall. Nach Huter ist die Körper- und Schädelform das Ergebnis eines Zusammenspiels aus genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen. Hierbei spielen mehrere von ihm eigens definierte „Strahlungsenergien“ eine wichtige Rolle. Die zu deutende Körperhülle ist seiner Theorie zufolge einem ständigen wechselseitigen Energieaustausch zwischen innen und außen ausgesetzt und dieser prägt schließlich das Erscheinungsbild des Menschen. Wie dabei klare Deutungspunkte entstehen sollen, die auf spezifische Eigenschaften des Menschen hindeuten, bleibt unklar.

Zeitgenössische Schädeldeuter  äußern sich zu diesem Thema entweder gar nicht (Palm, Pinl 2005), verweisen auf Carl Huter (Castrian 2006) oder sprechen diffus von Energieströmen oder Durchblutungsprozessen, die hier am Werke sein sollen. Alles in allem gibt es bislang also weder eine plausible Theorie der Psycho-Physiognomik noch ein wie auch immer geartetes Bemühen um empirische Evidenz. Nun könnte man zu Recht einwenden, es mag ja auch  jenseits einer Theorie Zusammenhänge geben, die man sich bislang noch nicht erklären kann. Nichts wäre leichter, als in einer empirischen Studie beispielsweise den Zusammenhang zwischen der Größe der Ohrläppchen und dem wirtschaftlichen Erfolg der Ohrläppchenträger zu untersuchen. Derartige Studien gibt es leider nicht. Stattdessen beschränken sich moderne Schädeldeuter darauf, den Zusammenhang einfach zu behaupten oder verweisen auf angeblich jahrhundertealtes Erfahrungswissen. Ergänzend hierzu arbeitet man mit konstruierten Vergleichen, die in der Tradition von Lavater und Lombroso stehen. So analysiert z. B. ein zeitgenössischer Psychophysiognom ausführlich den Schädel eines berühmten Rennfahrers und nimmt anschließend eine Interpretation vor, die wohl den meisten Lesern plausibel erscheinen wird: konzentriert, fleißig, willensstark etc. Dass derartige Vergleiche eher den Charakter eines Taschenspielertricks haben, muss hier nicht erläutert werden.

Schauen wir uns zum Schluss noch die diagnostischen Werkzeuge und Prozesse an, die im Rahmen der praktischen Anwendung der Schädeldeutung zum Einsatz kommen. Auch hier muss ein ernüchterndes Fazit gezogen werden. Als „Messinstrument“ fungiert allein das Augenmaß des Schädeldeuters. Ob ein Ohrläppchen als groß, mittelgroß oder klein zu gelten hat, entscheidet er allein, ohne den Einsatz eines Maßbandes oder ähnlicher Hilfsmittel. Inwieweit die sieben Areale oberhalb eines Auges gewölbt oder flach sind, muss er selbst festlegen. Technische Apparaturen oder klare Vergleichsmodelle existieren nicht. Hinzu kommt, dass sich dutzende der Deutungspunkte unter der Kopfbehaarung verbergen und daher gar nicht in die Untersuchung einfließen können. Selbst wenn man dies ausblendet, bleibt immer noch das Problem, wie man die ungeheure Vielzahl der Einzelinformationen, die sich allein aus der Betrachtung von Augen, Nase, Ohren und Mund ergeben, zu einem diagnostischen Urteil integrieren soll. Auch hierzu gibt es keinerlei Regeln. Am schönsten bringt Wilma Castrian – die Grande Dame der deutschen Psycho-Physiognomik – das Niveau der Diagnostik zum Ausdruck, wenn sie schreibt: „Merkmalskataloge sind nur grobe Anhaltspunkte, den Menschen erfahren Sie allein dann, wenn Sie sich selbst leer machen und sich mit allen Sinnen auf ihr Gegenüber einlassen, um zu erkunden: ‚Wer ist dieser Mensch?’ (…) Machen Sie sich dabei bewusst, dass es so etwas wie Telepathie oder Resonanzdimensionen gibt. Es findet eine nonverbale  Übermittlung statt, die erstaunliche Botschaften überbringen kann.“ (2006, S. 60).

Alles in allem erweist sich die Psycho-Physiognomik mithin als eine jahrhundertealte Glaubenslehre, die es bis heute nicht einmal geschafft hat, eine plausible, in sich schlüssige Theorie aufzustellen. An die Stelle empirischer Belege treten Behauptungen und Scheinbeweise in Form von Einzelfalldarstellungen. Die Diagnostik spiegelt vor allem das subjektive Empfinden der Diagnostiker wider und kann nicht einmal im Entferntesten übliche Qualitätskriterien erfüllen.

Ungeachtet dieser Fakten befindet sich die Schädeldeutung  in Deutschland seit einigen Jahren deutlich im Aufwind. Inzwischen bieten mehrere Unternehmensberatungen ihre fragwürdigen Dienste insbesondere zum Zwecke der Personalauswahl an. Darüber hinaus soll die Physiognomik bei der richtigen Einschätzung von Mitarbeitern und Kunden helfen. In den Medien sind ihre Vertreter gern gesehene Exoten, die nahezu ohne jede Kritik ihre Thesen verbreiten können. Schenkt man den Selbstdarstellungen der Schädeldeuter Glauben, so arbeiten sie inzwischen mit vielen, auch sehr namhaften Unternehmen zusammen. Belegt sind Deutungsseminare für Manager ebenso wie der Einsatz der Psycho-Physiognomik beim TÜV Rheinland (Schwertfeger 2006). Im Jahre 2008 deutete eine Physiognomin auf einer Absolventenmesse in Köln vor großem Publikum die Schädel stellensuchender Studenten, ohne dass irgendjemand hieran öffentlich Anstoß nimmt. Im Frühjahr 2010 bietet die IHK einer deutschen Millionenstadt offiziell Schädeldeutungsseminare für ihre Mitglieder an.

Jenseits der Wirtschaft wird die Psycho-Physiognomik aber auch im privaten Sektor vertrieben. Für einen Beitrag zwischen 270 und 1800 Euro können Eltern beispielsweise vom Carl-Huter-Bund ihre Kinder analysieren lassen, um anschließend die richtigen Entscheidungen zur Förderung der Sprösslinge in die Wege zu leiten. Bei manchen Vertretern der Zunft kann man ein Foto einschicken und sich ein Gutachten zur Selbsterkenntnis erstellen lassen, oder aber man kauft ein Buch zur Selbstanalyse (z. B. Palm, Pinl 2005).

 

Graphologie

Auch die Graphologie kann auf eine lange Vergangenheit zurückschauen. 1625 legt der italienische Mediziner Camillo Baldi ein erstes Buch vor, in dem er die bis

dahin stattgefundene „Theoriebildung“ zusammenfassend aufarbeitet. Die Bezeichnung Graphologie wird jedoch erst 200 Jahre später durch Jean Hippolyte Michon (1806–1881) eingeführt.

Grundsätzlich nimmt die Graphologie an, man könne aus der Handschrift eines Menschen etwas über dessen individuelle Eigenschaften ablesen. Durch die Handschrift wird ein beschriebenes Blatt Papier gewissermaßen zur Projektionsfläche der Darstellung einer Persönlichkeit. Doch es geht nicht nur um Persönlichkeitsmerkmale, sondern auch um Fähigkeiten, Verhaltensorientierungen und Werte. Helmut Ploog – einer der führenden deutschsprachigen Graphologen – glaubt beispielsweise, er könne in einer Handschrift Informationen über die folgenden Aspekte finden: Lebensziel/Leitbild eines Menschen, Niveau, Format, Struktur, Transparenz, Entwicklungsperspektive, Entwicklungsrückstände, Intelligenz, Vitalität, Temperament, Dynamik, Motivation, Leistungsvermögen, Extraversion/Introversion, Teamverhalten, Kollegialität, emotionelle Resonanz, Korrektheit, Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Integrität, Analyse/Synthese, Überblick, Urteilsvermögen, Planung und Organisation, Kreativität, Belastbarkeit, Beweglichkeit, Ausdauer, Ausdrucksfähigkeit, Kontaktfähigkeit, Überzeugungskraft, Durchsetzungsfähigkeit und Führungsfähigkeit (Ploog 2008).Die Grundlage für entsprechende Deutungen bilden zahlreiche Richtlinien zur Interpretation spezifischer Schriftmerkmale. So interessiert man sich beispiels-weise für die Neigung der Schrift. Eine nach rechts geneigte Schrift spricht demnach für einen Menschen, der sich seiner Umwelt zuneigt, forsch voranschreitet und sogar zügellos sein kann. Menschen mit nach links geneigter Schrift wären hingegen eher zurückhaltend, ängstlich und wenig selbstbewusst. Zudem interessiert sich die Graphologie für die Verbindung zwischen den einzelnen Buchstaben innerhalb eines Wortes. Stehen die Buchstaben isoliert nebeneinander, wird dies als ein untrüglicher Hinweis auf die Sprunghaftigkeit und analytische Kompetenz des Schreibers gedeutet. Demgegenüber erkennt man einen integrativ denkenden Menschen an einem hohen Grad der Verbundenheit der Buchstaben. In diesem Stil werden zahlreiche Schriftmerkmale interpretiert: Regelmäßigkeit, Anfangs- und Endbetonung eines Wortes, Formreichtum, Leserlichkeit, Strichrichtung, Größe, Weite, Strichbreite, Anpressdruck etc. Hinzu kommen Merkmale der Verteilung der Schrift auf einem Blatt: Abstand zwischen den Zeilen, Verlauf der Schriftzeile (z. B. ansteigend oder abfallend), Abstand zwischen dem Text und den Seitenrändern des Blattes. In früheren Jahren hat man überdies gern exemplarische Schriftbeispiele von Personen mit besonderem Lebenslauf zum illustrierenden Vergleich herangezogen (z. B. Generaldirektor vs. Sexualmörder).

Eine schlüssige Begründung dafür, warum überhaupt die Eigenschaften eines Menschen in seiner Handschrift zum Ausdruck kommen sollen, sucht man in der einschlägigen Fachliteratur ebenso vergeblich wie eine differenzierte Theorie zu den spezifischen Deutungen einzelner Schriftmerkmale. Stattdessen begnügen sich manche Graphologen mit dem allgemeinen Hinweis, das Schreiben sei eine besondere Form der Körpersprache und daher ebenso wie diese Ausdruck innerpsychischer Prozesse. Für eine Wissenschaft, die mehrere hundert Jahre Zeit hatte, Theorien zu bilden, ist dies ein trauriges Ergebnis. An die Stelle von Erklärungen treten symbolhafte Assoziationen, wie man sie zum Teil aus der PsychoPhysiognomik kennt: oben = Geist, unten = Trieb (z. B. Buchstaben, die weit nach oben oder unten hinausschießen); links = innen, rechts = außen etc. Jenseits einer fehlenden Erklärung für die angenommenen Zusammenhänge zeichnet sich die Graphologie durch eine diagnostische Praxis aus, die weit davon entfernt ist, internationalen Standards zu genügen. Zwar könnte man die Erfassung ausgewählter Schriftkriterien – wie etwa der Schriftgröße – durch entsprechende Messinstrumente relativ gut objektivieren. Die meisten Kriterien lassen dem Graphologen aber geradezu anarchische Freiheiten. Dies gilt beispielsweise für die Lesbarkeit der Schrift oder auch das Mutmaßen über die Geschwindigkeit, mit der ein Text zu Papier gebracht worden  ist. Hierdurch wird das Ergebnis der Diagnose in erheblichem Maße von der Person des Graphologen beeinflusst. Manche Vertreter dieser Zunft sehen hierin sogar eine Stärke ihrer Arbeit und lehnen die Deutung einzelner Schriftmerkmale ab. Stattdessen fahren sie mit einem Stift den Schriftverlauf nach und lassen dabei in sich einen Eindruck von der Persönlichkeit des Verfassers entstehen, den sie dann als das Ergebnis ihrer Untersuchung betrachten. Weitere Probleme ergeben sich aus der völligen Ausblendung möglicher Rahmenbedingungen, die das Schriftbild beeinflussen können. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an das Ausmaß der Routine bei der Abfassung handschriftlicher Texte in einer Zeit, in der die meisten Menschen wohl überwiegend per Computer schreiben. Ebenso dürfte die Auswahl des Papiers und des Schreibgerätes das Schriftbild beeinflussen.

Da die Graphologie bis in die 60er Jahre hinein u. a. in der universitären Psychologie verwurzelt war, überrascht es nicht, dass bislang weit mehr als 200 empirische Studien vorliegen. Unter dem Strich sind die Befunde dieser Studien für die Schriftdeutung allerdings verheerend (King, Koehler 2000). Signifikante Zusammenhänge zwischen graphologischen Gutachten und etablierten Persönlichkeitstests lassen sich nur sehr selten belegen. Wenn dies einmal der Fall ist, fallen sie sehr gering aus und beruhen nicht selten auf methodisch unzureichenden Studien. Zusammenhänge zwischen den Ergebnissen graphologischer Personalauswahl und dem beruflichen Erfolg lassen sich nur dann belegen, wenn die Graphologen einen Lebenslauf deuten. In diesem Fall ist die Validität der Urteile allerdings ebenso gering wie die einer freien Deutung des Lebenslaufes durch diagnostische Laien. Wird den Schriftdeutern ein handschriftliches Diktat zur Begutachtung vorgelegt, das keinerlei biographische Informationen enthält, sinkt die Validität auf Null (Netter, Ben-Shakhar 1989). Mit anderen Worten, die Kunst der graphologischen Personalauswahl besteht ausschließlich in einer laienhaften Deutung der Inhalte von Lebensläufen. Die eigentliche Deutung der Schrift hat keinen Einfluss auf die Validität des Urteils. Alles  in allem betrachtet gehört die Graphologie heute – neben der Astrologie – zu den am besten empirisch widerlegten Pseudowissenschaften. 

Die Hochzeit der Graphologie ist in Deutschland sicherlich schon lange vorbei. Dennoch gibt es auch heute noch Unternehmen und Privatpersonen, denen die Dienste eines Graphologen nicht von vornherein suspekt erscheinen (vgl. Schäfer 2009). Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland ca. 2-3 % der Un-ternehmen graphologische Gutachten zur Personalauswahl einsetzen (Schuler et al. 2007). Auf den ersten Blick wirkt diese Zahl nicht besonders beeindruckend. Man muss jedoch bedenken, dass jährlich hunderttausende von Stellen ausgeschrieben werden und sich in aller Regel auf jede Ausschreibung mehrere Menschen bewerben. Im Ergebnis dürften mithin in jedem Jahr mehrere tausend Menschen von der Anwendung der Graphologie in der Personalauswahl betroffen sein. Das zentrale Verkaufsargument  ist dabei übrigens die angeblich unmögliche Verfälschbarkeit er Handschrift.

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Top-Abschluss, beste Referenzen. ob es jedoch mit dem Traumlob klappt, dafür ist manchen Unternehmen die Handschrift mitentscheidend.

Quelle: Gina Sanders – Fotolia.com

Ähnlich wie bei der Psycho-Physiognomik wird die Graphologie aber auch zu privaten Zwecken eingesetzt. Ein Zitat von Helmut Ploog spricht hier für sich: „…wenn ein Vater die Verbindung seiner Tochter mit einem Haftentlassenen beurteilen lassen will oder wenn die Mutter eines jungen Arztes dessen Heirat mit einer Krankenschwester vereiteln oder wenn ein junger Deutscher eine Frau von den Philippinen heiraten möchte. In all diesen Fällen  ist es unbedingt erforderlich, die Schriften beider Partner zu sehen, um die Reagenz der zwei Personen aufeinander abzuschätzen.“ (Ploog 2008, S. 146f). Andere Einsatzgebiete wären wiederum die Begabungsanalyse bei Kindern und Jugendlichen sowie ihre Verwendung als diagnostisches Mittel in der Psychotherapie. Wer mehr über sich selbst erfahren möchte, kann zudem im Internet seine eigene Handschrift mit mehreren Beurteilungsskalen einschätzen und erhält anschließend ein aus Textbausteinen zusammengesetztes Gutachten

 

Namenspsychologie

Während die Psycho-Physiognomik und die Graphologie auf eine jahrhundertealte Geschichte zurückblicken können, handelt es sich bei der Namenspsychologie um einen Ansatz, der erst seit wenigen Jahren auf dem Markt ist. Dabei verdeutlicht die Namenspsychologie in hervorragender Weise, wie man auch in unseren Tagen allein durch die Aneinanderreihung völlig beliebiger Behauptungen eine pseudodiagnostische Methode aus der Taufe hebt. Die Erfahrungen mit der Psycho-Physiognomik oder auch der Astrologie lassen befürchten, dass man sie auch noch in hundert Jahren betreiben wird.

Der Grundgedanke ist sehr einfach: Aus der Abfolge der Buchstaben im Vor- und Zunamen eines Menschen will die Begründerin der Namenspsychologie – Angelika Hoefler – so mancherlei Verborgenes über einen Menschen ablesen können: „woraus der Mensch seine Kraft bezieht, wie diese Kraft beschaffen ist, welche Haupteigenschaft ein Mensch aus vergangenen Leben mitbringt, welches Ziel er hat, welche Aufgaben er in seinem Leben erfüllen muss, welchen Weg er gehen kann, welche Eigenschaften er hat, welchen Ruf er genießt, die gesamte materielle Seite des Lebens, wie sich Partner-schaften entwickeln, seine Zufriedenheit“ u. v. m. (Hoefler 2000).

Die zum Zwecke der Deutung eingesetzte Methode ist recht komplex. Zunächst einmal hat  jeder Buchstabe für sich eine Bedeutung bzw.  „Energie“ (Beispiel: B = Wissen, Intellekt, Studien, Theorie, Bewusstseinsentwicklung; Hoefler 2004). Zudem besitzt jeder Platz, an dem sich ein Buchstabe im Namen befinden kann, eine eigene Energieform. Der erste Buchstabe eines Namens steht  im ersten  „Haus“, das wiederum für  „Wille, Energie, Kraft, Disziplin, Konzentration, Durchsetzungsvermögen und Autorität“ steht. Beginnt der Vorname mit dem Buchstaben B, sind beide soeben skizzierten Energieformen in der fraglichen Person miteinander verwoben. Dementsprechend wird Buchstabe für Buchstabe jede Energiekombination gedeutet. Doch damit nicht genug. Das „Lebensthema“ eines Menschen kann man an der bloßen Summe der Buchstaben ablesen. Der „Charakterkern“ ergibt sich hingegen aus der Quersumme der „Platzenergien“ der mittleren Buchstaben eines Namens. Weitere Quersummen der Platzenergien werden für die Buchstaben links und rechts des Charakterkerns berechnet. Sie geben Aufschluss über das Handlungspotential eines Menschen (links) sowie sein Denkpotential (rechts). Zudem berechnet man die so genannten Charakterschalen“ ebenfalls über Quersummen. Die äußere Charakterschale wird aus dem ersten und dem letzten Buchstaben gebildet. Wem dies noch nicht reicht, der kann auch alle Buchstaben deuten, die nicht (!) in dem Namen vorkommen. Wir wollen es mit dieser recht oberflächlichen Skizze der Auswertungsmöglichkeiten einmal bewenden lassen. Fragen wir lieber nach den Wurzeln dieser geheimnisvollen Lehre.

Frau Hoefler beschreibt selbst ihr Vorgehen bei der Entwicklung der Namenspsychologie am besten: „Ich habe viele hunderte auch historischer Namen untersucht, unzählige Erkenntnismethoden erprobt und wieder verworfen, neue erprobt und wieder neue und wieder andere.“ (Hoefler 2004, S. 8). Das war’s, mehr wird dem interessierten Leser nicht verraten. Würde nun ein Kritiker einwenden, der Name eines Menschen könne überhaupt nichts mit seiner Persönlichkeit, seinem Schicksal etc. zu tun haben, da die Eltern den Vornamen frei wählen und der Familienname beispielsweise durch eine Heirat verändert werden kann, hätte Frau Hoefler eine für sie offenbar überzeugende Kette von Gegenargumenten: Sie glaubt an die Wiedergeburt. Verlässt eine Seele einen toten Körper, sucht sie sich ein neugeborenes Kind, in das sie schlüpfen kann. Bei der Suche nach dem passenden Leib muss die geistige Welt darauf achten, dass der Familienname namenspsychologisch zu den Eigenschaften der Seele passt. Der Vorname wird dann nur noch scheinbar frei gewählt. In Wirklichkeit ist es so, dass die geistige Welt den Eltern den Namen eingibt und zwar so, dass sie genau den Namen für ihr Kind auswählen, der namenspsychologisch zur einfahrenden Seele passt. Ähnlich verhält es sich bei Namensänderungen. Auch sie sind vorherbestimmt. Unbewusst wählt man seinen Lebenspartner so aus, dass auch der neue Familienname dem Wesen der Seele entspricht. Aber leider kann die geistige Welt nicht alles kontrollieren. Schwierigkeiten entstehen beispielsweise, wenn man von seiner Umwelt einen Spitznamen übergestülpt bekommt, der nicht zur eigenen Seele passt. Dies – so weiß Frau Hoefler zu berichten – kann dann der Beginn einer psychischen Störung sein.Empirische Studien zur Namenspsychologie gibt es nicht. Wahrscheinlich hätte die Gründerin ein derartiges Ansinnen auch als allzu weltliche, ja geradezu naive Sichtweise auf die geheimnisvollen Wahrheiten der geistigen Welt abgelehnt. Wissenschaftler haben sich der Sache bislang wohl nicht angenommen, da die Namenspsychologie zum einen eine sehr kleine, fast unbekannte Pseudowissenschaft ist und zum anderen durch ihre quasireligiösen Wurzeln nicht satisfaktionsfähig erscheint. Gleichwohl wurde auch die Namenspsychologie wirtschaftlich genutzt. Natürlich bietet sich hier ebenso wie bei der Psycho-Physiognomik und der Graphologie das Einsatzgebiet der Personalauswahl an. Zudem kann man sich selbst privat analysieren lassen. Dabei scheint die Namenspsychologie gegenüber ihren Konkurrenten einen deutlichen Marktvorteil zu haben, da man sie besonders leicht ohne jedes Wissen über die zu deutende Person vornehmen kann. Alles, was man dazu benötigt, ist allein der Vor- und Zuname eines Menschen. Frau Hoefler gibt im Jahre 2004 an, bis dahin mehr als 15 000 Namensanalysen durchgeführt zu haben.

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Name als Schicksal: Anhänger der Namenspsychologie sind davon überzeugt, dass höhere Mächte die Abfolge der Buchstaben in unseren Namen vorherbestimmen – und damit unsere Geschicke lenken.

Quelle: Tomy – Fotolia.com

Vor dem Hintergrund der Hoefler’schen Theorie mutet allerdings ein anderes Marktsegment etwas merkwürdig an. Die Namenspsychologie soll Unternehmen auch bei der Namensfindung für Produkte oder bei Fragen der Fusion behilflich sein. So wusste Frau Hoefler nach eigenem Bekunden schon lange vor dem Scheitern der Fusion von Time Warner und AOL, dass dieser Zusammenschluss nicht gut gehen konnte, denn schließlich passen beide Firmennamen nicht zueinander. Dies kann man natürlich nur nach einer namenspsychologischen Analyse erkennen. Leider nimmt Frau Hoefler nicht Stellung dazu, wie man sich Derartiges erklären kann. Können Seelen auf der Suche nach einer neuen Heimat auch in Firmen oder Produkte einfahren? Wir wissen es nicht.

 

Die Psychologie der Scharlatanerie

Weder Psycho-Physiognomik noch Graphologie oder Namenspsychologie liefern ihren Kunden eine diagnostisch wertvolle Aussage über verborgene Merkmale eines Menschen. Orientiert man sich allein an den Fakten, so müsste jede dieser Methoden inzwischen vom Markt verschwunden sein. Dies  ist aber offensichtlich nicht der Fall. Dutzendfach empirisch widerlegte Ansätze wie die Graphologie finden immer noch zahlreiche Anhänger und Kunden. Wie lässt sich dergleichen vor dem Hintergrund bekannter psychologischer Phänomene erklären?

Zunächst einmal scheint es so, als würden die Anbieter offenbar ein wichtiges Bedürfnis ihrer Kunden befriedigen. Nicht nur im Rahmen der Personalauswahl möchte man ganz gern einmal hinter die Fassade der Selbstdarstellung eines Menschen blicken und zu seinem wahren Kern vorstoßen. Die Anbieter behaupten ganz einfach, dass ihre Methode hierzu in der Lage sei und noch dazu mit wenig Aufwand und vertretbaren Kosten einhergehe.

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Hinter die Maske der Mitmenschen schauen – wer möchte das nicht manchmal?

Quelle: Denise Campione – Fotolia.com

Trotz dieser Versprechungen dürften die meisten potenziellen Kunden skeptisch bleiben. Im Grunde genommen befinden sie sich in einem Zustand der Unsicherheit. Sie wissen nicht, welche Entscheidung (Angebot annehmen oder ablehnen) die richtige wäre. Die in der Psychologie empirisch gut abgesicherte Theorie der sozialen Vergleichsprozesse (Festinger 1954) besagt, dass man in einem solchen Zustand im Prinzip auf zwei alternative Informationsquellen zurückgreifen kann: Entweder sucht man objektive Fakten oder aber – wenn solche Fakten nicht verfügbar sind – man schaut, welche Meinung andere Menschen zu diesem Thema haben (= sozialer Vergleich). Richtig erscheint dann das, was viele andere Menschen glauben. Die Forschung zeigt, dass wir selbst dann zu einem solchen Vergleich neigen, wenn prinzipiell objektive Informationen zur Verfügung stehen würden. Diese Prinzipien machen sich die Vertreter unseriöser Diagnosemethodenzunutze, wenn sie auf viele, z. T. auch prominente Kunden (Personen oder Firmen) verweisen, die ihre Dienstleistungen bislang in Anspruch genommen haben. Zudem deutet das  immer wieder gern eingesetzte Argument, es handele sich um eine Wissenschaft mit  jahrhundertealter Tradition, auf tausende von Menschen hin, die diesem Weg gefolgt sind. Im Kurzschluss verfahren manche potenziellen Kunden dann nach dem Urteilsprinzip „Millionen Leser können sich nicht irren.“

Hilfreich erweist sich überdies eine gewisse Präsenz der Pseudowissenschaft in der Mediengesellschaft. Dabei wirkt sich der HäufigkeitsValiditäts-Effekt (Hertwig 1993) zu Gunsten der Anbieter aus. Der Effekt besteht darin, dass Menschen eine Aussage umso glaubwürdiger erscheint, je häufiger sie mit ihr konfrontiert werden. Vorteilhaft ist es zudem, wenn die einzelnen Informationsquellen unabhängig voneinander erscheinen. Am Beispiel der Psycho-Physiognomik kann man den Effekt gut verdeutlichen: Irgendwann einmal liest ein Bürger in einer Illustrierten einen völlig unkritischen Beitrag über die Möglichkeiten der Schädeldeutung. Wenige Wochen später sieht er einen hierzu passenden Bericht in einem TV-Magazin. Hierdurch neugierig geworden geht er  ins Internet und findet zum Stichwort „Physiognomik“ tausende von Einträgen. Auch wenn es hierunter durchaus kritische Einträge gibt, überwiegen doch die neutralen oder gar positiven Darstellungen. Zu guter Letzt erfährt die Person vielleicht noch, dass die örtliche IHK entsprechende Schulungen anbietet oder die Personalabteilung des eigenen Arbeitgebers einen Schädeldeuter zum Vortrag eingeladen hat.

Die Anbieter diagnostischer Dienstleistungen bleiben  jedoch nicht nur passiv und warten ab, dass über sie berichtet wird, sie liefern ihrerseits reichhaltige Scheinbeweise für die Qualität ihrer Aussagen. Besonders beliebt sind Analysen von prominenten Personen, bei denen das Gutachten die Person weitestgehend so schildert, wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Leitet man beispielsweise aus der Handschrift von Barack Obama Hinweise auf eine hohe Durchsetzungsstärke ab, so werden viele Betrachter zustimmend nicken und hierin einen Beleg für die Qualität der Graphologie sehen. Einen noch absurderen Weg beschreibt Angelika Hoefler, wenn sie ihren eigenen Namen nach allen Regeln der Kunst deutet und zu dem Ergebnis kommt, dass er  „Wahrheit“ bedeutet. Dies wiederum erscheint ihr als ein untrüglicher Hinweis darauf, dass die von ihr entwickelte Namenspsychologie wahr sein muss. Vielen Menschen mag dieser abenteuerliche Zirkelschluss als solcher gar nicht auffallen.

Eine besondere Form des Scheinbeweises liegt vor, wenn die begutachteten Personen sich selbst in ihrem Gutachten wiedererkennen und dies wiederum als einen besonders überzeugenden Beleg für die Qualität der Methode interpretieren. Schon in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts hat jedoch der amerikanische Psychologe Forer empirisch gezeigt, dass dies ein Kurzschluss ist. In seiner wegweisenden Untersuchung legt er mehreren Studenten dasselbe Persönlichkeitsgutachten vor. In dem Glauben, es sei ganz individuell für sie verfasst worden, finden sich die Probanden trotz unterschiedlicher Persönlichkeit im Durchschnitt sehr gut beschrieben. Der Trick besteht darin, dass man möglichst allgemeine und zum Teil auch einander widersprechende Aussagen formuliert. Sie bieten nahezu jedem Leser die Möglichkeit, sich irgendwie in dem Gutachten wiederzufinden (= Forer-Effekt oder Barnum-Effekt). Droht eine ernstzunehmende empirische Überprüfung der eigenen Thesen, so kann man als Vertreter einer Pseudowissenschaft jederzeit eine ablehnende, erkenntnistheoretische Perspektive einnehmen. Man definiert sich kurzerhand als Vertreter einer geisteswissenschaftlich-konstruktivistischen Strömung, deren Inhalte man mit Methoden, die an naturwissenschaftliches Arbeiten angelehnt sind, schlichtweg nicht untersuchen kann. Auf diesem Wege immunisiert man sich gegen jegliche Kritik von Seiten der empirischen Wissenschaft.

Die Analyse möglicher Gründe für das Überleben bzw. die Wiederauferstehung pseudowissenschaftlicher Methoden ist an dieser Stelle sicherlich noch unvollständig. Letztlich ist es ein Konglomerat vieler Faktoren, die zusammenwirken. Trotz aller Bemühungen um Erklärungen bleibt man dabei als Betrachter jedoch nicht selten mit einer gewissen Fassungslosigkeit zurück. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man prominenten Vertretern der Pseudowissenschaft persönlich begegnet. Mit Argumenten kommt man hier nicht weiter. Das Unterfangen verspricht ungefähr so viel Erfolg wie der Versuch, vom Papst einen empirischen Gottesbeweis einzufordern. Die überzeugten Anhänger wird man nicht mehr zur Vernunft bekehren können. Daher muss die Zielrichtung einer um Aufklärung bemühten Wissenschaft vor allem darin bestehen, die noch nicht infizierten potenziellen Kunden in ihrer vielleicht nur latent vorhandenen Skepsis zu bestärken.

 

Literatur

Castrian, W. (2006): Praxis der Psycho-Physiognomik. Haug, Stuttgart.

Festinger, L. (1954): A theory of social comparison processes. Human Relations, 7, 117–140.

Forer, B. R. (1949): The fallacy of personal validation: A classroom demonstration of gullibility. Journal of Abnormal Social Psychology, 44, 118–123.

Hertwig, R. (1993): Frequency-validity-effect und hindsight-bias: Unterschiedliche Phänomene – gleiche Prozesse?. In: Hell; W.; Fiedler, K.; Gigerenzer, G. (Hrsg.): Kognitive Täuschungen. Spektrum, Heidelberg.

Hoefler, A. (2004): Die Psychologie des Namens. Wildpferd, Bonn.

Kanning, U. P. (2007): Wie Sie garantiert nicht erfolgreich werden! Dem Phänomen der Erfolgsgurus auf der Spur. Pabst, Lengerich.

Kanning, U. P. (2010): Von Schädeldeutern und anderen Scharlatanen. Unseriöse Methoden der Psychodiagnostik. Pabst, Lengerich.

King, R. N.; Koehler, D. J. (2000): Illusory correlations in graphological  inference. Journal of Experimental Psychology, 6, 336–348.

Netter, E.; Ben-Shakhar, G. (1989): The predictive validity of graphological inferences: A meta-analytic approach. Personality and Individual Differences, 10, 737–745.

Palm, S.; Pinl, A. (2005): Face-Reading. Was das Gesicht über die Persönlichkeit verrät. Kösel, Fulda.

Ploog, H. (2008): Handschriften deuten. Humboldt, Hannover.

Schäfer, R. (2009): Die Graphologie in der Personalauswahl: Eine kritische Analyse. Skeptiker, 1/2009, 36–39.

Schuler, H.; Hell, B.; Trapmann, S.; Schaar, H.; Boramir, I. (2007): Die Nutzung psychologischer Verfahren der externen Personalauswahl in deutschen Unternehmen – Ein Vergleich über 20 Jahre. Zeitschrift für Personalpsychologie, 6, 60–70.

Schwertfeger, B. (2006): Personalauswahl per Gesichtsanalyse. Personalmagazin, 11/2006, 32–35.

 

Prof. Dr. Uwe Peter Kanning, Jahrgang 1966, Dipl.-Psych., Professor für Wirtschaftspsychologie an der Fachhochschule Osnabrück. Autor von mehr als einem Dutzend Fachbüchern, darunter „Von Schädeldeutern und anderen Scharlatanen. Unseriöse Methoden der Psychodiagnostik“ 2010.

Kontakt: U.Kanning@fh-osnabrueck.de

Barbro Walker

Zusammenfassung

Die körperlichen Übungen der Edu-Kinestetik sollen Lese- und Rechtschreibprobleme bei Kindern ebenso verschwinden lassen wie Sprachstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Darüber hinaus verspricht die Edu-Kinestetik eine allgemeine Leistungssteigerung. Von ihren Verfechtern fälschlich als ganzheitliche Reformpädagogik gefeiert, hat sich die Edu-Kinestetik inzwischen in Schulen, Volkshochschulen, sogar in der Lehrerfortbildung etabliert. Doch die erhofften Wirkungen konnten nicht nachgewiesen werden. Auch die zugrunde liegende Theorie erweist sich bei näherer Betrachtung als obsolet. Der Mix aus mystischen Vorstellungen von „Energiebahnen im Körper“ und veralteten neurologischen Ansätzen ist eher mechanistisch gedacht als ganzheitlich. So blendet die Edu-Kinestetik die konkrete Lebenssituation des Einzelnen völlig aus. Auch ein reformpädagogischer Ansatz ist nicht zu entdecken: Vielmehr propagiert die Edu-Kinestetik einen unrealistischen Machbarkeitswahn und zementiert damit die Strukturen, die sie angeblich auflösen will.

Auszug aus dem Artikel

In den letzten zwanzig Jahren hat sich ein gewerblicher LebenshilfeMarkt etabliert, dessen Angebote die Heilung körperlicher Beschwerden, psychischer Störungen, die Bewältigung von Lebenskrisen, Leistungssteigerungen und vieles mehr versprechen. Zunehmend werden Eltern, Kinder und Pädagogen zu Adressaten dieses „PsychoMarktes“. Zahlreiche Ansätze und Methoden beziehen sich heute explizit auf pädagogische Probleme und drängen immer stärker in pädagogische Arbeitsfelder vor. Den größten Zulauf konnte in den letzten Jahren die so genannte Edu-Kinestetik bzw. Edu-Kinesiologie (auch: Brain-Gym) verzeichnen, die von ihren Vertretern als Heilsweg für die unterschiedlichsten pädagogischen Probleme propagiert wird.

Insbesondere im Schulbereich hat sich Edu-Kinestetik boomartig verbreitet. Sie wird von vielen Lehrern und Heilpädagogen praktiziert und ist in einigen Bundesländern sogar Bestandteil der Lehrerfortbildung. Etliche „Kinesiologen“ bieten heute in Schulen, Volkshochschulen und privaten Praxen Kurse bzw. Behandlungen von Kindern mit Edu-Kinestetik an. Kernstück dieser Methode sind körpernahe Behandlungstechniken, für deren Anwendung bei Kindern zahlreiche positive Effekte prophezeit werden, etwa die Behebung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, von Sprachstörungen, Sehfehlern, Hyperaktivität, Aggressionen und Ängsten, vermehrte Leistungssteigerungen, ein besseres Sozialverhalten oder die „Erweiterung des Gehirnpotenzials“.

Die einschlägigen Schriften berichten wortreich von angeblichen „Heilungen“ und Leistungssteigerungen bei Schul- und Kindergartenkindern durch Edu-Kinestetik und versprechen Pädagogen merkliche Arbeitserleichterungen. Mit Slogans wie „Bewegung ist das Tor zum Lernen“ oder dem Verweis auf ihre „Ganzheitlichkeit“ erweckt die Edu-Kinestetik den Anschein eines (reform)pädagogisch orientierten Ansatzes. Dieser Eindruck wird in den Schriften auch durch das gesellschaftskritische Auftreten ihrer Vertreter und das Anprangern schulischer Missstände gestärkt. Die Edu-Kinestetik stelle eine „natürliche, gesunde Alternative“ zu herkömmlichen Methoden der Problembewältigung dar (Dennison, Dennison 1998a, S. 11), und es sei im Sinne einer humanen, kindgerechten Bildung zu wünschen, dass Edu-Kinestetik bei möglichst vielen Kindern angewandt werde (vgl. Stier 1996). Ihre Vertreter behaupten, mit Edu-Kinestetik eine wissenschaftlich fundierte Methode vorzulegen. So heißt es unter anderem, ihr Begründer Paul Dennison sei ein „Pionier in Angewandter Gehirnforschung“ (Dennison, Dennison, 1998a, S. 6) und habe die Edu-Kinestetik auf dem Hintergrund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt. Die Edu-Kinestetik-Literatur kennzeichnet ein wissenschaftlicher Jargon, der von medizinischen – insbesondere neurologischen – Fachbegriffen dominiert wird. Zudem erwecken zahllose Verweise auf angebliche wissenschaftliche Untersuchungen und Disziplinen, aus denen heraus das Verfahren entwickelt worden sein soll, den Anschein von Wissenschaftlichkeit und Expertise.

Zwar ist die Methode in der Praxis weit verbreitet, eine wissenschaftliche Diskussion des Konzepts fehlt indes weitgehend. Was aber ist Edu-Kinestetik genau? Von welchen Annahmen geht sie aus? Ist sie tatsächlich ein seriöser, wissenschaftlich fundierter und pädagogisch sinnvoller Ansatz? Nachfolgend werden die zentralen Annahmen und Techniken der Edu-Kinestetik offengelegt. Es folgt eine Einschätzung der Wissenschaftlichkeit der Edu-Kinestetik und eine Bewertung aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Anschließend werden die Konsequenzen einer Übernahme der Edu-Kinestetik in pädagogische Kontexte antizipiert und ihre Seriosität beurteilt. Im Fazit und Ausblick werden Forderungen im Hinblick auf den Umgang mit der Edu-Kinestetik und anderen Heilsangeboten der gewerblichen Lebenshilfe formuliert.

 

Lesen Sie im Rest des Artikels:

  • Zentrale Annahmen und Techniken der Edu-Kinestetik
  • Wissenschaftliche Fundierung der Edu-Kinestetik
  • Edu-Kinestetik aus erziehungswissenschaftlicher Sicht
  • Implikationen der Edu-Kinestetik und Konsequenzen ihrer Rezeption in pädagogische Kontexte
  • Seriosität der Edu-Kinestetik
  • Fazit und Ausblick

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„Edu-Kinestetik ist eine ganzheitliche und wirkungsvolle Methode zum Abbau von Lernblockaden“, „Edu-Kinestetik befreit blockiertes Lernpotential“, „Brain-Gym hat sich als wirksam erwiesen bei Lernschwierigkeiten, Ängsten und Konzentrationsstörungen“, „Bewegung ist das Tor zum Lernen“, „Brain-Gym integriert das gesamte Gehirn“: So oder ähnlich lauten Aussagen, die im Zusammenhang mit Edu-Kinestetik, auch Brain-Gym genannt, auftauchen.

Die Begründer der so genannten Edu-Kinestetik sind Teilhaber eines privaten „Instituts“ (Institut für Angewandte Kinesiologie – IAK) sowie Verlages (Verlag für Angewandte Kinesiologie – VAK). Sie bieten zahlreiche Kurse an und verkaufen Literatur und Übungsmaterial in großen Mengen. Edu-Kinestetik ist mittlerweile so verbreitet, dass sie längst nicht mehr nur von den Begründern kommerziell angeboten wird. Viele Heilpraktiker, Psychologen und Pädagogen (insbesondere Lehrer) haben entsprechende Fortbildungen absolviert und bieten nun in Schulen, Volkshochschulen, in der Lehrerfortbildung oder in privaten Praxen eine Behandlung von Kindern mit Edu-Kinestetik bzw. Kurse an. Ihre Vertreter behaupten, mit der Edu-Kinestetik eine Methode zur Lösung vielfältiger pädagogischer Probleme vorzulegen. Ihr Hauptbegründer, der Amerikaner Paul Dennison, so heißt es, sei ein „Pionier in Angewandter Gehirnforschung“ (Dennison & Dennison 1998a) und habe Edu-Kinestetik auf dem Hintergrund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt (Dennison 1996).

Dreh- und Angelpunkt der Edu-Kinestetik sind körpernahe Behandlungstechniken (sog. Korrekturen), die beim Menschen angewandt angeblich viele positive Wirkungen erzielen können. Dabei werden vor allem positive Effekte für den (schul)pädagogischen Bereich bzw. bei Kindern versprochen, wie etwa die Beseitigung von Lernschwierigkeiten, Hyperaktivität und Ängsten, vermehrte Leistungssteigerungen oder eine „Erweiterung des Gehirnpotentials“. In speziell an Pädagogen und Kinder gerichteten Schriften wird die Anwendung der Korrekturtechniken unter umfangreichen Heilungsversprechen propagiert. Die Edu-Kinestetik wird dabei als eine wissenschaftliche Methode bezeichnet, und eine fachwissenschaftlich klingende Sprache sowie der Verweis auf angebliche Forschungen suggerieren ein ernst zu nehmendes wissenschaftliches Konzept. Mit Slogans wie „Bewegung ist das Tor zum Lernen“ oder dem Verweis auf „Ganzheitlichkeit“ u. ä. erweckt Edu-Kinestetik zudem den Anschein eines reformerisch und humanitär orientierten Ansatzes.

Welche Annahmen liegen diesem Ansatz zugrunde?

Die Edu-Kinestetik ist eine Spezialrichtung der Angewandten Kinesiologie, einem wissenschaftlich nicht anerkannten unkonventionellen Diagnose- und Therapieverfahren. Wie die Angewandte Kinesiologie beruht auch Edu-Kinestetik auf religiösen Ideen der Traditionellen Chinesischen Medizin, nämlich auf der Annahme einer spirituellen kosmischen „Energie“ (Qi), die das gesamte Universum durchdringen und im Körper von Menschen durch Leitbahnen, so genannte Meridiane, fließen soll. Die besagten Meridiane sollen mit Organen und Muskeln des menschlichen Körpers „energetisch gekoppelt“ sein. Der „richtige“ Fluss der kosmischen Energie durch den Körper soll dabei konstitutiv sein für Wohlbefinden, seelische und körperliche Gesundheit sowie Leistungs- und Lernfähigkeit u.a., wobei eine „Balance“ der Energie zwischen angenommenen Polaritäten (Yin-Yang) im Kosmos, der Erde und dem menschlichen Körper (v.a. den Gehirnhälften) herrschen muss. Es wird davon ausgegangen, dass dieser Energiefluss bzw. diese Energiebalance gestört sein kann, was eine „energetische“ Unter- oder Überversorgung von Meridianen bzw. Organen zur Folge haben soll und angeblich dazu führt, dass diese sich „abschalten“. Insbesondere sollen sich Gehirnareale (vor allem die Hemisphären) abschalten können, wodurch die Funktionsfähigkeit des Körpers in Hinblick auf Erleben und Verhalten eingeschränkt würde. Eine solche „energetische Dysbalance“ wird entsprechend als Ursache für körperliche und seelische Leiden sowie insbesondere für Lernschwierigkeiten und mangelnde Leistungsfähigkeit betrachtet.

Ziel der Edu-Kinestetik ist es, die angeblichen energetischen Dysbalancen mit Hilfe des sog. Muskeltests, bei dem die Kraft bestimmter Testmuskeln des Armes Aufschluss über den energetischen Zustand von Meridianen bzw. „abgeschalteten“ Organen geben soll, zu diagnostizieren und dann mit bestimmten Behandlungstechniken zu korrigieren. Als Behandlungstechniken werden verschiedene „Korrekturen“ propagiert die im Wesentlichen aus dem Drücken bestimmter Stellen auf dem Körper (in Anlehnung an Akupunkturpunkte auf Meridianen), einzelnen isolierten Bewegungen, bestimmten Gedanken, Blickrichtungen u.a. bestehen und die die energetischen Dysbalancen im Körper bzw. Gehirn aufheben sollen, indem sie Energien „umprogrammieren“ oder „umleiten“ und Meridiane („Bahnen“) von Energieblockaden befreien („Befreite Bahnen“). Am bekanntesten sind dabei die so genannten Brain-Gym-Korrekturen („Denkmütze“, „Gehirnknöpfe“), die insbesondere von Kindern selbstständig angewandt werden sollen und denen zudem eine vorbeugende Wirkung zugeschrieben wird.

Handelt es sich hier wirklich um einen wissenschaftlich fundierten Ansatz?

Edu-Kinestetik beruht im Wesentlichen auf vorwissenschaftlichen, religiös motivierten mystischen Erklärungen, die der Traditionellen Chinesischen Medizin, einem archaischen Medizinsystem, entlehnt sind. Die Idee von der kosmischen Energie und von Meridianen entspricht also esoterischen Vorstellungen, die nicht durch wissenschaftliche Erkenntnis erworben, sondern aus Glaubenssystemen erwachsen sind. Qi stellt eine metaphysische Energie dar, für die es – ebenso wie für die Existenz von Meridianen – keinerlei wissenschaftliche Belege gibt. Edu-Kinestetik geht mit diesen Annahmen, die konstitutiv für das gesamte Konzept sind, völlig an heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers vorbei. Sie bezieht sich auf eine spirituelle Überwelt, aus der heraus weltliche Vorgänge gedeutet werden. Religiöse Symboliken und Deutungen werden als Analogien u.a. auf menschliche Körpervorgänge übertragen (z.B. Kosmologie, Yin-Yang, Hirnhälften) und wissenschaftliche Erkenntnisse dabei völlig ignoriert.

Gemischt werden diese esoterischen Vorstellungen mit Aussagen zu neurologischen Sachverhalten, die wissenschaftlich ebenso unhaltbar sind. So gibt es beispielsweise kein „Abschalten“ von Hirnhälften und auch keine Ausnutzung von nur „10 Prozent unseres Gehirnes“ oder dergleichen. Die theoretischen Erörterungen zur Edu-Kinestetik zeichnen sich zudem durch fehlende Systematik, unzulängliche Erklärungen, diffuse Begriffe sowie zahlreiche Widersprüche aus. Es werden weder schlüssige Hypothesen formuliert noch existiert eine stimmige Theorie. Und schließlich werden keinerlei Belege für die behaupteten Körpervorgänge und die angebliche Wirksamkeit der edu-kinestetischen „Korrekturvorgänge“ vorgelegt, obwohl diese von den Kinesiologen als wissenschaftlich erwiesen dargestellt werden.

Ist Edu-Kinestetik tatsächlich ein sinnvoller Ansatz zur Förderung von Kindern?

Eine Behandlung von Kindern mit Edu-Kinestetik kann auch aus pädagogisch-psychologischer Sicht nicht empfohlen werden. Edu-Kinestetik lässt Kinder und Erwachsene glauben, Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten hätten ihre Ursache allein in körperlichen Dysfunktionen. Statt den vielfältigen möglichen Ursachen solcher Schwierigkeiten nachzugehen, werden mechanistisch „Korrekturen“ am Kind vorgenommen. Eine Analyse des sozialen Umfeldes wird völlig außer Acht gelassen. Kindern wird damit suggeriert, mit ihrem Körper sei etwas nicht in Ordnung und sie müssten die propagierten Techniken anwenden, um einen (vermeintlichen) Defekt zu beheben. Gleichzeitig wird der Eindruck erweckt, man könne erwünschte Fähigkeiten beliebig „anschalten“ („Gehirnknöpfe“, „Positive Punkte“). Damit verbreitet die Edu-Kinestetik einen Machbarkeitswahn, der – insbesondere auf dem esoterischen Hintergrund – in eine Irrationalisierung und Trivialisierung pädagogischer Realität mündet und eine adäquate Bearbeitung pädagogischer Probleme verhindert.

 

Dr. Barbro Walker

(Dieser Beitrag liegt auch als Druckversion (PDF) vor)

 

Literatur

  • Decker F, Bäcker B (1998) Kinesiologie mit Kindern. Ravensburger Buchverlag: Ravensburg
  • Dennison PE (1996) Befreite Bahnen. Verlag für Angewandte Kinesiologie: Freiburg
  • Dennison PE, Dennison G (1998a) Brain Gym. Verlag für Angewandte Kinesiologie: Freiburg
  • Dennison PE, Dennison G (1998b) Brain Gym. Lehrerhandbuch. Verlag für Angewandte Kinesiologie: Freiburg
  • Dennison PE, Dennison G (1998c) Edu-Kinestetik für Kinder. Das Handbuch der Edu-Kinestetik für Eltern, Lehrer und Kinder jeden Alters. Verlag für Angewandte Kinesiologie: Freiburg

Kritische Literatur

  • Hund W (1997a) Edu-Kinestetik: Denk-, merk-, frag-würdig? Kritische Anmerkungen zu einer „neuen Methode“. Grundschulmagazin, Heft 7-8: 10-12
  • Hund W (1997b) Ein merkwürdiges Ei im pädagogischen Nest:
  • Edu-Kinestetik. Bayerische Schule, Heft 4: 36-37
  • Hund W (1998a) Edu-Kinestetik als pädagogische Wunderwaffe? Skeptiker 11: 23-26
  • Hund W (1998b) Esoterische Heilswege in der Schule? Beispiel: Edu-Kinestetik. unterrichten/erziehen, Heft 3: 31-34
  • Hund W (2000) Falsche Geister – echte Schwindler? Esoterik und Okkultismus kritisch hinterfragt. Echter-Verlag: Würzburg, pp 129-144
  • Walbiner, W (1997) Edukinesiologie. Ein neuer Heilsweg in der Pädagogik? Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung, München (Arbeitsbericht Nr. 290)
  • Walker B (2004a) „Edu-Kinestetik“ – ein pädagogischer Heilsweg? Dissertation J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt, TectumVerlag.
  • Walker B (2004b) Edu-Kinestetik – Ein seriöser, wissenschaftlich fundierter und pädagogisch sinnvoller Ansatz? Skeptiker 17: 88-95

Stand: 01.09.2009

 

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Hans-Christian Kossak

 

Bühnenshows mit Hypnose-Vorführungen sind Publikumsmagnete – und das seit alters her. Die dort präsentierten Effekte lassen sich jedoch zum Großteil durch sozialpsychologische Modelle, aber auch durch Zaubertricks erklären. Echte Hypnose wird nur bei wenigen Elementen der gängigen Programme angewandt. Showhypnotiseuren fehlt in der Regel die Kompetenz, mögliche Gefährdungen von Mitspielern aus dem Publikum zu erkennen. Als Folge können diese Personen körperliche und psychische Beeinträchtigungen davontragen. Die gefährlichen Manipulationen der Showhypnotiseure müssen klar von der seriösen, therapeutischen Hypnose unterschieden werden, wie approbierte Fachleute sie anwenden.

Geschichte der Hypnose

Die Intervention, die heute mit dem modernen Begriff Hypnose belegt wird, gibt es seit mehreren tausend Jahren. Hinweise findet man bereits in den Veden und im Mahabharata, den Jahrtausende alten Epen der Hindus, ebenso bei den alten Ägyptern. Auch im Äskulapkult der Griechen wurde hypnotischer Heilschlaf induziert (Eliade 1960, Edelstein 1967), ferner sind auch heute in vielen indigenen Kulturen sehr ähnliche Vorgehensweisen und Rituale zu finden, so z. B. bei australischen Aborigines, auf Borneo (Bongartz u. Bongartz 1987), in Nepal (Biswas et al. 2000), Indien (Kakar 1984) und an zahlreiche anderen Orten.

Pharo in seiner Bühnenshow: „Fordere ich dich auf, wieder einzuschlafen, dann sinkst du wieder zurück in diesen Zustand. Noch tiefer.“ (Fernsehsendung: Menschen hautnah. Der Hypnotiseur, WDR, 9. 10. 2000)

Pharo bei einer Show

Durchgeführt wird die Hypnose von Priestern bzw. Schamanen, also ausgebildeten Fachleuten mit hohem Sozialprestige. Die Intervention beinhaltet umfangreiche Rituale, die meist relativ rhythmisch begleitet werden (Sprache, Tänze, Trommel, Gesänge) und mitunter mit Deprivationszuständen, wie sozialer Isolierung oder Lichtreduktion, verbunden sind. Meist werden Dämonen als Verursacher einer Krankheit angenommen, die es mit den (Hypnose-) Ritualen zu vertreiben gilt. Besteht ein kultureller Konsens über Krankheitstheorie und Heilmethode, sind die Heilungschancen sehr groß, besonders bei psychosomatischen Erkrankungen (Kossak 1997). Heiler mit hohem Sozialprestige sind besonders erfolgreich.

Franz-Anton Mesmer (1734-1815) sah auf Jahrmärkten solche Beschwörungen. Er gab den starken Impuls zur therapeutischen Anwendung von Magneten bei zahlreichen Erkrankungen (Mesmer 1766). Er magnetisierte u. a. sogar Seile und Wasser. Ihre Berührung heilte Kranke, da es einen allgemeinen sozialen Konsens bezüglich der o. g. Krankheitstheorie und ihrer Behandlung gab. Die Theorie des „animalischen Magnetismus“ verwarf Mesmer später, als er feststellte, dass gleiche Wirkungen auch ohne Magnete eintraten. Er vermutete dann das Wirken eines bislang unerforschten Stoffes, des Fluidums. Die Behandlung war später unter dem Namen Mesmerismus sehr effektiv. Dabei setzte Mesmer große Spiegel ein, ließ leise Musik ertönen, und mitunter arbeitete er in abgedunkelten Räumen.

Der schottische Arzt James Braid (1795-1860) benannte 1843 die dort auftretende schlafähnliche Reaktionsweise der Patienten nach dem griechischen Gott des Schlafes, Hypnos. Auch wenn später nachgewiesen wurde, dass es sich hier keinesfalls um Schlaf handelte, behielt die Wissenschaft den Begriff Hypnose bei.

In der Romantik wurden naturwissenschaftliche Entdeckungen aufgegriffen, so auch die Hypnose. Man vermutete eine Beeinflussung durch den Blick oder durch Strahlen, Gehirnwellen etc. Diese neuen Ideen wurden auch künstlerisch verarbeitet, so z. B. von E. T. A. Hoffmann (1776-1822) in den Werken „Der Magnetiseur“, „ Die Elixiere des Teufels“, „Der Sandmann“ und „Das öde Haus“. Auch Schriftsteller wie Honoré de Balzac, Charles Dickens, Edgar Allan Poe und Novalis greifen in ihren Texten die Beeinflussung durch Mesmerismus auf (Kossak 1999).

Hippolythe Bernheim (1840-1919) führte 1917 den Begriff der Suggestion ein und machte damit das Wirken psychologischer Faktoren anstelle physikalischer Kräfte deutlich – eine Provokation der zeitgenössischen Fachwelt.

Sigmund Freud (1856-1939) wandte als junger Arzt Hypnose an und entdeckte, dass unter ihrer Wirkung Symptome wie (hysterische) Lähmungen verschwanden. Daraus folgerte er, dass körperliche Krankheiten psychisch bedingt sein können und auch psychotherapeutisch geheilt werden können. Eine revolutionäre Idee! Die Hypnosedurchführung selbst lehnte Freud jedoch später ab, denn er beherrschte sie nur unzureichend. Viele seiner Nachfolger übernahmen diese voreilige Bewertung unkritisch.

Heute gibt es weltweit zahlreiche Universitäten und seriöse Forschungseinrichtungen, die sich experimentell mit den körperlichen und seelischen Wirkfaktoren und Auswirkungen der Hypnose befassen. Sie gilt heute als eine seriöse und effektive Behandlungsmethode auf den Gebieten der Medizin, Psychotherapie und Zahnmedizin.

 

Faktoren der HypnotisierbarkeitIn der modernen Hypnoseforschung konnten durch zahlreiche Experimente schul- und theorieübergreifend Faktoren der Hypnotisierbarkeit zusammengestellt werden.

  • In Hypnose sind ganzheitliche Denk- und Verarbeitungsprozesse zu beobachten. Szenen werden sehr komplex vorgestellt und meist auf vielen Wahrnehmungsebenen subjektiv real erlebt.
  • Voraussetzung ist eine gute Imaginationsfähigkeit, d. h. Lebhaftigkeit von Vorstellungen unterschiedlichster optischer, akustischer etc. Innen-„Bilder“, wobei auch affektive Komponenten beteiligt sind.
  • Wesentlich ist ebenso eine gute, nach innen gerichtete Aufmerksamkeit, verbunden mit starker Involvierung in die imaginativen Aktivitäten (Absorptionsfähigkeit). D. h. aktive Abschirmung von Störreizen und alleiniges Wirken der Vorstellungsbilder.
  • Je nach Stärke der Realisierung dieser Faktoren kann von schwacher oder hoher Suggestibilität gesprochen werden. Diese wird allgemein unscharf auch als Hypnotisierbarkeit bezeichnet.
  • Die Reaktionsfähigkeit auf Suggestionen ist in der Bevölkerung breit gestreut. Etwa 5% der Menschen sind nahezu unhypnotisierbar, etwa 10% fallen hingegen sehr leicht in tiefe Trance.
  • Hypnotisierbarkeit steht mit keinerlei Persönlichkeits- oder Intelligenzfaktoren in Zusammenhang und bleibt als Fähigkeit lebenslang weitgehend stabil. (Bei zu großer Minderbegabung ist Hypnose kaum möglich, da die erforderliche Kommunikation dadurch erheblich reduziert ist.)
  • Suggestibilität ist keinesfalls gleichzusetzen mit Gutgläubigkeit, Täuschbarkeit oder Dummheit, sondern stellt eine mental-kreative Fähigkeit dar.
  • Wahrscheinlich werden durch die Suggestionen im Hypothalamus (eine der Hauptschaltzentralen im Gehirn) Steuerungs- und Filterprozesse aktiviert.

Showhypnose

Seit alters her wurden gängige Interventionen, wie z. B. Zahnextraktionen, Operationen, Anästhesie oder eben Hypnose, zur Unterhaltung genutzt, zumal wenn sie Staunen, Anerkennung, Belustigung und Geld einbrachten. Bis heute hat sich im Gewerbe der Showhypnose sehr wenig verändert – nur die benutzte Technologie wurde weiterentwickelt.

Breites Spektrum an Showangeboten

Wenn auch die Aufzählung von Internetseiten keinen Rückschluss auf die jeweilige Seriosität und Kompetenz zulässt, bietet sie dennoch einen Einblick in den großen Umfang des Angebots: So zeigt eine Recherche bei der Suchmaschine Google insgesamt 311 000 internationale Einträge zur Hypnose und 64 400 speziell zur Showhypnose. Aktive Showhypnotiseure in Deutschland sind z. B. Hardy Sherman (Erlebniswelt Hypnose), Alexander Cain (Master of Dreams), Asklepion (Hypnose-Fachmann, Seminartrainer), Horstellis rollende Disco (Hypnosetherapeut und Hypnoseshow), (…). Peter Zapfella wirkt in Australien, Aram Ford auf den Bahamas, Suzy Haner in Kalifornien usw.

Da das Angebot groß ist, muss eine entsprechende Nachfrage vorliegen. Auftritte erfolgen auf Betriebsfeiern und Kongressen, in Discos, zu Geschäftseröffnungen, bei der Silberhochzeitsfeier und als Überraschung in der TV-Sendung „Big Brother“. Die Versprechungen sind vollmundig: „Sie folgen dem Programm begeistert, lachen hysterisch, nehmen enthusiastisch teil, reden noch Monate später darüber“ (Geoffrey Ronning, USA). „Jeder der Zuschauer kann ein Star der Show werden“ (Peter Zapfella). „Überraschen Sie ihre Gäste. Lassen Sie ihre Gäste durch Glas gehen, schlafen, oder den Daumen lutschen (…) Faszination des Unbegreiflichen“ (Horstelli). „Die Hypnose-Show der Spitzen-Klasse. Wenn Mädchen zu Eisenbahnschienen werden“ (Asklepion).

In der internationalen Hypnose-Fachliteratur sind so gut wie keine Hinweise zu Erklärungen der Showhypnose zu finden. Sie wird wohl meist als unseriös negiert, obwohl viele Menschen Kontakt mit solchen Aufführungen haben. Hier besteht nicht nur ein großer Informationsbedarf, sondern es sollte vielmehr aktiv aufgeklärt werden, um die Showhypnose klar von der Klinischen Hypnose abzugrenzen. Die wahrscheinlich umfangreichsten Darstellungen zur Showhypnose sind bei Kossak (1997, 1999) zu finden.

Sozialpsychologische Phänomene

Die Angebote an Showhypnose werden gut besucht. Durch seine Neugier und seinen Wunsch nach Unterhaltung ist das Publikum motiviert. Stets werden die zahlreichen Freiwilligen sehr schnell zum Mitwirken auf der Bühne bewegt. Mitunter drängen sie sogar von sich aus auf die Bühne, um dort Ungewohntes zu tun, so z. B. sich hühnerartig zu verhalten, wie ein Baby zu schreien, oder sich nackt zu fühlen und dann zu tanzen bzw. beschämt wegzulaufen. Für Außenstehende ist diese freiwillige Kooperation unfassbar.

Die amerikanischen Hypnoseforscher Meeker und Barber haben 1971 auf der Grundlage ihrer seriösen Experimente hierzu sogar Grundprinzipien aufstellen können (siehe Kasten „Grundprinzipien der Showhypnose“, S. 173).

Erwartungshaltungen

Die Vorbereitung des Publikums hat für das Gelingen der Show einen hohen Stellenwert. Dazu werden Presse, Plakate, Flüsterpropaganda über die Effekte und Absonderlichkeiten im Verhalten der Mitwirkenden gezielt eingesetzt. Ankündigungen versprechen z. B. „Eine Reise in die Welt der Hypnose“, „Der Weltmeister der Hypnose“ usw. Verheißen wird Unterhaltung im Bereich des Unbegreiflichen und der Comedy. So erhielten in einem kleinen norddeutschen Dorf die Zuschauer des Künstlers Pharo T-Shirts mit den Aufdrucken: „Niemand ist wirklich allein“ und „Pharo ist der Beste!“ Ein gestandener Schreinermeister berichtete im Fernsehinterview über die Show: „Wenn er reinkommt, geht es einem wie Strom durch die Knochen“ (WDR 2000). Präpariert mit derartigen Erwartungshaltungen wird ein Publikum sicherlich gut kooperieren.

Auswahlkriterien für die Mitspieler

Nach einer mehr oder weniger fundierten und zutreffenden Aufklärung über Hypnose (siehe Kasten „Faktoren der Hypnotisierbarkeit“, S. 172) erfolgt die typische Auswahl der Mitspieler. Meist sollen alle Zuschauer z. B. in die Scheinwerfer oder auf eine rotierende Spirale schauen bzw. ihre Hände ineinander falten. Wer dabei intensiv kooperiert, wird auf die Bühne gebeten. Meist folgt die Instruktion: „Sie tun nur immer das, was sie wollen.“ Das beruhigt einerseits, lässt jedoch auch Optionen offen: Verhält sich eine Person nicht „erwartungsgemäß“, so hat sie dies unbewusst gewollt. Mit solch einem Argument kann man auch späteren Klagen über lächerliches Verhalten zuvorkommen. Der Showhypnotiseur hat demnach scheinbar keinerlei Verantwortung für das Verhalten der Mitspieler – und ist vordergründig moralisch integer.
Anschließend erfolgen in weiterer Staffelung ähnliche Kooperationstests, die eine engere Auswahl von möglichst optimalen Partnern ermöglichen. Letztlich stehen für besondere Showteile nur noch hoch kooperative und hoch hypnotisierbare Mitspieler auf der Bühne.

Mitwirkende bei einer Showhypnose

Mitwirkende schlafend auf dem Boden liegend (Fernsehsendung: Menschen hautnah. Der Hypnotiseur, WDR, 9. 10. 2000)

Der soziale Gruppendruck auf der Bühne

Sobald sich die Mitspieler auf der Bühne befinden, unterliegen sie einem recht hohen Erwartungsdruck: Sie haben das Podium freiwillig betreten, wurden vielleicht von Freunden mitgezogen und möchten sich nun nicht lächerlich machen. Entsprechend versuchen sie, sich möglichst erwartungskonform zu verhalten. Gleichzeitig verstärkt der Showhypnotiseur ihre Kooperation, indem er das Publikum gezielt zum Beifall auffordert. Die Mitspieler werden somit sozial konditioniert weiter zu agieren. Und auch das Publikum applaudiert nach seiner Konditionierung bereits bei kleinen typischen Gesten des Showmanns. Derartige soziale Drucksituationen sind z. B. auch bei Fernsehinterviews und Talkshows zu beobachten, wenn Laien über ihre Probleme berichten sollen. Entsprechend „angeleitet“ erzählen sie Details aus ihrem Privatleben, die sie sonst nie äußern würden. Hier treffen jene Faktoren des Sozialdrucks zu, die bereits vom Sozialpsychologen Milgram (1963, 1966, 1974) anschaulich demonstriert wurden. Durch einfache Manipulationen bewirkte er in einem College Gruppendruck und erzeugte bei den Studenten Autoritätshörigkeit; schließlich waren sie sogar bereit, auf Anordnung Stromschläge zur Bestrafung zu verabreichen.

Das Bühnensetting

Meist ist die Bühne attraktiv und mit themenbezogenen Dekorationselementen ausgestaltet, so mit züngelnden Flammen oder bunten Flackerlichtern. Alles soll showmäßig-mystisch aussehen. Nach der Auswahl der Mitspieler ist der Zuschauerraum dunkel und auch die Bühne wird nur dezent-geheimnisvoll beleuchtet. Die Lautstärke der Musik ist so eingestellt, dass die Mitspieler den verstärkenden Zuschauerapplaus stets wahrnehmen können; das Publikum kann jedoch nicht hören, was ohne Mikrophon auf der Bühne gesprochen wird. So sind geheime Absprachen mit den Mitspielern möglich (Flüstertechnik). Die Musik muss, dem Geschmack der Jugend entsprechend, zeitgenössisch-modern sein. Aber auch ein rhythmisch-mystisches Element ist notwendig, damit die Erwartungshaltung verstärkt wird.

Hier finden wir genau die Elemente wieder, die seit alters her eingesetzt werden und in vielen Kulturen auch heute zu finden sind: Reduktion von Licht, akustischen Informationen und Bewegungsmonotonie. Zahlreiche Experimente der Wahrnehmungsforschung beweisen, dass durch diese Wahrnehmungsdeprivation und soziale Isolierung die Empfänglichkeit für jede Information und Kooperation erhöht wird (Wickramasekera 1969, Barabasz 1982, Barabasz und Barabasz, 1989).

Einleitung der Bühnenhypnose

Sind die Mitspieler durch die Vorselektionen als hoch hypnotisierbar erkannt worden, erfolgen meist Informationen wie: „Nur besonders intelligente Menschen sind gut hypnotisierbar. Hypnotisierbarkeit ist eine bestimmte kreative Fähigkeit.“ Dies ist eine so genannte double bind suggestion, d. h. sie impliziert: „Wenn ich nicht mitspiele, meinen die Leute, ich sei dumm und unkreativ – also kooperiere ich.“ Gleiche Suggestionen sprechen die betrügerischen Weber im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans-Christian Andersen (1805-1875) aus, denn nur für den sind die Kleider unsichtbar, „der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei“. Also kooperieren alle – nur nicht das naive Kind, das diesen moralischen Gruppendruck noch nicht kennt.

Nun folgt meist der tiefe Blick in die Augen der Mitspieler sowie die Suggestion, z. B.: „Immer mehr fällt dein Köper nach hinten. Du spürst einen Magneten, immer mehr nach hinten zieht er dich.“ Fast immer werden die stehenden Mitspieler nun abrupt auf den Rücken gelegt und sie bleiben reglos liegen. Durch das schnelle Umlegen entsteht eine starke vestibuläre Reizung (Vestibulum = Gleichgewichtsorgan), die kurzfristig zur Desorientierung führt und somit die Kooperation in einem reizreduzierten Umfeld zusätzlich erhöht. (Bei manchen Tieren, z. B. Hühnern, bewirkt dieses plötzliche Umdrehen eine Schreckstarre, die oft fälschlich als Hypnosewirkung bezeichnet wird.) Falls ein Mitspieler im Laufe der Show nicht mehr kooperieren, sondern aufstehen möchte, wird er unter dem bestehenden sozialen Druck (Bühne und double bind) sicherlich ruhig liegen bleiben. Kooperationsschwache Personen werden schnell erkannt und, weil störend, im Hintergrund gehalten, so durch die Flüsterinstruktion: „Bleibe bitte ruhig sitzen und lass die anderen weiter Spaß haben.“ Manche Bühnenhypnotiseure wenden zur Einleitung der Hypnose sogar den so genannten Karotissinus-Trick an und begeben sich dadurch in den Bereich krimineller Handlungen (s. Kasten „Der Karotissinus-Trick: Lebensgefahr“, S. 175).

Cartoon zur Hypnose

„Sie werden gaaanz müde…“
„Ja, meine Arme sind schon eingeschlafen.“

Durchführungstricks in der Showhypnose

Damit eine Show wirkungsvoll ist, muss sie entsprechend dramaturgisch gestaltet sein. Für die Showhypnose gelten einige besondere Gestaltungselemente.

Theodore X. Barber hatte als Student durch Showhypnose Geld verdient und alle Durchführungstricks kennen gelernt. Später, als Professor, wurde er zu einem der bekanntesten Hypnoseforscher und erkundete besonders ihre Wirkfaktoren. Aus seinen Praxiserfahrungen nennt er folgende Showelemente (Meeker und Barber 1971):

1. Fehlen des Gegenbeweises

Der Trick wird meist nur für kurze Zeit gezeigt. So kann der Hypnotiseur die erstaunlichsten Effekte demonstrieren – und niemand bemerkt, dass sie sich gar nicht länger aufrecht erhalten ließen. Der Gegenbeweis, dass „Hypnose“ hier nicht wirksam war, kann also nicht geführt werden. Beispiel: „Falten Sie die Hände ineinander und sie bleiben zusammengeklebt.“ Diese Suggestion wirkt bei fast allen Personen – für wenige Sekunden.

2. Flüstertechnik

Für das Publikum werden über das Mikrofon beeindruckende Suggestionen gegeben wie „Du bist nun ein Affe“ oder „Du gehst nun schmerzfrei leicht über die Glasscherben“. Nun hält der Showmann sein Mikrophon etwas zur Seite und flüstert dem Mitspieler z. B. zu: „Verhalte dich einfach wie ein Affe. Das ist lustig. Du kannst damit alle reinlegen und wirst von allen bewundert.“ Oder: „Steige ruhig über die Glasscherben. Das tut garantiert nicht weh. Du musst wirklich keine Angst haben.“ Für die Mitspieler sind es lediglich einfache Instruktionen und Anweisungen und die Bitte um Kumpanei.

3. Hilfspersonal

Für manche besonders beeindruckende Darbietungen werden die „Freiwilligen“ aus den Reihen des Showpersonals gestellt. Sie verhalten sich dann garantiert in der gewünschten Weise. In der Show von Rasti Rostelli stellte sich stets eine besonders zierliche junge Frau für die „menschliche Brücke“ (s. u.) zur Verfügung. Jeder war erstaunt, wie eine derart fragile Person sogar das Gewicht des Künstlers auf dem Bauch tragen konnte. Beim Interview wurde sie als seine Freundin vorgestellt. Übrigens kann dieser Trick fast mit jeder beliebigen Person gelingen.

4. Spezialtricks

Viele der als Hypnose bezeichneten Demonstrationen sind Effekte aus dem Bereich der mentalen, apparativen bzw. chemischen Zaubertricks oder es sind Gauklertricks.

Beeindruckend oder unterhaltend sind Bühnendarbietungen, Zaubertricks und Shows nur durch ihre Einbettung in einen Kontext, eine „Theorie“, eine interessante Geschichte. Auf diese Weise wird ein dramaturgischer Spannungsbogen erzeugt, der die Aufmerksamkeit, Erwartungshaltung und auch Denkweise der Zuschauer in die gewünschte Richtung lenkt und dann Staunen bewirkt.

Beispiel: Würde der Autor auf einer Feier plötzlich Gläser zertrümmern und darauf mit nackten Füßen herumlaufen, dann würde er schnell als störendes Element entfernt werden. Kündigt er jedoch im gleichen Kreis wort- und gestenreich seine mentalen Fähigkeiten zur Schmerzbewältigung an, wird sein Scherbenlaufen begeistert bewundert.

Aus diesem Grund vermarkten viele Bühnenakteure ihre Darbietungen unter dem Namen „Hypnose“. Das ist zurzeit in der Unterhaltungsindustrie besonders gefragt und entsprechend ertragreich.

Die menschliche Brücke bei der Showhypnose

Shandor Khan demonstriert mit einer Gehilfin die Belastung der menschlichen Brücke. (Fernsehsendung: Freiwillig willenlos, WDR, 7. 9. 1986)

 

Grundprinzipien der Showhypnose nach Meeker u. Barber (1971)

1. Die grundlegende Bereitschaft, Suggestionen auch ohne Hypnose zu befolgen, ist größer, als gemeinhin angenommen wird.
2. Personen mit hoher Hypnotisierbarkeit können auf der Bühne leicht erkannt und schnell selektiert werden.
3. Wenn die Situation als „Hypnose“ definiert wird, so ist für die Teilnehmer aus dem Publikum klar, dass von ihnen in hohem Maße Reaktionsbereitschaft auf die Suggestionen und Befehle gewünscht und erwartet wird. Pseudowissenschaftliche Erklärungen geben ihnen Sicherheit und bekräftigen die Erwartungshaltungen.
4. Die Bühnensituation hat einzigartige Erwartungsmerkmale, die sehr hilfreich sind, das scheinbar hypnotische Verhalten zu bewirken. Es entsteht ein starker sozialpsychologischer Druck auf der Bühne.
5. Der Teilnehmer kann sein ungewohntes, lächerliches oder unpassendes Verhalten mit der „Macht der Hypnose“ entschuldigen. Es kommt dadurch zum Abbau von Hemmungen und Ängsten.
6. Es werden selbstgenerierende Beweise erzeugt: Was man als „Hypnose“ vorgeführt bekommt, wird dauerhaft unkritisch akzeptiert (siehe Kasten „Der selbstgenerierende Beweis des Mark Twain“).

Phänomene aus der Trickkiste der Illusionisten

Viele als „Hypnose“ deklarierte Showelemente beruhen lediglich auf Zaubertricks. Diese sind im Fachhandel käuflich zu erwerben.

Gern wird der Trick gewählt, plötzlich Hitze auf der Haut des Mediums entstehen zu lassen. (siehe S. 180). In einer Fernseh-„Wissenschafts“-Show reichten wenige Sekunden aus, bis der Hitzeeffekt eintrat. Das vermögen nicht einmal der beste Hypnosefachmann und die höchsthypnotisierbare Versuchsperson so schnell zu bewerkstelligen. Die befragten seriösen Hypnosefachleute stimmten jedoch begeistert einer Hypnosewirkung zu. Das mag als selbstgenerierender Beweis gelten (s. Kasten „Grundprinzipien der Showhypnose“, S. 173). Niemand wird chemische Reaktionen als Verursachung annehmen. Übrigens konnte Rasti Rostelli diesen Effekt in der gleichen Fernsehshow unter nun kontrollierten Bedingungen nicht nochmals produzieren. Seine Trickflüssigkeit war bereits mit den Requisiten weggeräumt.

Wenn Rasti Rostelli vorgibt, er könne mit verbundenen Augen Auto fahren, indem er den Hirnwellen anderer Personen folge, so benutzt er eine der zahlreichen Augen-Trickbinden, die in der Fachliteratur beschrieben sind.

Ein Hypnomagier kann „mental“ sogar das autonome Nervensystem beeinflussen, indem er, unterstützt von entsprechender „Konzentrationsgestik“, seinen Blutfluss im Arm zum Anhalten bringt, wie die Zuschauer über das Mikrofon an seinem Handgelenk deutlich hören. Ein in der Achselhöhle verborgener Golfball wird dabei unterschiedlich stark auf die Armarterie gepresst.

Oft ist auch die „schwebende Jungfrau“ zu sehen: Dabei werden unter die Achselhöhlen einer hübsche Frau zwei Besen gestellt, sodass sie waagerecht darauf

magisch-grazil schwebt, auch wenn ein Besen entfernt wird. Dahinter steckt ein apparativer Trick, der nur bei lang wallenden Gewändern und bis zu einem bestimmten Körpergewicht der Dame durchführbar ist. (Fachkatalog: „Arbeitet zuverlässig und geräuschlos.“)

Kann der muskulöse Mitwirkende ein Metallgewicht leicht hochheben, so ist er unter der Wirkung der Hypnose nicht mehr dazu fähig. Das Geheimnis der „mentalen“ Kraftbeeinflussung ist ein Elektromagnet unter dem Bühnenboden.

Bei entsprechendem finanziellem Hintergrund des Künstlers können so auf unterschiedlichste Weise Damen sylphidengleich schweben, von Messern und Säbeln dramatisch durchbohrt werden, ohne Kopf erscheinen usw. Nicht umsonst tourt David Copperfield mit viel Personal und tonnenschwerem Gepäck. Ausführungen hierzu sind in der entsprechenden Zauber-Fachliteratur zu finden, so z. B. bei Gibson (1967, 1976), Corinda (1968), Randi (1987), Rau (1998).

Tricks als Tierhypnose

Manch ein Künstler versetzt auch Tiere in Hypnose. Werden z. B. Hühner (s. o.), Spatzen, Katzen etc. schnell auf den Rücken gedreht, so verfallen sie in eine Schreckstarre. Wenn der Schweineexperte durch Aufsitzen bei der Sau eine Bewegungsstarre bewirkt, so hat er lediglich ihren arterhaltenden Begattungsreflex ausgelöst und damit ihre Paarungswilligkeit festgestellt. Viele derartige Reflexe werden show-wirksam als Tierhypnose vermarktet. Der „fernöstliche Fakir“, der mit beschwörenden Gesten zentnerschwere blutrünstige Krokodile „hypnotisch“ zum Anhalten zwingt, arbeitet mit gehfaulen Alligatoren, deren Verhalten er kennt. Abgestimmt auf ihre Bewegungen reagiert er mit den vermeintlich magischen Beschwörungen. (Näheres hierzu bei Kossak 1997, 1999.)

Nageltrick 1 Nageltrick 2
Nageltrick 4 Nageltrick 3

Das Nagelbrett des Fakirs „El Shari Sheikh“. Im Uhrzeigersinn: 1. Beim Hinsetzen besteht Verletzungsgefahr. Deshalb legt der Fakir hier diskret ein gefaltetes Handtuch unter .2.Auf der Brust des Fakirs befindet sich der Ytong-Block. 3. Der Ytong-Block zerspringt sofort, wodurch viel Energie absorbiert wird. Das Aufstehen vom Nagelbrett ist wiederum gefährlich; der Fakir benötigt dabei etwas Hilfe. (Fernsehsendung: Knoff-Hoff-Show vom 8. 11. 1987)

Fakir-Effekte

Der Klassiker der Hypnoseshows ist die „menschliche Brücke, menschliche Planke, wenn Mädchen zu Eisenbahnschienen werden“. Eine Person muss sich im Rücken steif machen und wird dann mit Nacken und Waden jeweils auf eine Stuhllehne gelegt. Zur Krönung steigt der Showmaster ihr sogar in Siegerpose auf den Bauch. Diese beeindruckende Demonstration wirkt bei 80% naiver Personen allein durch die Instruktion, sich steif zu machen (Barber 1969). D. h. ohne jegliche Hypnose gelingt diese „Starre“ nahezu allen Personen für zwei bis vier Minuten (Collins, 1961). Lediglich der Showkontext und das kurze Beklettern durch den Showmeister (= Fehlen des Gegenbeweises) geben dieser Banalität den Touch des Übersinnlichen.

Gern wird auch das Fakir-Nagelbrett benutzt. Unter der Suggestion der Schmerzlosigkeit legt sich sogar der Meister selbst mit nacktem Rücken auf das Nagelbrett. Nun steigt eine Person auf seine Brust oder ein großer Stein wird auf ihr mit einem wuchtigen Vorschlaghammerschlag zertrümmert. Der „hypnotisch“ Geschützte steht unverletzt auf. Ein Sieg des Geistes über die Naturgesetze?

Dazu nun etwas Physik: Bei einer Brettgröße von ca. 40 x 80 cm und einem Nagelabstand von 2 cm verteilt sich der Gesamtdruck auf 800 Nägel. Wiegt der „Fakir“ 80 kg, so belastet er das Brett mit ca. 60 kg, da seine Beine auf dem glatten Boden ruhen und nicht mitwiegen. Wird nun ein Schlag mit der Wucht von 50 kg (!) ausgeführt, wird das Brett mit 110 kg belastet, so bleiben pro Nagel 137,5 Gramm. Das ist auch bei einem etwas höheren Gewicht gut und schmerzfrei auszuhalten und kann von jedem mit einer Briefwaage getestet werden. Der Stein besteht meist aus Gasbeton, besitzt eine relativ große Masse und ist leicht zu zertrümmern. Die Energie des wuchtigen Hammerschlages wird so partiell durch die Steinmasse absorbiert, zum Großteil jedoch als Zertrümmerungsenergie nach außen geleitet. Der verbleibende nach unten gerichtete Kraftvektor beträgt nur noch wenige Kilogramm; der Druck pro Nagel liegt dann bei ca. 100 Gramm. Entmystifizierung mit dem Geiste und den Gesetzen der Physik!

Dieser Trick ist nur während der Phase des Hinsetzens und Aufstehens schmerzhaft, da dann ein Großteil des Körpergewichtes über die kleine Gesäßfläche auf die Nägel drückt. Fast alle Künstler verwenden in dieser Phase als Sitz-Unterlage dezent ein Handtuch. Es wird von den Zuschauern toleriert, da sie es kaum bemerken.

Für das Scherbenlaufen werden vor den Augen des Publikums Flaschen und Gläser zu Scherben zerschlagen. Der Mitspieler geht nun mit nackten Füßen und in „Trance“ unverletzt darüber. Hier trifft ebenfalls das o. g. Prinzip der Gewichtsverteilung auf zahlreiche Auflagepunkte zu – physikalisch wenig aufregend. Lediglich die Anfangsüberwindung ist zu bewundern. Die Flüstertechnik und der Gruppendruck helfen dabei. Mit einem Fernseh- und Kamerateam konnten wir diesen Effekt schnell selbst produzieren.

Die Glut am Boden lodert, die Person wird mit geeigneten „Suggestionen“ für das Feuerlaufen eingestimmt und läuft nun behände und schmerzfrei darüber. Die jeweils kurze Verweildauer und die Temperaturverteilung auf zahlreiche Auflagestellen halten die Erhitzung der Fußsohlen in erträglichen Bereichen. Beglückend für den Teilnehmer ist hier sicherlich die Selbstüberwindung. Besondere Bewusstseinszustände, Hypnose etc. sind dabei nie erforderlich. Bestreicht man die Fußsohlen vorher mit einer Alaunlösung, so wird ein Teil der Hitzeenergie zur Umwandlung in Kristalle absorbiert und die effektive Berührungstemperatur am Fuß ist noch geringer. Weitere Beispiele sind bei Gibson (1976) zu finden.

Die Show mit der Hypnose

Neben all diesen Tricks wird in einem Teil der Show tatsächlich Hypnose benutzt. Beispiele hierfür sind Anweisungen zum aktuellen Verhalten wie: „Du bist nun ein Teletubby, ein Affe, ein Huhn, Rambo, der berühmte Sänger X usw.“ – „Umarme den Stuhl! Er ist Deine Freundin. Tanze innig mit ihr!“ – „Verspeise diese Zitrone als leckeren Pfirsich!“ – „Du siehst alle Zuschauer im Raum nackt.“ Anweisungen zu einer Altersregression lauten: „Du bist drei Jahre und spielst im Sandkasten“ – „Du bist ein Säugling und willst die Flasche“ – „Ich zähle bis 4 und dann bist du vier Jahre alt und erzählst mir von deiner Mama“ usw. Andere Anweisungen werden als posthypnotischer Auftrag gegeben: „Wenn ich gleich mit dir spreche, wirst du jeden Satz mit ,Blubb‘ beginnen und beenden.“ – „Wenn ich dich wecke, gehst du zur Toilette wie Robocob.“ – „Gleich wirst du wach und hast keine Hosen an.“ Die Mitspieler reagieren in der gewünschten Weise; sie haben die Augen sogar geöffnet, verhalten sich teilweise kindlich-naiv, stereotyp, automatenhaft. Das Publikum rast vor Vergnügen, lacht hysterisch und freut sich über die gelungene Show. Bei diesen Verhaltensweisen divergieren die Berichte der Mitspieler ebenso wie die fachlichen Beurteilungen: Manche wissen rückblickend, dass sie eine Rolle spielten, andere wiederum können sich an ihr Hypnoseverhalten kaum oder nicht erinnern. Hier ist es auch für Fachleute schwer zu beurteilen, ob lediglich ein soziales Rollenspiel oder hypnotisches Verhalten vorlag.

Hypnose-Schlagzeile
Klage über Schädigung durch Showhypnose (WAZ, 15. 7. 1998)

 

Der selbstgenerierende Beweis des Mark Twain

Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain (1835-1910) berichtet, dass er im Alter von 15 Jahren einem Show-Mesmeriseur begegnete. Nach mehreren besuchten Vorführungen durfte er endlich auf die Bühne und im Mittelpunkt der Bewunderung stehen. Er nutzte die Gelegenheit und befolgte alle Suggestionen perfekt – allerdings aus eigenem Willen heraus. So schlug er unter Beifall auch seinen Schulfeind mit einem Revolver dramatisch in die Flucht. Die in der Show obligatorischen Stiche in seine Arme schmerzten zwar, aber er hielt sie tapfer aus, um weiter bewundert zu werden. 45 Jahre später erzählte er seiner Mutter, die damals auch im Publikum gesessen hatte, dass seine Trance nur vorgetäuscht gewesen war. Sie jedoch glaubte ihm nicht, denn er hatte seinerzeit im Kontext der Show überzeugend gehandelt (DeVoto 1922).

Beendigung der Hypnose

Beendet werden die einzelnen Showelemente meist mit der kurzen Instruktion: „Mache die Augen auf!“, begleitet von dem erwarteten Fingerschnipsen und dem Blasen ins Gesicht. Einige Akteure lachen nun, andere sind leicht benommen und wieder andere haben deutliche mentale Orientierungsprobleme. Sie sind ratlos, verwirrt und verunsichert. Viele können ihr Verhalten kaum einschätzen – auch Tage später nicht. Deutlich wird dies am Beispiel von Markus. Er ist Kellner der Dorfgaststätte, in der Pharo auftritt. Markus erhält über Autotelefon die Instruktion, sofort zu schlafen, dann nebenan zur Geburtstagsgesellschaft älterer Damen zu gehen und jeder ein Küsschen zu geben. Da er öfter bei der Show auf der Bühne mitspielte, handelt er sogleich entsprechend. Der sichtlich stark verwirrte Markus danach zu seiner Kollegin: „Inge, kommst Du mal eben. Ich weiß überhaupt nicht, was los ist. Ich stehe irgendwie völlig neben mir“ (WDR 2000).

 

Interview mit Pharo alias Martin Bolze

Fernsehsendung des WDR vom 9. 10. 2000: Menschen hautnah. Der Hypnotiseur.
WDR: „Meinst du denn, dass die Menschen immer selber beurteilen können, wo die Grenze ihrer Würde ist?“

Pharo: „Ich denke, dass ich in dem, was ich da tue, ich nicht die Menschwürde angreife, weil mit Spielzeug haben wir alle schon mal gespielt und wir waren alle schon mal in einer Situation, in der wir möglicherweise einen Namen mal vergessen, wo wir Dinge in uns haben oder wo wir irgend etwas gewusst haben, was mir jetzt nicht mehr einfällt. Ich denke, dass ich wirklich niemanden diskriminiere auf der Bühne. Ich denke, dass die Leute, die auf die Bühne kommen, genau wissen, was sie da tun.“

Die Zusatzgeschäfte

Viele Showhypnotiseure bieten vor oder nach ihrer Show Kassetten oder CDs zu Themen wie Raucherentwöhnung, Gewichtsreduktion, Menstruations- oder Wechseljahresbeschwerden an. Meist offerieren sie auch entsprechende Behandlungen. Die im Psychotherapiegesetz festgelegten Bestimmungen, nach denen nur approbierte Fachleute Psychotherapie durchführen dürfen, bleiben hier unbeachtet.

Nachwirkungen und Gefahren der Showhypnose

Von den zahlreichen Beeinträchtigungen sind nur die bewussten, also die berichteten auswertbar. Der Bericht setzt voraus, dass die Geschädigten einen Zusammenhang zwischen Showhypnose und Schädigung erkennen bzw. beweisen können.

Körperliche Beeinträchtigungen

Die durch den Karotissinus-Trick verursachten Schäden treten ggf. erst Stunden nach der Show auf und werden dann kaum mit diesem in Verbindung gebracht. Bei der „menschlichen Brücke“ kann es durch falsche Lagerung oder Vorerkrankungen zu Wirbelsäulenverletzungen kommen. Steigt der Showhypnotiseur auf den Körper der als Brücke wirkenden Person, so können innere Verletzungen die Folge sein. In Süddeutschland liegt eine Klage gegen einen Showhypnotiseur vor, weil die Person als „menschliche Brücke“ zu Boden fiel und sich Verletzungen im Kopf- und Kieferbereich mit Lockerung der Zähne zuzog. Die Begutachtung legt dar, dass die Person zwar freiwillig teilnahm, jedoch keine Einwilligung zur Verletzung gab. Der Hypnotiseur hatte die Teilnahme als ungefährlich beschrieben und damit die für die Durchführung erforderliche Sorgfalt vermissen lassen. Weiter habe er die Konstitution der Person nicht beachtet und die daraus abgeleitete Kontraindikation verschwiegen. Letztlich wurden bei der Geschädigten persönliche Auffälligkeiten mit geringer Belastbarkeit und Neigung zu starken emotionalen Störungen nachgewiesen, sodass sie selbst zu keiner realistischen Einschätzung der Gefahren einer Teilnahme in der Lage war. Auch der Hypnotiseur konnte diese Kontraindikationen nicht erkennen, nahm jedoch das Risiko in Kauf, um mit seiner Show Geld zu verdienen (Broelmann 2000).

Der Karotissinus-Trick: Lebensgefahr

Der Showhypnotiseur blickt zur Einleitung der Showhypnose seinen Mitspieler „hypnotisch“ an und gibt z. B. Entspannungsinstruktionen. Dabei dreht er die Person seitlich zum Publikum. Gleichzeitig drückt er mit seinem Daumen auf die nun für die Zuschauer verdeckte Stelle der Halsschlagader (Sinus carotis). Der Daumendruck an dieser empfindlichen Stelle bewirkt Gefäßerweiterung, Herzschlagverlangsamung und Blutdruckabfall, dadurch entsteht eine Minderdurchblutung des Gehirns. Das führt zumindest zu Schwindelgefühlen und zur Bewusstseinstrübung, wenn nicht zum Tonusverlust und sogar zur leichten Ohnmacht. Für das Publikum ist nur die „übernatürliche Hypnosekraft“ wahrzunehmen.Diese Intervention ist sicherlich kriminell, weil ohne Einverständnis des Betroffenen ein erheblicher körperlicher Eingriff vorgenommen wird. Eventuell kann dadurch Herzstillstand ausgelöst werden, oder es kann zu tödlichen Hirnblutungen durch ein platzendes Aneurysma (angeborene Schwachstelle in einer Kopfarterie) kommen.

Seelische Beeinträchtigungen

Auch wenn viele der scheinbar hypnotischen Phänomene der Show auf Tricks basieren, wendet der Showman dennoch durch seine Suggestionen mentale Manipulationen an. Es ist hierbei absolut nicht gesichert, ob die Mitspieler tatsächlich stets bei allem „freiwillig“ kooperieren. Sie handeln bei einigen Instruktionen auf Grund des starken sozialen Drucks auf der Bühne gegen ihre Überzeugung. Durch die Situation verlieren sie einen Teil ihrer Kritikfähigkeit und ihrer Selbstbestimmung. Die Anweisungen entziehen ihnen jeglichen gerade dann zustehenden Schutz. Das bewirkt bei einigen spätestens nach der Show Verwirrtheit und Selbstzweifel: „Wie stark habe ich mich eigentlich blamiert?“

Eine Befragung von Showmitspielern zeigt, dass einige von ihnen fast während des ganzen Programms in Trance waren. Manche waren danach verwirrt, zogen sich zurück, litten unter Kontrollverlust. Eine Teilnehmerin verfiel sofort wieder in Trance, als sie im Radio Mundharmonikamusik wie in der Show hörte. Erst nach Ende des Stücks erwachte sie wieder (Echterling u. Emmerling 1987). Nach der Showhypnose vor Ärzten und Zahnärzten (und auch Hypnosefachleuten) klagte eine Teilnehmerin noch Monate später über Verwirrtheit, Entfremdungsgefühle und Schlafstörungen.

Der Showhypnotiseur kennt weder seine einzelnen Mitspieler noch deren psychische Befindlichkeiten, wendet aber dennoch ein Verfahren an, das in hohem Maße seelische Prozesse beeinflussen oder auslösen kann. Fachlich ist er nicht in der Lage, Problemreaktionen zu erkennen und dann die Situation für den Mitspieler zumindest neutral zu beenden. Er kann in der Show seelische Tiefen erreichen, die spätestens nach dem Auftritt starke seelische Beeinträchtigungen bewirken.

Der israelische Hypnoseforscher Moris Kleinhauz (1979, 1981, 1991) kann von dramatischen und über Jahre bestehenden schweren seelischen Schäden nach der Showhypnose berichten, so von katatonen (erstarrten) schizophrenen Reaktionen mit Stimmverlust und Lähmungserscheinungen, Schlafstörungen usw. Durch die Altersregression in der Show waren gravierende traumatische Kindheitserinnerungen abrupt aus der Verdrängung geholt worden und bewirkten massive Reaktionen. Allein das für die Altersregression benutzte Rückwärtszählen bis zur Zahl Sechs löste bei einer Mitwirkenden massive Ängste aus, die vom Showhypnotiseur nicht erkannt wurden. Nach der Show zeigte sie deutliche Anzeichen seelischer Zerrissenheit (dissoziative Zustände) und Depersonalisation. Die lang dauernde Psychotherapie enthüllte, dass sie vor einigen Jahren auf dem Weg in den Operationssaal im Lift auf der sechsten Etage steckengeblieben war.

Gefährdung dritter Personen

Kaum jemand erwähnt die Reaktionen dritter Personen, also der Zuschauer. Scheinbar unbeteiligt folgen sie dem so belustigenden Geschehen – und nehmen dabei selbstverständlich auch einen Teil der Suggestionen auf. Ein befreundeter Kollege berichtete, dass in einer Nachmittagvorstellung seine Tochter während des Zuschauens wiederholt unkontrolliert in Trance fiel, was durch Einschlafen und reduzierte Ansprechbarkeit erkennbar war. Dieses ist sicherlich kein Einzelbeispiel. Einige besonders reaktionsbereite Zuschauer werden auf die Suggestionen reagieren – nur ihre dadurch bedingten späteren Handlungen und psychischen Befindlichkeiten wird kaum jemand mit der Showteilnahme in Verbindung bringen. Demnach sind auch diese schier „unterschwelligen“ Schädigungen nicht nachweisbar.

Teilnehmer einer TV-Hypnoseshow

Der Kellner bekam telefonisch von Pharo den Auftrag, allen Damen einer Senioren-Geburtstagsparty einen Kuss zu geben. Danach ist er ratlos: „Ich stehe irgendwie neben mir. Ich bin ganz ratlos…“ (Fernsehsendung: Menschen hautnah. Der Hypnotiseur, WDR, 9. 10. 2000)

Ausbildung und Kompetenz

Die Ausbildung der Showhypnotiseure erfolgt autodidaktisch über die inhaltlich spärliche und wissenschaftlich falsche „Fachliteratur“ der Showbranche. Somit verfügen sie nur über showwirksame Techniken, nicht jedoch über das notwendige Hintergrundwissen für die Arbeit mit Menschen auf einem psychisch so sensiblen Bereich. Auch selbstzuerkannte Titel und Zertifikate oder Aussagen wie „Weltmeister der Hypnose“ täuschen nur Kompetenz vor.

Folgerungen

Aus allen Darstellungen geht hervor, dass Showhypnose per se gefährlich sein kann, auch wenn darin Elemente enthalten sind, die nicht als Hypnosewirkungen definierbar sind, wie z. B. die „Menschliche Brücke“. Der Akteur hat eine Schutzpflicht gegenüber den Mitwirkenden, die er jedoch nicht wahrnehmen kann, da er deren psychischen Hintergrund nicht kennt. Da er durch die Mitwirkung Dritter Geld verdient, hat er eine Sorgfaltspflicht, die er ebenfalls nicht wahrnehmen kann. In zahlreichen internationalen Fachbeiträgen wird die Gefahr der Showhypnose aufgezeigt und vor ihrer Anwendung gewarnt (z. B. Echterling 1991, Echterling u. Emmerling 1987, Kossak 1997, 1999).

Die ethischen Richtlinien der International Society of Hypnosis (1979) als Dachverband aller Hypnosegesellschaften legen fest, dass die Durchführung von Hypnose allein ausgebildeten Fachleuten wie Ärzten, Psychologen, Psychiatern, Zahnärzten erlaubt ist. In Regel 4 wird eindeutig bestimmt: „Hypnose soll nicht als eine Form der Unterhaltung verwendet werden. Kein Mitglied der ISH wird seine Dienste zum Zwecke öffentlicher Unterhaltung anbieten oder mit Personen oder Institutionen zusammenarbeiten, die auf dem Gebiet der öffentlichen Unterhaltung tätig sind.“

In manchen Ländern ist Showhypnose ausdrücklich verboten, so z. B. in Österreich, Schweden seit 1905, in Israel seit 1984. Abgesehen davon, dass durch die Hypnoseshows Vorurteile und Ängste gegenüber der seriösen Klinischen Hypnose aufgebaut werden, reichen viele der hier nur exemplarisch und skizzenhaft umrissenen Negativwirkungen als Argumente aus, um das Verbot der Showhypnose auch in Deutschland zu befürworten.

Teilnehmer an einem Hypnoseexperiment

Ein Mitspieler der Pharo-Show erhielt die Suggestion, jeden Satz mit „Blubb“ zu beginnen und zu beenden. Deutlich ist ihm seine Ratlosigkeit anzumerken. (Fernsehsendung: Menschen hautnah. Der Hypnotiseur, WDR, 9. 10. 2000)

Abgrenzungen zur Klinischen Hypnose

Es besteht durchaus die Möglichkeit, bei Menschen sehr intensive und vielschichtige körperliche oder seelische Veränderung zu bewirken, so z. B. Temperaturveränderungen der Haut, Schmerzbewältigung (bei Verbrennungen, Operationen, Kopfschmerzen, Zahnextraktionen), Beeinflussung von Heuschnupfen, Altersregressionen (Traumaarbeit in der Psychotherapie) usw. Die Anwendungsfelder in Psychotherapie, Medizin und Zahnmedizin sind hier erstaunlich weit und abgesicherte Studien belegen die Effektivität der Hypnosebehandlungen.

Die Behandlung wird hier jedoch von ausgebildeten Fachleuten vorgenommen und beginnt erst nach ausführlichen Anamneseerhebungen, Untersuchungen und Tests mit einer klar definierten Therapieindikation. Das Psychotherapie-Curriculum der Hypnoseausbildung (z. B. der Deutschen Gesellschaft für Hypnose – DGH) umfasst 224 Stunden. Zugelassen sind nur Psychologen, Ärzte und Zahnmediziner. Die Behandlung erfolgt nach den jeweiligen festgelegten ethischen und fachlichen Richtlinien dieser Berufsgruppen.

Gefahren der klinisch-therapeutischen Hypnose?

Von dem US-amerikanischen Department of Health, Education and Welfare (DEWH) wurde aufgrund der zahlreichen experimentellen Befunde (z. B. Coe u. Ryken 1983) die Anwendung von Hypnose bei Menschen als unbedenklich eingestuft. In England ist Hypnose von der British Medical Association 1952 in die Ausbildung klinischer Berufe übernommen worden, von der American Medical Association 1961. In Deutschland wurden in dem so genannten Eppendorfer Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes (Meyer et al. 1991) Therapiemethoden kritisch überprüft. Hypnose gehört danach zu den wenigen Psychotherapiemethoden, die seriös-wissenschaftlich belegt sind und als effektiv akzeptiert werden.

Wie jede Methode hat auch Hypnose ihre Anwendungsgrenzen; diese liegen jedoch vorwiegend in den Grenzen der Psychotherapie und Medizin, aber auch in den fachlichen Kompetenzen der Therapeuten (Kossak 1986a, 1986b). Approbierte, angemessen in Hypnose ausgebildete Therapeuten werden sicherlich innerhalb ihres Bereiches kompetent Hypnose anwenden.

Literatur

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Adressen

Interessenten an einer Hypnosebehandlung können über die seriösen Hypnosegesellschaften Therapeutenlisten erhalten:

Deutsche Gesellschaft für Hypnose,
Druffels Weg 3, 48653 Coesfeld,
Fax (0 25 41) 7 00 08,
E-mail: dgh-geschaeftsstelle@t-online.de
Milton Erickson Gesellschaft,
Konradstr. 18, 80801 München,
Fax (0 89) 34 02 97 19,
E-mail: Monika-Kohl@t-online.de

 

Rat Suchende sollten nur seriös ausgebildete approbierte Therapeuten akzeptieren.

Dr. Dipl.-Psychol. Hans-Christian Kossak, geb. 1944, Studium der Psychologie in Münster, Lehraufträge in Bochum, Promotion über Hypnose in Bremen. Seit 1969 Leiter der kath. Erziehungsberatungsstelle in Bochum. Verhaltenstherapeut, Gesprächstherapeut, Hypnosetherapeut, Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Ausbilder, bes. zur Kombination von Verhaltenstherapie und Hypnose. Autor eines Lehrbuches der Hypnose, Fach- bzw. Sachbücher, zahlreiche Fachveröffentlichungen. Anschrift: Kath. Beratungsstelle für Erziehungs- und Familienfragen, Ostermannstr. 32, 44789 Bochum.

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 4/2001.

Bühnenhypnose entzaubert

Rob Nanninga (Übersetzung: Fabian Lischka)

Rasti Rostelli tritt mit seiner Show vor ausverkauften Häusern auf: ein Wirbelwind aus Telekinese, Telepathie und Hypnose. Bei genauerem Hinsehen erweist sich aber, dass seine Vorstellung auf leicht angestaubten Tricksereien und der raffinierten Auswahl leicht beeinflussbarer Freiwilliger beruht. Seit nahezu fünfzehn Jahren füllt Ronald van den Berg unter dem Künstlernamen Rasti Rostelli die niederländischen Veranstaltungssäle mit seiner paranormalen Hypnose-Show. Schätzungsweise knapp 900 000 Menschen haben bisher seine Vorstellungen besucht; mittlerweile zahlen sie für dieses Privileg einen Eintritt von mindestens 47,75 niederländischen Gulden. Rostelli macht aus seiner Absicht keinen Hehl, am Anfang der Show erklärt er seinem Publikum offen: „Ich bin nur hinter Ihrem Geld her.“ Trotz der hohen Eintrittsgebühr kommen die Zuschauer weiterhin in Strömen, denn Rostelli gibt vor, außergewöhnliche Kräfte zu haben. Ausdrücklich erklärt er seinem Publikum, dass er kein Trickser sei. Wer das nicht glaubt, möge die Hand heben. Aus denen, die seine besonderen Fähigkeiten bezweifeln, wählt er eine junge Dame aus und holt sie auf die Bühne. Dabei kündigt er an, dass er sie dazu bringen könne, alles zu glauben, was er ihr befiehlt.

Rasti Rostelli Rasti Rostelli gibt die Suggestion, dass das Kügelchen auf dem Handrücken immer heißer wird. (Fernsehsendung: Freiwillig willenlos, WDR, 7. 9. 1986)

Für seinen ersten Trick leiht er sich aus dem Publikum eine Schachtel Zigaretten, reißt einen Streifen Aluminiumfolie heraus und schiebt ihn der Frau in den Mund. „Gut feucht machen“, ordnet er an. Daraufhin faltet er den nassen Streifen zu einem Stöpsel, den sie fest in der Hand halten muss, und suggeriert: „Du hast ein Stück heißer Kohle in der Hand. Es ist glühend rot. Du hältst es nicht mehr aus!“ Prompt wirft sie das Stück mit einem Schmerzensschrei zu Boden und berichtet verstört, dass dieser Pfropfen tatsächlich „fürchterlich heiß“ geworden sei. Wie angekündigt, konnte sie Rostellis Suggestionen scheinbar nicht widerstehen. In Wahrheit konnte sie den Stöpsel nicht in der Hand behalten, weil er tatsächlich sehr heiß wurde. Das konnte während eines Auftritts Rostellis bei einer niederländischen TV-Show eindeutig belegt werden. Dort hob die Freiwillige das Stück Aluminiumfolie auf, nachdem sie es hingeworfen hatte, und gab es der Fernsehmoderatorin, damit sie es fühlen könne. Die war überrascht: Der Pfropfen war tatsächlich heiß, es war also keineswegs reine Einbildung.

Die hohe Temperatur entsteht aufgrund einer chemischen Reaktion. Einer dieser Aluminiumstöpsel wurde während einer Aufführung Rostellis von der Bühne geborgen und in einem Labor der Technischen Universität Eindhoven untersucht. Man fand ein weißes Pulver am Aluminium, das man als Aluminiumoxid identifizierte. Rostelli hatte also das Aluminium zum Oxidieren gebracht. Diese Reaktion, die sehr viel Wärme erzeugt, kann einfach mit Natriumhydroxid hervorgerufen werden, einer allgemein zugänglichen Chemikalie, die in vielen Haushalten vorrätig ist, um verstopfte Abflüsse zu reinigen. Schon vor mehr als 20 Jahren wurde dieser Trick vom „Löffelbieger“ Uri Geller benutzt. Inzwischen wird er nicht mehr in Zauberläden verkauft, weil man sich dabei Blasen an den Fingern holen kann. Sie können es selbst ausprobieren: Einfach etwas Natriumhydroxid in ein wenig Wasser auflösen. Dann den Finger in die Lösung dippen und damit über Aluminiumfolie fahren. Die konzentrierte Lauge zerstört die Schutzschicht des Aluminiums. Nun kommt der Sauerstoff aus der Luft direkt mit dem Metall in Berührung und oxidiert es schlagartig. Passen Sie aber auf, dass Sie die Lösung nicht in die Augen bekommen, und waschen Sie sich danach die Finger!

Für einen anderen Trick, den Rostelli seit Jahren aufführt, fragt er das Publikum nach zwei großen Münzen, die er sich mit Klebeband vor den Augen befestigt. Wenn er sich danach noch die Augen verbinden lässt, ist jeder überzeugt, dass er nichts mehr sehen kann. Nichtsdestotrotz schafft er es, mit einem Respekt einflößenden Schwert eine Zitrone zu halbieren, die von zwei nervösen Freiwilligen gehalten wird. Außerdem trifft er mit zwei Dolchen mitten ins Schwarze. Die Erklärung ist natürlich ganz einfach, Rostelli schaut einfach unter den Münzen und der Augenbinde hindurch. Man erkennt sogar, wie er seinen Kopf zurückbeugt, um möglichst viel sehen zu können. Seine Demonstration des „Sieges des Geistes über die Materie“ ist noch einfacher. Ein dicker Holzstab steht neben einer Colaflasche. Nachdem Rostelli diesen Stab horizontal auf die Flaschenmündung gelegt hat, muss sich ein Freiwilliger fest darauf konzentrieren. Die Spannung steigt: Plötzlich fällt der Stab herunter, Applaus brandet auf. Außergewöhnliche Kräfte? Nichts da, ein simpler Trick, den jeder von uns sofort ausführen könnte.

Man spalte einen Holzstab der Länge nach in zwei, fülle ein Röhrchen halb mit dickflüssigem Öl und höhle den Stab so aus, dass die Röhre hineinpasst. Klebt man die Hälften unsichtbar zusammen und stellt den Stab aufrecht, so fließt das Öl natürlich in den unteren Teil des Röhrchens. Balanciert man den Stab nun horizontal auf dem Flaschenhals, so dauert es nicht all zu lange, bis die sirupartige Flüssigkeit sich anders (vom Stabende weg) verteilt, der Schwerpunkt wandert, und der Holzstab fällt. Für einen optimalen Effekt muss man das Röhrchen etwas schräg montieren. Im zweiten Teil der Show demonstriert Rostelli seine Fähigkeit, Menschen aus dem Publikum in willenlose Marionetten zu verwandeln. Er holt über hundert Freiwillige auf die Bühne und fängt an, wie ein Militärausbilder Kommandos zu geben. Die Freiwilligen müssen aufrecht stehen, Füße zusammen, dürfen keinen Muskel bewegen. Rostelli lässt keine Zweifel daran, was er erwartet: „Wenn ihr nicht auf mich hört, dann solltet ihr nicht hier sein. Tut genau, was ich sage, ohne nachzudenken. Tut es einfach. Wer nicht kooperiert, fliegt raus. Ich werde mich nur mit den Besten beschäftigen. Alles was ihr hört, ist meine Stimme. Mein Wunsch ist euch Befehl.“

Nachdem Rostelli die Freiwilligen gute zehn Minuten auf eine flackernde Flamme hat starren lassen, suggeriert er ihnen, dass ihre Augen schwer werden. Er werde bis zehn zählen, dann schließen sich ihre Augen. Nur wenn er ihnen ins Gesicht bläst, dürfen sie sie wieder öffnen. Begleitet von sphärischen Synthesizertönen erklärt Rostelli seinen Opfern, dass ihre Arme langsam in die Luft schweben. Etwa die Hälfte der Leute hebt die Arme und versucht sich vorzumachen, dass es von selbst geschieht – die andere Hälfte wird schleunigst von der Bühne gebracht. Im nächsten Test haben die so weit Erfolgreichen eine saure Zitrone zu essen, als sei sie ein leckerer, saftiger Pfirsich. Das hört sich schwerer an, als es ist; Zitronen sind nicht besonders sauer. Die Leute, die seinen Kommandos nicht überzeugend nachkommen, werden unaufhörlich von der Bühne geschickt. Auch Rostellis Assistentin hilft, die Spreu vom Weizen zu trennen. „Öffne deine Augen“, sagt sie. Aber jeder, der das tut, darf nicht mehr mitspielen – schließlich darf man nur dann seine Augen öffnen, wenn einem der Meister selbst ins Gesicht bläst. Wie bei anderen Bühnenhypnotiseuren gelingen die Tricks bei Rostelli deswegen, weil er seine Freiwilligen sorgfältig auswählt. Über neunzig Prozent der Leute wären hierfür unbrauchbar. Schließlich bleiben ungefähr zehn Personen übrig, die genau tun, was er vorschreibt. Wenn er ihnen auf die Augen bläst, wachen sie auf. Wenn er mit den Fingern schnippt, schlafen sie ein.

„Wenn ich dich aufwecke, wirst du dich umschauen und feststellen, dass jeder einzelne in diesem Saal nackt ist, sogar deine Freunde und deine Familie.“ Einen nach dem anderen probiert Rostelli die Freiwilligen aus. Er achtet besonders auf die Reaktion des Publikums. Wenn einer zu wenig Heiterkeit hervorruft, dann läuft er Gefahr, den Rest des Abends als schlafendes Stück Kulisse auf der Bühne zu stehen. Hypnose ist ein viel zu großes Wort für die improvisierten Bühnenstückchen, die Rostelli seine Freiwilligen vorspielen lässt. Das Publikum glaubt, dass die Freiwilligen einen Saal voller nackter Leute sehen, aber das ist nicht der Fall. Einer der „Stars“ des Abends gab nach der Show zu: „Ich habe niemanden nackt gesehen. Man versucht sich vorzustellen, wie das wäre. Ich hatte einige Probleme damit. Ich glaube, dass die Leute das an meiner Reaktion erkennen konnten.“ Aber geht man nach den Reaktionen des Publikums, so war seine Darbietung höchst überzeugend. Wer mehr als eine Rostelli-Show besucht, der stellt nach und nach fest, dass die Versuchspersonen sehr stereotyp und berechenbar reagieren.

Viele Menschen glauben, dass man unter Hypnose Dinge vollbringt, die man unter normalen Umständen nicht schafft. Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben aber, dass man nahezu alles, was man unter Hypnose kann, auch ohne sie schafft. Ein Beispiel: Die „menschliche Brücke“, die schon vor hundert Jahren von Hypnotiseuren vorgeführt wurde (Abb. auf S. 175). Die Versuchsperson muss den Körper steif halten, während sie auf zwei Stuhllehnen gelegt wird, sodass Kopf und Nacken auf der einen, die Fußknöchel auf der anderen Lehne liegen. Dieses Kunststück kann genauso gut ohne Hypnose durchgeführt werden. Wird der Freiwillige mit den Schultern und Unterschenkeln auf zwei Stuhlflächen gelegt, dann kann sich sogar jemand auf ihn stellen. Die beeinflussbarsten Freiwilligen gehorchen Rostellis Befehlen ohne nachzudenken. Sie schalten ihren eigenen Verstand ab und gehen völlig darin auf, diese Rolle zu spielen. Einer erzählte mir nach der Show: „Du bekommst deine Befehle und akzeptierst sie ohne Nachfragen. Du unterwirfst dich Rostelli. Du lässt dich beherrschen. Und dann geht alles wie von selbst.“ Ist der Stein einmal ins Rollen gebracht, dann gibt es kein Halten mehr. Wer A sagt, muss auch B sagen, weil Rostelli, weil das Publikum darauf wartet. Manche genießen das richtig und lassen sich völlig gehen, versuchen sich sogar gegeneinander auszuspielen und zu übertrumpfen. Da sie unter Hypnose stehen, können sie sich ohne Scham wie Marionetten benehmen. Sie müssen ihre Handlungen später nicht vor Freunden und Familie rechtfertigen, weil sie ja keine Kontrolle hatten über das, was sie taten. Manche behaupten später, sie könnten sich nicht daran erinnern, was sie auf der Bühne getan haben. Meist wollen sie es nicht. Ich sprach zum Beispiel mit jemandem, der sich schämte, dass er als Striptease-Tänzer aufgetreten war. Er gab zu, dass er seinen Auftritt lieber vergäße: „Ich will eigentlich gar nicht darüber nachdenken.“

Es ist auch nicht leicht, seiner Freundin zu erklären, warum man allen Befehlen Rostellis gehorchte. Um diesen heiklen Fragen aus dem Wege zu gehen, bleibt man besser bei der Geschichte, dass man sich an nichts erinnert. Das soll nicht heißen, dass die Freiwilligen absichtlich das Publikum in die Irre führten. Die „begabtesten“ schaffen es nämlich, sich selbst davon zu überzeugen, dass alles ohne ihren Willen ablief; sie tun nicht nur so „als ob“, sondern glauben nachher selber daran. Das funktioniert vielleicht am besten bei Leuten mit starker Vorstellungskraft. Hypnose ist in der Tat eine Methode, Leute dazu zu bringen, sich Erlebnisse vorzustellen, die der Hypnotiseur suggeriert. Wer sich vollkommen in diese Fantasiewelt versenkt, kann zeitweilig den Bezug zur Realität verlieren.

Eine der erfolgreichsten Versuchspersonen Rostellis erzählte mir: „Wenn ich ein gutes Buch lese, dann vergesse ich alles, was um mich herum ist. Angeblich rede ich sogar, wenn ich lese. Ich kann mir leicht alles Mögliche vorstellen. Wenn jemand zum Beispiel sagt: ,Du Eierkopf!‘, dann muss ich lachen, weil ich es sofort vor mir sehe. – Ich bin Lehrer an der Grundschule und erzähle den Kindern manchmal Geschichten, die ich ganz spontan erfinde. Das kann ich gut.“ Etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung haben ein außergewöhnlich lebhaftes Fantasieleben. Ihre Tagträume ergeben sich ohne Anstrengung und erscheinen manchmal völlig real. Wenn jemand eine Situation beschreibt, haben sie sie gleich vor Augen. Es ist nicht sonderlich überraschend, dass diese Leute auch außergewöhnlich gut zu hypnotisieren sind, da sie dann etwas tun, worin sie sowieso sehr gut sind. Die Zuschauer lassen sich überzeugen, dass sie Zeugen von Telepathie und Telekinese sind, obwohl sie nur zum Narren gehalten werden. Rostelli produziert keine Wunder. Das einzige Wunder ist, dass die Zuschauer bereit sind, für diese drittklassige Trickserei mehr als E 20 auszugeben.

Rob Nanninga ist Geschäftsführer der niederländischen Skeptiker-Organisation Skepsis, Redakteur der Zeitschrift Skepter und Webmaster von www.skepsis.nl.

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 4/2001.

Bärbel Schwertfeger

Persönlichkeitstrainings liegen im Trend. Doch nicht jedes angebotene Training hält, was es verspricht und manche Anbieter arbeiten sogar mit äußerst fragwürdigen Methoden. Sie manipulieren ihre Teilnehmer, erzeugen geschickt Erfolgserlebnisse und werden daher manchmal sogar als Geheimtip in den Unternehmen gehandelt.

Sie versprechen viel: Mehr Energie und innere Stärke, ein besseres Selbstwertgefühl oder gar den Durchbruch zu Harmonie und Lebensfreude. Doch wie man dieses Wunder in drei oder vier Tagen erreicht, verraten die Anbieter mancher Persönlichkeitsseminare nicht. Denn, so ihr Argument, der Erfolg des Seminars hängt davon ab, daß der Teilnehmer nicht weiß, was auf ihn zukommt. Er muß sich eben einlassen auf den Prozeß. Im Training erwartet ihn dann nicht selten autoritärer Drill. Mit wenig Schlaf, einem Schweigegebot und nächtelangen Gruppensitzungen soll er seine inneren Blockaden überwinden und seine Leistungsfähigkeit steigern. Er soll sein Innerstes preisgeben, emotional belastende Übungen absolvieren und danach nichts über das Seminar erzählen – damit sich auch künftige Teilnehmer ganz auf den Prozeß einlassen können. Was dabei in so manchem Persönlichkeitsseminar abläuft, ist Stoff für einen Horrorfilm. Da wird den Teilnehmern dann vorgeschrieben, wieviele Paar Socken sie während des viereinhalbtägigen Seminars benützen dürfen. Da werden einzelne vor der Gruppe zutiefst gedemütigt. Da werden traumatische Kindheitserlebnisse hervorgeholt und dann wird der Betroffene damit alleingelassen.

Und die Teilnehmer spuren. Ohne zu mucken lassen sie sich zu unmündigen Marionetten degradieren und befolgen die teils abstrusen Befehle der Trainer. Denn schließlich lockt am Ende die Erlösung und nur wer alles brav mitmacht, der wird den versprochenen Erfolg haben. Und tatsächlich sind viele danach begeistert. „Das war die intensivste Zeit meines Lebens“, schwärmen sie dann, ohne so genau erklären zu können, warum. „Das mußt du einfach selbst erleben“, werden die Skeptiker abgespeist und so avanciert so manches dubiose Training schnell zum Geheimtip im Unternehmen. Crashkurse für die Psyche liegen im Trend. Statt sich mühsam mit Verhaltensveränderungen oder Selbstreflexionen abzumühen, sind Patentrezepte gefragt. Die Persönlichkeitsveränderung soll möglichst schnell und effektiv sein. Gerade Manager gehen dabei häufig von dem Irrglauben aus, der Mensch funktioniere wie eine Maschine. Man bräuchte ihn nur in das richtige Training zu schicken und schon kommt die Erfolgspersönlichkeit heraus. Auch so mancher Trainer hat eine etwas merkwürdige Auffassung. „Manager brauchen manchmal einfach ein sauberes Hirn. Sie müssen ihren emotionalen Ballast abwerfen, damit sie voll leistungsfähig sind“, erklärt ein Managementtrainer. Dazu bräuchte man eben wirksame Methoden. Daß man dabei die Kursteilnehmer manipuliert, sei schon in Ordnung. Schließlich brauchen die Unternehmen doch schnelle Veränderungen. So werden autoritärer Drill und Demütigungen nicht selten als einziger Weg zu mehr Leistungsfähigkeit und Selbstbewußtsein verherrlicht und damit pervertiert.

Nur wenige Teilnehmer reflektieren, was dort wirklich passiert ist. Manager sind hier im doppelten Sinn gefährdet. Denn sie können weder sich selbst noch ihrem Umfeld eingestehen, daß sie sich zur willenlosen Marionette degradieren ließen. Manager, die das öffentlich zugeben, machen sich lächerlich. „Also mit mir könnten Sie so etwas nicht machen. Das würde ich mir nie gefallen lassen“, heißt es dann. „Wer so etwas mitmacht, ist doch selbst schuld. Das sind doch nur schwache und unsichere Menschen, die auf so etwas hereinfallen.“ In den Trainings werden die Teilnehmer oft mit mehr Gefühlen und Konflikten konfrontiert, als sie auf einmal bearbeiten und ertragen können. Plötzlich müssen sie ihr gesamtes Leben in einer sehr konzentrierten Art und Weise Revue passieren lassen. Fast alles wird in Frage gestellt. Meist haben sie auch aufgrund der langen Arbeitszeiten während des Trainings keine Zeit, das Erlebte zu reflektieren. Die Betroffenen sind verunsichert und verwirrt und greifen dankbar nach dem Strohhalm, den ihnen der Trainer bietet. Natürlich kann solch ein Seminar bei einzelnen auch positive Effekte haben. Mancher fühlt sich vielleicht gestärkt und geht mit neuem Schwung an die Arbeit. Die Frage ist allerdings, wie lange die Euphorie anhält. So mancher ist jedoch verunsichert, leidet unter Konzentrationsschwäche oder Schlafstörungen und sucht – wie es ihm im Seminar meist eingebleut wird – die Schuld bei sich. Öffentliche Kritik am Seminar üben daher nur wenige. Ein Grund dafür ist sicher auch die Angst vor der Blamage. Vielleicht hat Seminarleiter erlebt, wie ein Teilnehmer schluchzend von seinen Versagensängsten erzählte und schon allein die Vorstellung, der Chef könnte etwas davon erfahren, läßt viele schweigen. Zwar werden Mitarbeiter wohl nur selten zum Psychoseminar abkommandiert, aber sie sind häufig einem subtilen Druck ausgesetzt. Was soll der einzelne tun, wenn alle seine Kollegen schon im Seminar waren und begeistert sind? Wie reagiert ein Mitarbeiter, der von seinem Chef hört: „Also Herr Müller, ich glaube, Sie müßten einmal etwas für Ihre Persönlichkeit tun. Vielleicht sollten Sie mal das Seminar XY besuchen?“

Doch auch subtiler Zwang ist Zwang. Es liegt also am System, daß nur so wenige öffentlich zu ihren wirklichen Erfahrungen stehen. Manche können im Nachhinein selbst nicht mehr verstehen, warum sie das alles mitgemacht haben. „Das schlimmste war für mich diese unheimliche Autorität der Trainer und daß ich mich dagegen einfach nicht wehren konnte“, erzählt ein Manager nach dem Besuch eines Persönlichkeitstrainings. „Du hast einfach keine Chance. Entweder du machst mit oder du gehst.“ Was in so manchem Seminar abläufig, entspricht durchaus einer mentalen Umprogrammierung oder Gehirnwäsche. „Gehirnwäsche ist die nicht sichtbare soziale Anpassung“, schreibt Margaret Singer, die wohl beste Kennerin und Expertin im Bereich Psychokulte. Leider herrscht in vielen Köpfen noch immer die Vorstellung, Gehirnwäsche funktioniert nur, wenn man gefesselt auf einem Stuhl sitzt und der „Folterer“ einem eintrichtert, was man zu glauben oder zu tun hat. Doch es ist ein Mythos, das physische Gewalt Voraussetzung für eine Gehirnwäsche ist. „Alle Forschungen, die ich und andere auf dem Gebiet durchgeführt haben, zeigen in aller Deutlichkeit, daß Gefangenschaft und Gewaltanwendung keine notwendigen Bedingungen, sondern im Gegenteil kontraproduktiv sind, wenn es darum geht, die Einstellungen und das Verhalten von Menschen zu verändern. Wenn man andere wirklich umdrehen will, dann sind die weichen Methoden billiger, weniger auffällig und hocheffektiv“, schreibt Margaret Singer. „Die alte Devise, daß Honig mehr Fliegen anzieht als Essig gilt auch heute noch“. Gehirnwäsche sei kein einmaliger Vorgang, sondern ein schleichender Prozeß der Destabilisierung und Veränderung durch die Manipulation sozialer und psychologischer Einflußfaktoren. „Die Programme zielen darauf ab, das Selbstkonzept einer Person zu destabilisieren, sie dazu zu bringen, ihre Lebensgeschichte völlig neu zu interpretieren und eine neue Version der Wirklichkeit und der ursächlichen Zusammenhänge zu akzeptieren“, schreibt Singer. Für die Psychologieprofessorin sind sechs Voraussetzungen notwendig, damit das Ganze funktioniert.

Die Betroffenen merken dabei meist nicht, wie ihre Einstellungen durch die geschickte Manipulation sozialer und psychologischer Faktoren verändert werden. Sie reagieren begeistert, weil sie durch einen raffinierten Prozeß dazu konditioniert wurden, begeistert zu reagieren. Das System funktioniert und ist nur schwer zu durchbrechen. Denn Menschen, die unwissentlich manipuliert wurden, fühlen sich natürlich niemals manipuliert. Sie sind davon überzeugt, alles freiwillig mitgemacht zu haben und aus völligen freien Stücken zu ihren neuen Erkenntnissen und Überzeugungen gekommen zu sein. Menschen, die durch den Prozeß der Gehirnwäsche gegangen sind, verteidigen daher häufig ihren Manipulator und behaupten, er habe ihm den Weg zur Selbsterkenntnis gezeigt. Damit werden jedoch auch die Lobeshymnen vieler Teilnehmer wertlos. Anbieter, die mit derartigen Methoden arbeiten setzen – wissentlich oder unwissentlich – auf dieselben hochwirksamen Methoden wie Psychokulte oder Sekten, auch wenn sie nichts mit ihnen zu tun haben. Doch leider fehlt bisher das Bewußtsein, daß es nicht um die Zugehörigkeit zu einer problematischen Gruppierung geht, sondern um die Methoden der manipulativen Verhaltenssteuerung. Wie verbreitet dubiose Seminare in den Unternehmen sind, ist schwer zu beurteilen. Glaubt man den Anbietern, dann sind sie äußerst erfolgreich. In den Unternehmen selbst hält man sich bedeckt. Betroffene Mitarbeiter schweigen meist aus Angst. „Jedes Mal, wenn wir wieder so ein Seminar hatten, dann brauche ich erst einmal zwei Tage, um mich wieder davon zu erholen“, erzählt der Mitarbeiter einer großen Versicherung. Doch öffentlich Kritk üben würde er nie. „Ich will doch meinen Arbeitsplatz nicht verlieren“, sagt er. Und je größer die Angst um den Arbeitsplatz, umso seltener wird ein Mitarbeiter gegen fragwürdige Trainings aufbegehren. Wem es nicht paßt, dem bleibt machmal nur noch die Kündigung. Doch damit verliert das Unternehmen oftmals seine besten Mitarbeiter. Denn sie sind es, die Verantwortung und Standfestigkeit zeigen, während sich die anderen unterordnen und anpassen. Fraglich ist auch, was die Mitarbeiter in solchen Seminaren tatsächlich lernen. Kritikfähigkeit bestimmt nicht. „Seitdem mehrere Führungskräfte in diesem Seminar waren, geht es bei uns wieder autoritärer zu“, berichtet ein Manager. Dabei ist es manchmal unfaßbar, wie leichtfertig Trainer von den Unternehmen eingekauft werden. Da schwärmt ein Kollege von einem tollen Seminar und das genügt bereits als Qualitätskriterium. Dabei fehlt vielen Personalverantwortlichen aber auch schlichtweg das Know-how, um Persönlichkeitsseminare richtig einschätzen zu können. Kein Wunder, daß so mancher Seminaranbieter mit seinen abenteuerlichen Versprechungen bei ihnen offene Türen einrennt. Dabei würde häufig schon die Nachfrage nach der Ausbildung Klarheit bringen. Doch während jeder Lehrling auf Herz und Nieren geprüft wird, genügt bei einem Persönlichkeitstrainer oftmals der nichtssagende Hinweis auf „verschiedene Weiterbildungen in Methoden der humanistischen Psychologie“. Nicht selten verbirgt sich dahinter dann nur ein Wochenendkurs. Doch eine anerkannte Therapieausbildung dauert mehrere Jahre. Personalverantwortliche sollten daher stets fragen, wo der Seminarleiter seine Ausbildung gemacht hat? Welcher Fachverband erkennt diese Ausbildung an? Häufig bieten umstrittene Trainer sogar ihre eigenen Ausbildungen an. Da bildet dann der gelernte Bankkaufmann mit psychologischer Schmalspurausbildung andere selbst zum psychologischen Berater aus. Viele umstrittene Anbieter kommen daher schon bei der Frage nach der Ausbildung ins Schleudern. Aber auch bei den Referenzen wird kräftig geschummelt und beeindruckende Referenzlisten erweisen sich nicht selten als falsch. Leider fragen nur wenige Chef ihre Mitarbeiter nach ihren Erfahrungen im Seminar und noch weniger legen dabei Wert auf eine ehrliche Rückmeldung. Doch wer verantwortungsvolle Mitarbeiter möchte, der muß sich auch ihre Meinung anhören. Verantwortungsvolle Mitarbeiter müssen es sich auch nicht gefallen lassen, wenn sie im Seminar gedemütigt zu werden. Hier zeigt sich, wie ernst ein Unternehmen seine Forderung nach Selbständigkeit und Eigenverantwortung wirklich meint.

 

Frau Schwertfeger ist Dipl. Psychologin und freie Journalistin aus München. Sie schreibt u.a. für Wirtschaftswoche, Handelsblatt, Blick durch die Wirtschaft, Junge Karriere, Süddeutsche Zeitung, Stern, Zeit, e-market. Seit 1994 beschäftigt sie sich intensiv mit dem Thema „Psychoseminare“, daneben schreibt sie über Themen aus den Bereichen: Personalentwicklung, E-Learning, Karriere, MBA, Weiterbildung uvm. Aktuelle Veröffentlichung: Bärbel Schwertfeger: Die Bluff-Gesellschaft – Schein, Karriere, Betrug, 2002.


Dieser Text ist urheberechtlich geschützt. Alle Rechte bei der Autorin. Veröffentlichung dieses Artikels mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Literatur:

  • Christ, Angelika und Goldner, Steven (1996) Scientology im Management, Düsseldorf.
  • Efler, Ingolf und Reile, Holger (Hrsg.)(1995) VPM – Die Psychosekte. Reinbek.
  • Kanning, Uwe P. (2007): Wie Sie garantiert nicht erfolgreich werden!Dem Phänomen der Erfolgsgurus auf der Spur. Lengerich.
  • Lell, Martin (1997) Das Forum. Protokoll einer Gehirnwäsche. Der Psychokonzern Landmark Education. München.
  • Scheich, Günter (2001) Positives Denken macht krank – Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen. Frankfurt/Main.
  • Schwertfeger, Bärbel (1998) Griff nach der Psyche – Was umstrittene Persönlichkeitstrainer in Unternehmen anrichten. Frankfurt/Main.
  • Schwertfeger, Bärbel: Dubioser Konkurs – Die Bodo Schäfer Finanz Coaching GmbH ist pleite, doch der Geldguru will unschuldig sein. In: Wirtschaftswoche Nr. 24 / 8.6.2000, S. 88 – 90.
  • Singer, Margaret und Lalich, Janja (1996) Cults in our Midst. San Francisco.
  • Rouven Schäfer: Parawissenschaften in Management und Fortbildung, Bericht über die 9. GWUP-Konferenz in Roßdorf, 13. – 15. Mai 1999. Frau Bärbel Schwertfeger hielt den Eröffnungsvortrag.
  • Carroll, Robert Todd (2002) Psycho-Pate? In: Skeptiker 1/2003, S. 30 – 33.

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