Prophezeiungen
Zukunftsvorhersagen gibt es viele. Trotzdem gewinnen Propheten auch nicht öfter im Lotto als andere Leute. Fest steht: Viele Prophezeiungen, von den Schriften des Nostradamus bis hin zu modernen Weltuntergangs-Ideen, üben eine große Faszination aus und erreichen immer wieder einen hohen Bekanntheitsgrad.

„Hunderte von Prophezeiungen, die historisch nachgeprüft werden können“, lesen fundamentalistisch eingestellte Christen aus der Bibel heraus. Und schlussfolgern: „Die restlichen Prophezeiungen liegen noch in der Zukunft.“ Aber wie ist es um die konkrete Aussagekraft biblischer Weissagungen tatsächlich bestellt?

Haben Sie schon einmal mit Zeugen Jehovas diskutiert? Wenn ja, dann kennen Sie sicherlich die Behauptung, in der Bibel seien zahlreiche Prophezeiungen enthalten, die sich wortwörtlich erfüllt haben. Angeblich sind diese Vorhersagen so zahlreich und korrekt, dass sämtliche Versuche, eine wissenschaftliche Erklärung zu finden, zum Scheitern verurteilt sind.  Da nur Gott persönlich so viel Wahrsagekraft entwickeln kann, sehen sich die Haustürprediger in ihrer Ansicht bestätigt, dass die Bibel das Wort Gottes ist.

Angesichts solcher Behauptungen müssen wir uns die Frage stellen, ob unsere skeptische Haltung zur Wahrsagerei (vgl. z. B. „Ein Tag als Medium oder: Wie ich in 24 Stunden Tarot, Handlesen, Astrologie und Wahrsagen lernte“, Skeptiker 3/05) möglicherweise in die falsche Richtung gelaufen ist. Vielleicht ermöglicht ja die Bibel den Blick in die Zukunft, den wir in der Esoterikszene bislang vergeblich gesucht haben.

Wurde das Leben Jesu prophezeit?

Wie fundamentalistisch eingestellte Christen (nicht nur die Zeugen Jehovas) zum Thema biblische Prophezeiungen argumentieren, steht beispielsweise in dem Buch „Fragen, die immer wieder gestellt werden“ des Ingenieurs und Predigers Werner Gitt. In diesem Werk, das bei vielen bibeltreuen Gruppierungen hoch im Kurs steht, lesen wir: „Wir wollen hier die Frage nach der biblischen Wahrheit an einem ausgewählten Beispiel zeigen, das den Vorteil hat, mathematisch nachvollziehbar zu sein. Die Bibel enthält 6408 Verse mit prophetischen Angaben, von denen sich 3268 bisher so erfüllt haben, während die restlichen Prophetien noch zukünftige Ereignisse betreffen. Keine Voraussage ist verändert eingetroffen.“

Anschließend rechnet Gitt – mathematisch völlig korrekt und in aller Ausführlichkeit – vor, dass das rein zufällige Eintreffen derart vieler Prognosen etwa so wahrscheinlich wäre wie ein Sechser im Lotto. Allerdings unter der Voraussetzung, dass der Lottoschein deutlich mehr Felder hat, als es im Universum Atome gibt. Angesichts dieser eindrucksvollen Zahlenspiele kommt Gitt zu folgendem Schluss: „Die Prophetien [in der Bibel] sind göttlicher Art, sie können von keinem Menschen stammen.“

Nun nennt Gitt in seinem Buch zwar nur einige wenige Beispiele für die von ihm so hoch eingeschätzten Prophezeiungen in der Bibel, doch ein kurzer Blick auf eine Internet-Seite wie dasjahrderbibel.de gibt genaueren Aufschluss. Dort lesen wir  beispielsweise, dass viele biblische Vorhersagen Jesus von Nazareth betreffen. Diese Vorhersagen finden sich allesamt im Alten Testament, dessen Inhalte – und kein ernst zu nehmender Historiker bezweifelt dies – Jahrhunderte vor der Geburt Jesu verfasst wurden. Man kann also davon ausgehen, dass die Prophezeiungen tatsächlich älter sind als das Prophezeite.

Weniger überzeugend sieht es dagegen aus, wenn man sich fragt, wie konkret die einzelnen Prophezeiungen sind. Dies verdeutlicht das folgende Beispiel (Psalm 22,17):

Denn Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben.

„Durchgraben“ oder „durchbissen“?

Da das Hebräische, in dem das Alte Testament im Original geschrieben ist, eine tückenreiche Sprache ist, steht in manchen Bibeln auch „durchbohrt“ statt „durchgraben“. Die genannte Bibelstelle wird von Christen aus dem fundamentalistischen Spektrum daher als Prophezeiung der Hinrichtung Jesu gewertet, bei der Nägel dessen Hände und  Füße durchbohrten.

Allerdings ist diese Interpretation nicht gerade zwingend. Dies fängt schon damit an, dass der zitierte Satz auf ein Ereignis in der damaligen Gegenwart hinweist und damit gar keine Prophezeiung ist. Es ist in diesem Psalm auch nicht davon die Rede, dass es sich bei der beschriebenen Person um Jesus handelt.

Was die Hunde mit der Kreuzigung Jesu zu tun haben sollen, bleibt ebenfalls ein Rätsel. Und nicht zuletzt lässt die hebräische Sprache statt „durchgraben“ auch „durchbissen“ als Übersetzung zu, was im Zusammenhang mit Hunden ja nicht ganz unwahrscheinlich ist. Am Ende bleibt also nicht mehr als eine nicht vorhandene Prophezeiung ohne konkreten Inhalt, die obendrein völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurde.

Dass die genannte angebliche Vorhersage kein Einzelfall ist, soll noch ein zweites Beispiel verdeutlichen. So findet sich im Alten Testament (Sacharja 11,12) folgender Satz:

Und ich sprach zu ihnen: Gefällt’s euch, so gebt her meinen Lohn; wenn nicht, so lasst’s bleiben. Und sie wogen mir den Lohn dar, dreißig Silberstücke.

Längst Vergangenes „prophezeien“

Auch diese Stelle ist mitnichten eine Prophezeiung, sondern bezieht sich auf einen Vorgang in der Vergangenheit. Darüber hinaus ist kein Bezug zu Jesus von Nazareth erkennbar. Findige Bibel-Exegeten stört das allerdings wenig. Ihrer Meinung nach wird an dieser Stelle der Verrat Jesu durch Judas prophezeit, für den der missgünstige Apostel 30 Silberstücke erhalten haben soll.

Leider sind solche an den Haaren herbeigezogenen Auslegungen in diesem Zusammenhang mehr als typisch, und so ließe sich die Liste von wenig aussagekräftigen Scheinprophezeiungen auf das Leben Jesu noch deutlich verlängern. Machen Sie doch einfach die Probe aufs Exempel: Nehmen Sie die „Prophezeiungen über Christus“ von der Web-Seite dasjahrderbibel.de oder eine ähnliche Quelle und schlagen sie die genannten Bibelstellen nach.

Sie werden feststellen, dass weder das Wirken Jesu in Galiläa (Jesaja 9,1-2) noch der Verrat durch einen vertrauten Freund (Psalm 41,9) noch das Sterben unter Verbrechern (Jesaja 53,12) an den genannten Stellen prophezeit wird. Erst im Nachhinein hat man die entsprechenden Aussagen in der gewünschten Weise interpretiert.

Die Tatsache, dass die angeblichen Jesus-Prophezeiungen im Alten Testament (es sollen etwa 300 sein) alles andere als aussagekräftig sind, ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Noch mehr nutzen fundamentalistische Christen nämlich eine andere Tatsache aus: Einige Autoren des Neuen Testaments hatten offensichtlich ein großes Interesse daran, dass sich Prophezeiungen des Alten Testaments in Jesus erfüllten. Dieses Interesse ist durchaus verständlich, denn für die  Juden war es damals wie heute schwierig, Jesus als den im Alten Testament angekündigten Erlöser zu akzeptieren. Da konnten eingetroffene Prophezeiungen als Argumentationshilfe recht nützlich sein.

Zur Ehre Gottes geflunkert?

Am augenscheinlichsten wird dies im Matthäus-Evangelium, dessen Autor nicht weniger als 130 Zitate aus dem Alten Testament in sein Werk eingebaut hat. An elf Stellen heißt es sogar ausdrücklich, dass sich bestimmte Dinge im Leben Jesu ereignet haben, damit sich eine alttestamentarische Prophezeiung (oder etwas, was der Autor dafür hält) erfüllt. Das Problem hierbei ist offensichtlich: Woher soll man wissen, ob die zahlreichen angeblichen Vorhersagen tatsächlich eingetroffen sind oder ob der Autor nicht zur Ehre Gottes etwas geflunkert hat.

Hier ein Beispiel aus dem Matthäus-Evangelium (Matthäus 21,4), wo wir lesen, wie Jesus mit einem Esel und einem Eselsfohlen (Füllen) in Jerusalem einreitet. Dass dieser Ritt kein Zufall gewesen sein kann, betont der Evangelist mit folgenden Worten:
Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.“
Dass die zitierte Prophezeiung im Alten Testament (Sacharja 9,9) etwa die gleiche Aussagekraft hat wie zahlreiche andere Jesus-Vorhersagen (nämlich so gut wie keine), sei nur am Rande erwähnt.

Interessieren soll uns hier eine andere Beobachtung: Diese Episode mit den beiden Eseln wird – im Gegensatz zu vielen anderen Begebenheiten aus dem Leben Jesu – an keiner anderen Stelle des Neuen Testaments bestätigt. Außerbiblische Quellen dazu gibt es sowieso nicht. Daher lässt sich heute beim besten Willen nicht mehr klären, ob sich diese Geschichte wirklich so abgespielt hat oder ob der Matthäus-Evangelist seinem Glück bei der Suche nach eingetroffenen Prophezeiungen nachgeholfen und einen Eselsritt erfunden hat.

Auch hier lassen sich mühelos weitere Beispiele finden. So erfahren wir im Matthäus-Evangelium, dass die Peiniger Jesu um dessen Kleidung das Los warfen (Matthäus 27,35), so wie es nach fundamentalchristlicher Lesart in Psalm 22,19 vorhergesagt worden war. Am Kreuz wurden Jesus Essig und Galle zu trinken gegeben (Matthäus 27,47-48), was Psalm 69,22 schon vorher gewusst haben soll. Und die angeblich letzten Worte Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46) stehen bereits in Psalm 22,2.

Nach knapp 2 000 Jahren lässt sich schlichtweg nicht mehr kontrollieren, ob diese Details den Tatsachen entsprechen. Erst recht nicht zu überprüfen sind angebliche Jesus-Prophezeiungen aus dem Alten Testament, die sich auf Ereignisse wie die Jungfrauengeburt, die Salbung durch den heiligen Geist, die Auferstehung oder die Himmelfahrt beziehen. Fundamentalistische Christen werten diese dennoch als Treffer.

Das Schicksal der Stadt Tyrus

Natürlich beziehen sich nicht alle angeblichen Prophezeiungen in der Bibel auf Jesus von Nazareth. Vielmehr betreffen zahlreiche Vorhersagen auch historische Ereignisse, die bereits zu alttestamentarischer Zeit stattfanden. Ein Lieblingsbeispiel vieler Bibel-Fans, das sowohl in einem Buch von Werner Gitt als auch auf der Web-Seite dasjahrderbibel.de in aller Ausführlichkeit behandelt wird, sind die Geschehnisse um die Stadt Tyrus im heutigen Libanon.

Auf deren Schicksal sollen sich einige Prophezeiungen aus der Bibel beziehen. In der Tat findet man im Alten Testament  bei Hesekiel 26 die recht ausführliche Ankündigung eines Angriffs auf Tyrus durch den babylonischen König Nebukadnezar. Gott selbst soll diesen Angriff vorhergesagt haben. In nicht weniger als 21 Versen beschreibt Hesekiel, wie Rosse, Wagen, Reiter und ein großes Heer Tyrus, das auf einer Insel lag, sowie dessen Vorstädte auf dem Festland dem Erdboden gleichmachen würden.

Im Gegensatz zu vielen angeblichen Jesus-Prophezeiungen stellen die Hesekiel-Zeilen tatsächlich eine Vorhersage dar und wurden nicht erst im Nachhinein dazu erklärt. Darüber hinaus bestätigt die historische Forschung, dass diese Vorhersage im Wesentlichen eingetroffen ist – jedenfalls belagerte Nebukadnezar Tyrus und zerstörte die Vorstädte. Ist das der Beweis, dass es sich um eine göttlich inspirierte Prophezeiung handelt?

Ist die Prophezeiung jünger als das Prophezeite?

Mit Sicherheit nicht, denn die Sache hateinen kleinen Schönheitsfehler: Die Belagerung durch Nebukadnezar fand zwischen 586 und 573 v. Chr. statt, während die Entstehung des Buchs Hesekiel von der wissenschaftlichen Bibelforschung auf den Zeitraum zwischen 600 und 560 v. Chr. datiert wird. Die Prophezeiung könnte also jünger sein als das Prophezeite. Natürlich lehnen fundamentale Christen diese profane Erklärung vehement ab. Sie bestehen darauf, dass der Prophet Hesekiel durch eine göttliche Eingebung bereits im Voraus wusste, was passieren würde.

Leider gibt es für diese Behauptung nicht den Schatten eines Beweises. Um wenigstens noch einen Teil der Prophezeiung zu retten, behaupten bibeltreue Christen manchmal, Teile der Hesekiel-Prophezeiung bezögen sich auf die Einnahme von Tyrus durch Alexander den Großen im Jahr 332 v. Chr. (dasjahrderbibel.de folgt dieser Argumentation). Diese Eroberung fand unzweifelhaft nach der Niederschrift des Buchs Hesekiel statt. Auch diese Theorie hat jedoch den Makel, dass sie durch nichts – und schon gar nicht durch die Textstellen selbst – zu belegen ist.

Wenig Mühe bereitet schließlich auch der Satz „ … und du [Tyrus] sollst nicht wieder gebaut werden” im 14. Vers der besagten Prophezeiung. dasjahrderbibel.de meint, dass diese Prognose eingetroffen ist, was man vor gut 2500 Jahren natürlich noch nicht wissen konnte. Dies ist jedoch Interpretationssache, denn Teile des früheren Stadtgebiets von Tyrus sind durchaus wieder bebaut.

Die Zerstörung Jerusalems

Auch hier lassen sich noch zahlreiche weitere Beispiele finden. Ähnlich wie mit Tyrus verhält es sich beispielsweise mit Babylon, dessen Einnahme durch „Völker aus dem Lande des Nordens“ ebenfalls im Alten Testament vorhergesagt wird (Jeremia 50,9). Wie man in jedem Lexikon nachlesen kann, ereilte Babylon im Jahr 539 v. Chr. tatsächlich
das Schicksal der Einnahme durch den Perserkönig Kyros II., wodurch sich die genannte Prophezeiung erfüllte.

Auch hier gibt es jedoch keinerlei Beweis dafür, dass die Prophezeiung tatsächlich älter als das Prophezeite ist. Und selbst wenn man dies beweisen könnte, würde es nicht viel aussagen, denn die Prophezeiung ist so vage, dass es sich auch um eine Wunschvorstellung des Autors handeln könnte (Babylon war bei den Juden verhasst), die nach ihrem Eintreten mit großer Freude weitererzählt wurde.

Eher ein Schmunzeln löst auch die Behauptung aus, Jesus (gestorben um 30 n. Chr.) hätte die Zerstörung Jerusalems durch die Römer (70 n. Chr.) vorhergesagt. In der Tat finden wir etwa bei Lukas 21,6 Jesus-Worte, die eine solche Verwüstung ankündigen. Die Erklärung: Die Entstehung des Lukas-Evangeliums wird von der wissenschaftlichen Bibelforschung auf etwa 80 bis 90 n. Chr. datiert. Die Zerstörung Jerusalems war bei der Niederschrift also bereits Geschichte.

Natürlich lehnen fundamentalistische Christen auch diesen Einwand ab, denn für sie ist jedes Jesus-Wort in der Bibel authentisch. Wer jedoch behauptet, es liege eine übernatürliche Prophezeiung vor, ist nach den Spielregeln der  Wissenschaft in der Beweispflicht, und bisher konnte noch niemand beweisen, dass Jesus etwas zur bevorstehenden Zerstörung Jerusalems gesagt hat.

Spacelabs und Orbitalstationen

Da die Prophezeiungen antiker Geschehnisse in der Bibel nicht viel hergeben, wollen wir nun noch einen Blick auf das werfen, was die Heilige Schrift zu Ereignissen neueren Datums zu sagen hat. Nach Ansicht fundamentalistischer Christen ist dies eine ganze Menge. So lesen wir etwa bei Jesaja 27,6:
Es wird einst dazu kommen, dass Jakob wurzeln und Israel blühen und grünen wird, dass sie den Erdkreis mit Früchten erfüllen.Für dasjahrderbibel.de ist dies – man höre und staune – eine Vorhersage der Tatsache, dass der Staat Israel heute große Mengen an Zitrusfrüchten in die ganze Welt exportiert. Wirklich zwingend ist diese Auslegung allerdings nicht.

Oder betrachten wir Jesaja 55,13:
Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln.
Gemäß dasjahrderbibel.de ist dies ein Hinweis auf „Programme zur Wiederaufforstung von Millionen frischer Bäume“, die in Israel in der jüngeren Vergangenheit unternommen wurden.

Es liegt allerdings auf der Hand, dass es bei derart vagen und vieldeutigen Prophezeiungen praktisch unmöglich ist, keine aktuelle Entsprechung zu finden.

Erstaunlich ist in jedem Fall, mit welcher Fantasie so mancher Bibeldeuter zu Werke geht. Nehmen wir etwa folgende Bibelstelle (Obadja 4):
Wenn du auch in die Höhe führest wie ein Adler und machtest dein Nest zwischen den Sternen, dennoch will ich dich von dort herunterstürzen, spricht der HERR.

Der besagte fundamentalchristliche Buchautor Werner Gitt sieht darin allen Ernstes einen Hinweis auf „Satelliten, Spacelabs und Orbitalstationen“. Auf diese Idee wäre vermutlich nicht einmal Erich von Däniken gekommen.

Zum Schluss soll noch ein weiteres Lieblingskind der christlichen Prophezeiungs-Anhänger zur Sprache kommen: der Staat Israel. Nach dem Alten Testament ist das Gebiet des heutigen Israel für die Juden das Land, das ihnen Gott versprochen hat und in das er sie aus aller Welt zurückbringen will (beispielsweise Hesekiel 36,28 oder Jesaja 43,6).

Die Tatsache, dass 1948 der Staat Israel gegründet wurde, in den seitdem Juden aus aller Welt als ihre geistige Heimat zurückgekehrt sind, ist für bibeltreue Christen ein weiterer Beweis, dass sich die Ankündigungen des Alten Testaments erfüllen.

Kein Friede im gelobten Land

Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Juden bereits zu alttestamentarischer Zeit alles andere als unbehelligt in ihrem gelobten Land lebten. Im Gegenteil: Die ursprünglich als Nomaden umherziehenden Juden mussten sich „ihr“ Land erst in blutigen Schlachten erkämpfen (die Bibel berichtet davon), um später zunächst ins ägyptische und dann ins babylonische Exil getrieben zu werden.

Dadurch entwickelten sich die Juden schon damals zu einem über die antike Welt versprengten Volk. Das ungestörte Leben aller Juden im gelobten Land war dadurch bereits zur Entstehungszeit des Alten Testaments ein Wunschtraum vieler Juden, der sich natürlich in ihren Schriften niederschlug. Dass dieser Wunschtraum ausgerechnet im 20. Jahrhundert teilweise in Erfüllung ging, ist sicherlich eine Pointe der Weltgeschichte, aber kein unerklärbares Wunder.

Da die entsprechenden Stellen in der Bibel wieder einmal sehr vage gehalten sind und außerdem keine Zeitangabe enthalten, kann niemand ernsthaft behaupten, die damaligen Autoren hätten die aktuellen Vorgänge in Israel bereits damals gekannt. Erstaunlich auch, dass ausgerechnet Christen darauf bestehen, dass die viel kritisierten Kriege, in die Israel bei der Durchsetzung seiner territorialen Interessen verwickelt war, Gottes Wille sein sollen.

Trotz einiger Suche ist mir bisher noch keine angebliche Prophezeiung aus der Bibel begegnet, die sich nicht auch ohne eine göttliche Inspiration relativ simpel erklären ließe. Manche Bibel-Fans stört das nicht im Geringsten, weshalb entsprechende Behauptungen bis heute zum Standard-Repertoire von Zeugen Jehovas und anderen Gruppierungen gehören. Durch ständiges Wiederholen wird eine falsche Aussage allerdings auch nicht richtiger.

Klaus Schmeh

Klaus Schmeh

Sind in der Bibel Botschaften versteckt, die schon vor Jahrtausenden die Terroranschläge vom 11. September 2001 und andere Ereignisse voraussagten? Glaubt man dem US-Buchautor Michael Drosnin und seinem Bestseller „Der Bibel Code“, dann ist genau dies der Fall. Man muss angeblich nur die Buchstaben des hebräischen Bibel-Originaltexts auf die richtige Weise anordnen, und schon treten die interessantesten Prophezeiungen zutage. Ist damit der Beweis erbracht, dass die Bibel göttlichen Ursprungs ist? Eine genauere Betrachtung zeigt, dass davon keine Rede sein kann.

Die Idee, in der Bibel nach verborgenen Botschaften zu suchen, geht auf den jüdischen Rabbi Chaim Weissmandl  zurück. Dieser suchte in den vierziger Jahren im Text der Thora (entspricht den fünf Büchern Mose) nach etwaigen Mitteilungen, indem er so genannte äquidistante Buchstabenfolgen bildete. Eine solche Folge entsteht, wenn man in einem Text nicht alle Buchstaben, sondern beispielsweise nur jeden dritten oder jeden zehnten betrachtet und dabei Wortzwischenräume und Satzzeichen ignoriert.

In der Regel entsteht auf diese Weise eine sinnlose Aneinanderreihung von Buchstaben, in der höchstens per
Zufall das eine oder andere sinnvolle Wort enthalten ist. Ergeben sich dagegen in einer äquidistanten Buchstabenfolge mehrere sinnvolle Wörter, die sich zu einer Nachricht zusammenfügen, dann spricht dies dafür, dass der Urheber bewusst eine versteckte Botschaft in den Text kodiert hat.

Der Rips-Code

Die scheinbar positiven Ergebnisse von Chaim Weissmandl regten 1983 den israelischen Mathematiker Eliyahu Rips dazu an, sich mit den angeblichen Codes in der Thora zu beschäftigen. Rips galt damals wie heute als genialer Mathematiker, der sich im Bereich der Gruppentheorie weltweites Ansehen erworben hatte. Der in Lettland aufgewachsene gläubige Jude galt bereits in jungen Jahren als mathematisches Ausnahmetalent, eckte jedoch mit seinen politischen Ansichten an.

1969 musste er ins Gefängnis, nachdem er versucht hatte, sich selbst in Brand zu stecken, um gegen das Eingreifen sowjetischer Truppen im Prager Frühling zu demonstrieren. Selbst während seiner Inhaftierung gelangen Rips bedeutende mathematische Entdeckungen. Nach heftigen Protesten westlicher Mathematiker wurde Rips 1972 freigelassen und nach Israel abgeschoben, wo er seine Karriere fortsetzte.

Für seine Suche nach versteckten Nachrichten in der Thora engagierte Rips einen Physiker namens Doron Witztum. Nachdem erste Untersuchungen äquidistanter Buchstabenfolgen positive Resultate erbracht hatten, beschlossen Rips und Witztum, auf diese Weise in der Thora nach den Namen bedeutender Juden sowie deren Geburts- und Sterbedatum zu suchen. Sie wollten wissen, in wie vielen Fällen ein gesuchter Name in räumlicher Nähe zum zugehörigen Geburts- oder Sterbedatum auftauchte.

Die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung ließen erwarten, dass es den einen oder anderen Treffer geben würde. Rips und Witztum hofften jedoch auf eine besonders hohe Trefferzahl. Eine solche hätte darauf hingedeutet, dass die Thora einen unbekannten Code in sich barg.

Die Liste der gesuchten Namen und Daten stellten Rips und Witztum mit Hilfe einer jüdischen Enzyklopädie zusammen. Sie berücksichtigten insgesamt 66 prominente jüdische Personen, jeweils mit Geburts- und Sterbetag. Da jeder hebräische Buchstabe einem bestimmten Zahlenwert zugeordnet ist, mussten die beiden nicht zwischen Zahlen und Buchstaben unterscheiden.

Als nächstes entwickelten Rips und Witztumein statistisches Modell. Dieses definierte ein Maß für den Abstand zweier Buchstabenfolgen in einer äquidistanten Buchstabenfolge. Außerdem legte es eine Formel fest, aus der sich der Mittelwert mehrerer Abstände bestimmen ließ. Die Software zur Durchführung der Suche sowie zur Berechnung von Abständen und Mittelwerten steuerte der Computer-Experte Yoav Rosenberg bei.

Das Ergebnis der Code-Suche war höchst erstaunlich: Nach den Berechnungen von Rips und Witztum erschien der mittlere Abstand zwischen Name und Geburts- oder Sterbedatum signifikant kleiner als erwartet. Dies deutete darauf hin, dass der Urheber der Thora bewusst die Namen der berühmten Juden samt ihrer Lebensdaten in den Text eingebracht hatte. Da alle fraglichen Personen erst nach Niederschrift der Thora lebten, schien dieses Resultat mit wissenschaftlichen Argumenten nicht erklärbar. Rips, Witztum und Rosenberg diskutierten ihre Ergebnisse mit anderen Wissenschaftlern. Mehrere Verfeinerungen ihrer Suchverfahren änderten angeblich nichts am überraschenden Ergebnis.

Schließlich reichten die drei Wissenschaftler einen Aufsatz über ihre Entdeckungen bei der renommierten Fachzeitschrift Statistical Science ein. Da auch die Fachlektoren dieser Publikation keinen Fehler in der Argumentationskette fanden, erschien in der Ausgabe 3/1994 der Statistical Science der Artikel „Equidistant Letter Sequences in the Book of Genesis“ von Witztum, Rips und Rosenberg. Darin erklärten die Autoren ihre statistischen Berechnungen und gaben für die entdeckten geringen Abstände zwischen Name und Datum eine Signifikanzstufe von 0,00002 an. Dies schien den Zufall als Erklärung auszuschließen.

Vom Insider-Thema zum Bestseller

Die Reaktionen auf den von Rips vermeintlich entdeckten Bibel-Code waren zunächst nicht so umfangreich, wie man es im Nachhinein vermuten würde. Die meisten Experten sahen in den angeblichen Thora-Botschaften eher ein Kuriosum als ein ernsthaftes Betätigungsfeld. Die Öffentlichkeit nahm vom Rips-Code ohnehin kaum Notiz.

Dies sollte sich ändern, als der US- Journalist Michael Drosnin von den Untersuchungen Rips‘ hörte. Drosnin hatte zuvor als Reporter bei der Washington Post und dem Wall Street Journal gearbeitet und 1987 die erfolgreiche Howard-Hughes-Biografie „Citizen Hughes“ veröffentlicht. Die Sache mit dem Thora-Code faszinierte Drosnin so sehr, dass er Eliyahu Rips besuchte, um sich ausführlich darüber zu informieren.

Trotz aller Faszination erschien es Michael Drosnin offensichtlich nicht spektakulär genug, dass in der Thora nur irgendwelche Prominente aus der Welt des Judentums mit ihren Geburts- und Sterbedaten zu finden waren. Daher machte sich der US-Journalist selbst an die Arbeit und erfasste die Buchstaben in einem Raster. Die äquidistanten Buchstabenfolgen aus der Thora durchsuchte er nach weiteren Botschaften.

Im Gegensatz zu Rips verzichtete Drosnin dabei auf eine wissenschaftlich exakte Vorgehensweise und suchte stattdessen nach Gutdünken nach allerlei Begriffen, die ihm gerade einfielen. Bei entsprechender Variation der Suchparameter wurde er in den 304 805 Buchstaben der Thora meist auch fündig.

Wie zuvor Rips suchte auch Drosnin vor allem nach Fällen, in denen im äquidistanten Buchstaben-Gewirr mehrere sinnvolle Wörter in räumlicher Nähe zueinander auftauchten. Auf die Definition eines Abstandsmaßes und ähnliche mathematische Spitzfindigkeiten verzichtete er jedoch. Auf diese Weise stieß Drosnin beispielsweise auf Buchstabenkombinationen, die sich auf Hebräisch als „Jitzhak Rabin“ und „Mörder, der morden wird“ lesen ließen, und die sich obendrein überkreuzten.

Dies interpretierte der Journalist als Hinweis auf den Mord am israelischen Ministerpräsidenten Rabin im Jahr 1995. Weitere „Entdeckungen“ dieser Art veranlassten Michael Drosnin 1997 schließlich, sein Buch „The Bible Code“ (deutscher Titel: „Der Bibel Code“) zu veröffentlichen. Darin berichtete er über zahlreiche angebliche Prophezeiungen in der Bibel. Diese bezogen sich auf Ereignisse zu Personen wie Jitzhak Rabin, Winston Churchill, Stalin, Adolf Hitler und Napoleon sowie auf andere Begebenheiten der Weltgeschichte. Außerdem schrieb Drosnin, er hätte nach Auswertung der biblischen Botschaften vergeblich versucht, Jitzhak Rabin vor dem bevorstehenden Attentat zu warnen.

Bei seinen Ausführungen verwischte Drosnin geschickt, dass die von ihm gefundenen angeblichen Prognosen zur Weltgeschichte nicht mehr viel mit den Arbeiten von Rips zu tun hatten – weder von den Ergebnissen noch vom wissenchaftlichen Niveau. Stattdessen schilderte „das wichtigste Buch, das je über das Buch der Bücher geschrieben wurde“ (Eigenwerbung) Rips als Helden und Erfinder des Bibelcodes, während sich Drosnin selbst bescheiden im Hintergrund hielt.

Diese ebenso clevere wie dreiste Strategie verfehlte ihre Wirkung nicht. „Der Bibel Code“ wurde ein Weltbestseller, der sich weltweit über 20 Millionen Mal verkaufte. In Deutschland hielt sich das Werk stolze 39 Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste. Damit überflügelte „Der Bibel Code“ sogar den ebenfalls 1997 erschienenen Bestseller „Die Akte Astrologie“ von Gunter Sachs.

Die Reaktionen

Während zahlreiche Laien die Code-Spielereien in Drosnins Buch für bare Münzen nahmen, schüttelten Fachleute nur den Kopf. Statistiker und Code-Experten waren sich einig, dass man mit der Drosnin’schen Methode beliebige Botschaften in nahezu jedem Buch finden konnte, wenn man nur lange genug danach suchte. Im Fall der Rabin-Prognose hatte Drosnin eine Schrittweite von 4772 eingestellt, wobei völlig unklar ist, nach welchen Begriffen Drosnin sonst noch suchte und wie groß dabei die Erfolgsquote war. Da der Autor auch rückwärts und schräg geschriebene Wörter zählte, erhöhte sich die Trefferzahl natürlich.

Nicht zuletzt kam Drosnin entgegen, dass im Original der Bibel keine Vokale enthalten sind. Der Name Jithzak Rabin besteht daher nur aus acht und „Mörder, der morden wird“ aus elf Buchstaben. Eine weitere Vereinfachung ist, dass es im Hebräischen nur 22 Buchstaben gibt. Da jeder Buchstabe einer Zahl entspricht, fand Drosnin auch zahlreiche Jahreszahlen in seinen äquidistanten Folgen.

Drosnin ließ sich jedoch nicht beirren. Er forderte seine Kritiker im Nachrichtenmagazin Newsweek dazu auf, im Text von Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ vergleichbare Botschaften zu finden. Gelänge dies, so die Argumentation, dann wäre die Beliebigkeit des Bibel-Codes belegt. Der australische Mathematiker Brendan McKay ließ sich angesichts dieser Offerte nicht lange bitten und zeigte, dass sich auch in „Moby Dick“ vermeintliche Prophezeiungen aufspüren ließen.

Obwohl im Englischen im Gegensatz zum Hebräischen die Vokale nicht fehlen, fand McKay die Morde an Indira Gandhi, Leo Trotzkij, Martin Luther King und John F. Kennedy in der bekannten Wal-Geschichte. Darüber hinaus stieß McKay auf die Wörter „MDrosnin“, „nail“, „killed“ und „liar“, die nahe beieinander lagen. Sollte dies ein Hinweis auf das Schicksal
Drosnins sein?

Der Physiker David E. Thomas machte sich ebenfalls auf die Suche nach versteckten Prophezeiungen und wurde in einer englischen Bibelübersetzung sowie einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA fündig. Auch die GWUP nahm sich des Themas an. GWUP-Mitglied Wolfgang Hund nahm sich 1999 im Rahmen der GWUP-Konferenz in Roßdorf das Märchen Rotkäppchen vor und „entdeckte“ darin eine auf den Mentalmagier Uri Geller gemünzte Prophezeiung: „Uri is in LA in march to meet US CIA men on old UFO“. Offenbar wussten die Gebrüder Grimm seinerzeit schon von einem Treffen zwischen Uri Geller und der CIA, das sie in Form einer äquidistanten Buchstabenfolge in ihr Märchen kodierten.

Angesichts dieser Sachlage erntete Drosnin in den seriösen Medien reihenweise hämische Kommentare. „Wer suchet, der findet“, spottete Christoph Drösser in der ZEIT. Der Spiegel bezeichnete Drosnins Buch als „Esoterik-Schwarte“ und sprach von einen „Code ohne Zukunft“. Die Neue Zürcher Zeitung resümierte: „Der geheime Code ist nur eine Laune des Zufalls.“

Lediglich der Focus widmete Drosnins Bibel-Code 1997 einen ausführlichen Artikel, der eine abschließende Bewertung vermied. Man muss dem Autor jedoch vorwerfen, dass er den Unterschied zwischen dem Rips-Code und dem Drosnin-Code nicht  hervorhob.Nach dieser Veröffentlichung war das Thema Bibel-Code dem Münchener Nachrichtenmagazin nie wieder eine Berichterstattung wert – abgesehen von einigen Leserbriefen. Einer davon begann mit den Worten: „Was für ein Schwachsinn!“

Eine Masche läuft sich tot

Natürlich distanzierte sich auch Eliyahu Rips von Drosnins Buch. Er erklärte, er habe nicht mit Drosnin zusammengearbeitet, er stütze dessen Schlussfolgerung nicht und halte Versuche für zwecklos, dem Bibelcode Prophezeiungen zu entnehmen. Das alles störte Drosnin offenbar nicht im Geringsten.

2002 zog er mit einem weiteren Buch nach, das unter dem Namen „Der Bibel Code II: Der Countdown“ in den deutschen Handel kam. Dieses Werk ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Drosnin macht darin weiterhin keinen Unterschied zwischen dem von ihm beschriebenen Bibel-Code und den Arbeiten Rips‘. Über die Kritik an seinen Code-Fantasien verliert der Autor kein Wort, sondern geht lediglich auf Kritik an den Behauptungen des israelischen Wissenschaftlers ein.

Natürlich verschweigt Drosnin auch, dass sich Rips längst von seinem Bestseller distanziert hat, und stellt den Mathematiker stattdessen erneut als seinen Partner dar, mit dem er bei seinen Recherchen angeblich regelmäßig telefonierte und den er häufig besuchte. Inhaltlich bot das zweite Bibel-Code-Buch wenig Neues. Unvermeidlicherweise wollte Drosnin zwischenzeitlich auch die Anschläge auf das World Trade Center im Jahr 2001 in der Bibel entdeckt haben, nebst einigen anderen bedeutenden Ereignissen der Weltgeschichte.

Der wissenschaftliche Anspruch des Werks tendiert erneut gegen Null. So sind dem Buch keine statistischen Einzelheiten zu entnehmen, die den Zufall als Ursache der Fundstellen ausschließen. Offensichtlich hatte Drosnin jedoch zwischenzeitlich gelernt, was schon Nostradamus wusste: Bei Prophezeiungen zum Weltgeschehen sollte man nicht mit Schreckensszenarien sparen. Drosnin präsentiert im „Bibel Code II“ daher einen bevorstehenden „atomaren Holocaust“ für das Jahr 2006, wodurch sich auch der Untertitel „Der Countdown“ erklärt. Die genannte Katastrophe ist bisher allerdings nicht eingetreten.

Mit seiner zweiten Bibel-Code-Veröffentlichung musste Drosnin die Erfahrung machen, dass sich eine Masche nicht zu Tode reiten lässt, und so blieben die Verkaufszahlen von „Der Bibel Code II“ weit hinter dem Vorgänger zurück. In Deutschland schaffte das Werk nicht den Sprung in die Spiegel-Bestsellerliste. Dafür wurde Drosnin 2003 eine andere Ehre zuteil: Er erhielt eine Einladung ins Pentagon, wo ihn Geheimdienstmitarbeiter zum Aufenthaltsort von Osama Bin Laden befragten. Allerdings fand sich für diese äußerst interessante Frage bisher keine passende Bibelstelle.

Inzwischen hat Drosnin den dritten Teil „Bible Code III: The Quest“ angekündigt. Die für April geplante Veröffentlichung verschob sich jedoch, und so müssen sich Fans und Skeptiker vorläufig noch gedulden. Spötter meinen, Drosnin warte noch den für 2006 vorhergesagten atomaren Holocaust ab, bevor er seine Arbeit abschließt. Die Neue Zürcher Zeitung hielt sich schon im Voraus mit kritischen Worten nicht zurück: „Darin [im dritten Bibel-Code-Buch] die Wortpaare ‚zu viel‘ und ‚Fantasie‘ zu finden, wird nur eine Frage von Fleiß und Rechenkraft sein.“

Gibt es wenigstens den Rips-Code?
Während die Fachwelt für Drosnins Bibel-Code nur Spott übrig hatte, erfuhren die etwas weniger spektakulären Arbeiten von Rips und Witztum deutlich weniger Widerspruch. Dennoch gab es auch gegenüber diesen fundierte Kritik. Als diesbezüglich wichtigste Arbeit gilt eine Veröffentlichung des bereits erwähnten Mathematikers Brendan McKay und vier weiterer Autoren in der Statistical Science.

Die fünf Wissenschaftler wiesen vor allem darauf hin, dass die von Rips und Witztum gewählte Vorgehensweise bei der Code-Suche zwar schlüssig, jedoch keineswegs ohne Alternative war. Schon bei der Auswahl der Rabbis hatten Rips und Witztum einige Freiheiten; gleiches galt für die Schreibweise der Namen, für die es fast immer mehrere Varianten gab. Auch bei der Definition des statistischen Modells – insbesondere des Abstandsmaßes – gab es Spielräume. Diese umfangreichen Freiheiten konnten Rips und Witztum nutzen, um die Parameter so zu wählen, dass die Trefferquote möglichst groß wurde.

In der Tat zeigten die Untersuchungen von McKay und seinen Kollegen, dass nahezu jede andere Parameterwahl als die von Rips zu einem weniger spektakulären Ergebnis führte. Die Experten um McKay vermieden jedoch eine Aussage darüber, ob Rips und Witztum absichtlich günstige Parameter gewählt hatten oder ob es sich um einen Zufall oder ein Versehen handelte.

Abgesehen von statistischen Argumenten wiesen McKay und seine Kollegen auf ein weiteres Problem hin: Rips und Witztum nahmen für sich in Anspruch, ihre Experimente mit dem Originaltext der Thora durchgeführt zu haben. Damit meinten sie eine 1962 veröffentlichte Ausgabe des Koren-Verlags. Es gibt jedoch von allen Thora-Texten unterschiedliche Versionen, und daher ist es praktisch unmöglich, einen Originaltext anzugeben. So stimmt die Koren-Version beispielsweise nicht in allen Einzelheiten mit den Schriftrollen aus den Qumran-Höhlen überein, die als älteste Thora-Quelle gelten. Dabei ist klar: Sollte es den Bibel-Code wirklich geben, dann könnte ihn schon ein einziger fehlender Buchstabe zum Einsturz bringen.

Es gibt neben McKay noch weitere Rips-Code-Kritiker. 2003 produzierte die BBC eine Reportage, in deren Rahmen eine Wiederholung des Rips-Witztum-Versuchs durchgeführt wurde. Das Signifikanzniveau lag dieses Mal nur zwischen 0,3 und 0,5 statt bei 0,00002. Aus dem „statistischen Beweis eines Wunders“ (McKay und Kollegen) war damit eine Banalität geworden. Während Rips und Witztum bis heute an ihrer Code-Theorie festhalten, kamen die BBC-Redakteure zu einem eindeutigen Schluss:“„[Solange der wissenschaftliche Befund nicht wasserdicht ist], können Skeptiker mit Recht bezweifeln, dass die Wissenschaft die Existenz des Bibel-Codes je belegen kann.“

Literatur

Breuer, R. (1997): Der Bibel Code. Focus 23/1997.
Code ohne Zukunft. Spiegel 26/1997.
Drosnin, M. (1997): Der Bibel Code. Wilhelm Heyne Verlag, München.
Drosnin, M. (2002): Der Bibel Code II: Der Countdown. Wilhelm Heyne Verlag, München.
Drösser, C. (1997): Wer suchet, der findet. DIE ZEIT, 21.11.1997.
McKay, B.; Bar-Natan, D.; Bar-Hillel, M.; Kalai, G. (1999): Solving the Bible Code Puzzle. Statistical
Science 1999, S. 150.
Schmitt, S. (2006): Merkel: Kanzler; Saddam: Knast. NZZ Folio 1/06.
Witztum, D.; Rips, E.; Rosenberg, Y. (1994): Equidistant Letter Sequences in the Book of Genesis. Statistical Science 1994, S. 429.

 

Klaus Schmeh,

Jahrgang 1970, ist Diplom-Informatiker und arbeitet als Unternehmensberater für einen Software-Hersteller in Gelsenkirchen. Sein Schwerpunkt ist die Verschlüsselungstechnik (Kryptografie). Er ist Autor mehrerer Kryptografie- und
Wirtschaftsbücher. Seit 2003 leitet er die GWUP-Regionalgruppe Rhein-Ruhr. Seine Schwerpunkte innerhalb der GWUP sind Wahrsagerei und Astrologie sowie parawissenschaftliche Codes. 2006 erschien sein Buch „Planeten und Propheten; Ein kritischer Blick auf Wahrsagerei und Astrologie“ (Alibri Verlag). Mehr im Internet unter www.schmeh.org.
Kontakt: Zentrum für Wissenschaft und kritisches Denken, Arheilger Weg 11, 64380 Roßdorf; E-Mail: klaus@schmeh.org

Parawissenschaftliche Codes

Klaus Schmeh

Die Bibel, der Koran, das Voynich-Manuskript, die Kompositionen Bachs und die Cheops-Pyramide haben eines gemeinsam: In ihnen sind geheime Botschaften versteckt, die eine weltgeschichtliche Bedeutung haben. Das jedenfalls

behaupten verschiedene parawissenschaftliche Theorien. Einer genaueren Überprüfung halten diese Behauptungen

erwartungsgemäß jedoch nicht stand.

1 Cheops s

Ist die Cheops-Pyramide ein steinernes Lehrbuch, in dem die alten Ägypter mit außerirdischer Unterstützung die Lichtgeschwindigkeit und andere Größen durch einen Code festgehalten haben? Seitdem Skeptiker ähnliche Codes in einem Fahrrad und einem Nudellöffel nachgewiesen haben, ist diese Hypothese nicht mehr zu halten. Quelle: Public Domain

Im Jahr 1859 veröffentlichte der britische Schriftsteller und Verleger John Taylor eine scheinbar interessante Ent-deckung. Beim Betrachten der Maße der Cheops-Pyramide war ihm aufgefallen, dass deren doppelte Grundseitenlänge
(230,37 Meter im metrischen System) geteilt durch die Höhe (146,60 Meter) ziemlich genau den Wert von Pi ergab. Dies deutete auf eine bewusst in die Pyramide kodierte Größe hin.

Noch weiter ging kurze Zeit später der Astronom Charles Piazzi Smyth. Dieser vermaß die Cheops-Pyramide eigenhändig und suchte anschließend in den Größenverhältnissen nach weiteren interessanten Zahlen. Dabei gelangte er zu der Überzeugung, dass die Pyramidenbauer ein Längenmaß verwendet haben mussten, das er als „Pyramidenzoll“
bezeichnete (1 Pyramidenzoll entspricht etwa 2,54 Zentimetern). Der Umfang der Pyramidengrundfläche betrug demnach 365,2423 Hekto-Pyramidenzoll – dies entspricht der genauen Anzahl von Tagen in einem Jahr. Auch der Abstand zwischen Sonne und Erde und einige weitere Größen ließen sich auf diese Weise in der Cheops-Pyramide
nachweisen. Das bekannte Bauwerk wäre demnach nicht nur eine Grabstätte, sondern auch eine Art steinernes
Lehrbuch, in dem die alten Ägypter mit Hilfe eines „Pyramiden-Codes“ wichtige naturwissenschaftliche Erkenntnisse für
die Nachwelt festhielten.

Die scheinbaren Entdeckungen von Taylor und Smyth sorgten im viktorianischen England für einiges Aufsehen. Es gab jedoch schnell Widerspruch von Fachleuten, der seine Wirkung nicht verfehlte, und so beschäftigten sich spätestens Ende des 19. Jahrhunderts nur noch Parawissenschaftler mit dem angeblichen steinernen Lehrbuch. Bis heute gibt es einige Unentwegte, die am Pyramiden-Code festhalten. Dies zeigt beispielsweise das 2001 erstmals erschienene Buch „Der Pyramiden Code“ von Horst Bergmann und Frank Rothe (Bergmann, Rothe 2006). Dieses präsentiert eine ganze Reihe von Längen, Breiten und ähnlichen Pyramidenmesswerten, die in einfache Formeln eingesetzt bestimmte Naturkonstanten und andere bedeutende Zahlen repräsentieren sollen.

Hierbei spielt eine weitere Längeneinheit eine Rolle, die die Autoren Grundeinheit nennen, da sie angeblich dem gesamten Pyramidenfeld von Gizeh zugrunde liegt. Eine Grundeinheit entspricht 1,37 Metern und lässt sich über eine von
den Autoren angegebene Konstante aus einem Pyramidenzoll ableiten. Welche großartigen Erkenntnisse auf diese Weise entstehen, zeigt folgendes Zitat aus dem Buch: „Wir nehmen unsere inzwischen wohl bekannte Grundseitenlänge
von 168 [Grundeinheiten], wandeln sie in Meter um und ziehen von diesem Wert 1 ab. Das Ergebnis (229,2978262) multiplizieren wir mit der Hälfte des Pi-Wertes 3,14 (1,57) und bekommen als Resultat 359,9975871. Das liegt ganz dicht bei 360 Tagen.“

Da 360 Tage angeblich der Länge eines Jahrs vor der Sintflut entsprechen, glauben die Autoren nicht an einen Zufall, sondern an eine bewusst eingebaute Botschaft für die Nachwelt. Mit ähnlichen Rechenexempeln versuchen die Autoren nachzuweisen, dass die alten Ägypter auch detaillierte Kenntnisse über das Laserlicht, die DNS und zur kalten Fusion besaßen und diese in die Pyramiden hineinkodierten. Derartige Informationen hatten die Ägypter angeblich von Außerirdischen, die damals auf der Erde weilten. Offensichtlich wussten die ägyptischen Gelehrten, dass ihr Wissen verloren gehen würde (z. B. durch die anstehende Sintflut), weshalb sie in Form der Pyramide ein steinernes Lehrbuch schufen.

Para-Steganografie

Aus Sicht eines Informatikers sind die versteckten Botschaften in der Pyramide – angenommen, sie existieren tatsächlich
– ein Beispiel für Steganografie. Die Steganografie beschäftigt sich mit dem Verstecken von Nachrichten – für eine Einführung (siehe Schmeh 2008). Beispiele für Steganografie sind Geheimtinte, aus Anfangsbuchstaben  zusammengesetzte Botschaften oder eben kodierte Nachrichten in Gegenständen.

Auch viele Zauberkünstler arbeiten mit steganografischen Methoden – so kann beispielsweise ein Komplize im
Publikum dem Magier auf der Bühne durch eine unauffällige Geste den Wert einer bestimmten Karte übermitteln. Falschspieler nutzen oft ähnliche Mittel.

Nicht zu verwechseln ist die Steganografie mit der Kryptografie (Kryptologie). Letztere befasst sich mit dem Verschlüsseln von Nachrichten und ist deutlich bekannter. Während es bei der Steganografie also darum geht, die Existenz einer Nachricht zu verbergen, hat die Kryptografie das Ziel, eine Nachricht unlesbar zu machen.

Wie das Beispiel des Pyramiden-Codes zeigt, finden eifrige Zeitgenossen manchmal auch steganografische Nachrichten,
wo – nach wissenschaftlicher Mehrheitsmeinung – gar keine sind. Der nach meiner Kenntnis erste, der sich systematisch und kritisch mit diesem Thema beschäftigte, ist der US-Historiker David Kahn (*1930). Das Kapitel „The Pathology of Cryptology“ („Die Krankheitslehre der Kryptologie”) in Kahns Standardwerk „The Codebreakers“ stellt ein paar Beispiele vor und macht deutlich, dass diese allesamt äußerst fragwürdig sind (Kahn 1996). Vergleichbare Veröffentlichungen
von anderen Autoren sind mir nicht bekannt.

Umso interessanter war es für mich – als Kryptografie-Fachmann und Skeptiker –, den Faden von Kahn aufzugreifen und neben einer Buchveröffentlichung (Schmeh 2008) einen Vortrag für die GWUP-Konferenz 2009 daraus zu konzipieren. Dabei entschied ich mich, den von Kahn eingeführten Begriff der „Krankheitslehre der Kryptografie“ nicht zu verwenden, sondern stattdessen „Parasteganografie“ oder „Para-Codes“ zu sagen. Der erstgenannte Begriff ist sicherlich sachgerechter, während „Para-Code“ der Tatsache Rechnung trägt, dass sich für parasteganografische Phänomene
in den letzten Jahren der publikumswirksame Begriff „Code“ eingebürgert hat.

Der Pyramiden-Code ist ein solcher Para-Code. Und er ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Vertreter. Typisch ist beispielsweise, dass sich der Code in einem bedeutenden Objekt (der Cheops-Pyramide und teilweise in anderen ägyptischen Pyramiden) befindet. Zudem hat der Pyramiden-Code die typische Eigenschaft, dass er einen sensationellen
Inhalt hat – wer hätte geahnt, dass die alten Ägypter schon das Laserlicht kannten? Und wie andere Codes dieser Art wurde auch der Pyramiden-Code im Laufe der Zeit immer spektakulärer (am Anfang ging es um die Zahl Pi, später um Besucher aus dem Weltall). Steganografische Botschaften mit weniger bewegendem Inhalt undin weniger bedeutenden Objekten sind dagegen nur selten Gegenstand parawissenschaftlicher Diskussionen.

Warum die Code-Entdeckungen in der Cheops-Pyramide von Wissenschaftlern nicht anerkannt werden? Es gibt schlichtweg zu viele Möglichkeiten, durch Zufall auf auffällige Zahlenwerte zu stoßen.

Auch für Para-Codes gilt die unter Skeptikern wohlbekannte Tatsache, dass sich die Nichtexistenz einer Sache nicht
belegen lässt. Jede Höhe und Breite innerhalb einer Pyramide könnte von den Erbauern bewusst gewählt worden
sein – es ist unmöglich, dies zu widerlegen. Immerhin gibt es eine wirkungsvolle Methode, mit der man einen
solchen Para-Code als unplausibel entlarven kann. Diese Methode will ich als „absurden Vergleichscode“ bezeichnen.

Einen solchen gibt es in zwei Varianten: Entweder man weist nach, dass sich ähnliche Codes auch in Objekten finden,
wo sie selbst den Code-Anhängern absurd erscheinen (beispielsweise in einem Fahrrad oder einem Nudellöffel). Oder
man weist nach, dass sich im betrachteten Objekt Codes befinden, deren Inhalt völlig absurd ist (beispielsweise die
Aussage, dass der Code gar nicht existiert).

Der bekannteste absurde Vergleichscode zum Pyramiden-Code stammt von dem niederländischen Physiker und Skeptiker Cornelis de Jager. Dieser veröffentlichte 1992 im Skeptical Inquirer den Artikel „Adventures in science and cyclosophy“ (Jager 1992), der ein Jahr später zur Titelgeschichte des von Gero von Randow herausgegebenen Buchs „Mein paranormales Fahrrad“ wurde (Randow 1998). Im Rahmen seines Experiments untersuchte de Jager vier
Parameter eines holländischen Fahrrades (Pedalweg sowie die Durchmesser des Vorderrads, der Lampe und
der Klingel) und zeigte, dass sich daraus mit einfachen mathematischen Formeln etliche physikalische
Konstanten und astronomische Werte errechnen lassen.

Beispielsweise erhielt de Jager den Abstand zwischen Erde und Sonne (in Hundert Millionen Kilometern) mittelsfolgender Formel: Wurzel(Pedalweg) x Kubikwurzel(Klingel)/Lampe. Ähnliche Berechnungen führten zum Massenverhältnis
von Proton und Elektron, der Gravitationskonstante, der Feinstrukturkonstante und der Lichtgeschwindigkeit.

Etwa zur gleichen Zeit entwickelten auch die beiden Hamburger Wissenschaftler Hans-Peter Beck-Bornholdt und Hans-
Hermann Dubben einen absurden Vergleichcode (dieser war nicht speziell auf den Pyramiden-Code gemünzt, passt aber dennoch recht gut dazu) (Bornholdt, Dubben 2006). Die beiden untersuchten einen Nudellöffel, indem sie zunächst
fünf Kenngrößen (z. B. Länge und Breite) maßen und diese mit den Buchstaben A, B, C, D und E bezeichneten. Anschließend rechneten sie unter anderem vor, dass die Formel ACD3 die Lichtgeschwindigkeit ergab, während CD2/A der Länge des Euro-Tunnels entsprach. Die jeweiligen Abweichungen lagen oft deutlich unter einem Prozent. Demnach müsste
also auch der gewöhnliche Nudellöffel ein Lehrbuch sein.

Sowohl Cornelis de Jager als auch Beck-Bornholdt und Dubben waren mit einem einfachen Trick auf die scheinbaren
Codes gestoßen. Sie stellten zunächst eine Formel der Form Aa·Bb·Cc·Dd·Ee = Konstante auf. Während die Variablen A
bis E vom jeweiligen Gegenstand kommen, lässt man a bis e variieren – beispielsweise von -5 bis 5 zuzüglich der
Werte ½ und -½ (man beachte, dass X½ der Wurzel von X entspricht und dass X0=1 gilt). So kommt man auf 13 Belegungen jedes Exponenten, was 135 und damit etwa 370 000 entspricht.

Den Ergebnissen stehen mindestens 100 mögliche Konstanten (z. B. Lichtgeschwindigkeit) gegenüber. Es versteht sich von selbst, dass angesichts dieser gewaltigen Menge an Varianten einige Zufallstreffer unvermeidbar sind. Mit Computer-
Unterstützung lassen sich diese leicht ermitteln.

Dadurch wird auch klar, warum die Code-Entdeckungen in der Cheops-Pyramide von Statistikern (und damit auch
von anderen Wissenschaftlern) nicht anerkannt werden. Es gibt schlichtweg zu viele Möglichkeiten, durch Zufall
auf auffällige Zahlenwerte zu stoßen.

Unabhängig davon ist es nicht gerade einfach, die korrekten Pyramidenmaße genau zu ermitteln – vor allem, weil die
Cheops-Pyramide ursprünglich mit einer zusätzlichen Steinschicht überzogen war, die zwischenzeitlich von Steinräubern
abgetragen wurde. Dass die Zahl Pi in der Pyramide vorkommt, liegt vermutlich nicht an einem Code, sondern daran,
dass die Ägypter aus bautechnischen Gründen ein Verhältnis von 11 zu 7 zwischen Höhe und Breite wählten – dies entspricht zufälligerweise etwa der Hälfte von Pi.

Shakespeare oder Bacon?

Der Pyramiden-Code ist das älteste mir bekannte Beispiel für einen  parawissenschaftlichen Code. Das einzige
ist er beileibe nicht. Bereits etwa 20 Jahre nach John Taylor fand der US-Politiker und Schriftsteller Ignatius Donnelly (1831-1901) einen vermeintlichen Code in einigen Werken von William Shakespeare. Damals wie heute glaubten manche Menschen, dass die Shakespeare zugeschriebenen Werke in Wirklichkeit von dessen Zeitgenossen Francis
Bacon verfasst wurden.

2 Francis Bacon s

Ist Francis Bacon der wahre Shakespeare? Seit 150 Jahren suchen einige seiner Anhänger nach versteckten Botschaften in Shakespeares Werken, die diese Vermutung belegen sollen. Die seriöse Wissenschaft hat sich von diesem Thema längst verabschiedet.

 

Da dieser nicht nur ein bedeutender Philosoph war, sondern sich auch mit Verschlüsselung beschäftigte, kam Donnelly
auf eine kühne Idee: Bacon, so seine Vermutung, war nicht nur der wahre Shakespeare-Autor, sondern hatte zudem
Hinweise auf seine Urheberschaft als Code in seine Texte geschmuggelt. Nach mehrmonatigen Recherchen verkündete
Donnelly im Jahr 1884, den gesuchten Bacon-Code gefunden zu haben.

Dies erregte einiges Aufsehen. Allerdings veröffentlichte er erst drei Jahre später Details zu seiner Entdeckung, und
zwar in Form des Buchs „The Great Cryptogram“ (Donnelly 1997). Wer sich dieses zu Gemüte führte, musste sich
durch zahlreiche umständliche Berechnungen kämpfen, die größtenteils recht willkürlich wirkten.

Donnelly nahm beispielsweise eine Zahl und zog eine andere davon ab, um anschließend die Anzahl der kursiv geschriebenen Wörter auf einer Shakespeare-Seite abzuziehen. Zusätzlich subtrahierte er teilweise die Anzahl der Wörter in Klammern und die mit einem Bindestrich versehenen Wörter. Am Ende ergaben sich dabei eine Seitennummer und die Position eines Worts darauf. Mit solchen Rechnereien kam Donnelly beispielsweise auf die Nachrichten „Skaks’t spur never writ a word of them“ und „It is even thought here that your cousin of St. Alban writes them”. Dies bedeutete zusammengenommen mit etwas Fantasie: „Shakespeare schrieb kein Wort davon. Es könnte sogar sein, dass Dein Cousin von St. Alban [Bacon trug den Titel Viscount St. Alban] sie schreibt.“

Zu Donnellys ersten Kritikern gehörte dessen Landsmann Joseph Gilpin Pyle. Dieser veröffentlichte 1888 einen absurden
Vergleichscode in einem Büchlein, das er in Anspielung an die Vorlage „The Little Cryptogram“ nannte (Pyle 1888). Mit einer ähnlichen Methode wie Donnelly fand Pyle in “Hamlet” folgenden Text: „Don nill he [Donnelly], the author, politician and mountebanke, will worke out the secret of this play.” („Donnelly, der Autor, Politiker und Scharlatan, wird das Geheimnis dieses Stücks herausfinden.“)

Die Arbeiten Donnellys galten somit schon früh als pseudowissenschaftlich, zogen aber trotzdem zahlreiche Nachahmer an. Der deutschstämmigen US-Amerikaner Walter Conrad Ahrensberg wurde beispielsweise bei der Code-Suche in folgenden Zeilen aus „Hamlet“ fündig: “Costly thy habit as thy purse can buy; But not exprest in fancie; rich, not
gawdie: For the Apparell oft proclaimes the man And they in France of the best ranck and station”. (Akt I, Szene 3) Die Anfangsbuchstaben Co, B, F und An lassen sich zu „F. Bacon“ zusammensetzen. Angesichts der veränderten
Reihenfolge und der willkürlichen Buchstabenwahl kann man jedoch kaum von einem bewusst eingefügten Code ausgehen.

Wie andere Para-Codes wurde also auch der Shakespeare-Code mit der Zeit immer spektakulärer.

Gleiches gilt auch für die „Entdeckungen“ des US-amerikanischen Arztes Orville Owen (1854 – 1924). Dieser suchte
nicht nur bei Shakespeare, sondern auch bei Bacon und einigen weiteren Autoren der damaligen Zeit nach versteckten
Botschaften. Dabei fand er einen vermeintlichen Code, der sich über etwa 1000 Buchseiten der unterschiedlichen
Werke erstreckte. Die entsprechenden Seiten mit seinen Markierungen klebte er zu einem etwa einen Meter breiten
Streifen zusammen, den er zu einer Schriftrolle beachtlicher Größe zusammenrollte. Der von Owen entdeckte Code
besagte nicht nur, dass Bacon der wahre Autor der untersuchten Werke war, sondern nannte auch zahlreiche politische
Details aus der Shakespeare-Zeit. Wie andere Para-Codes wurde also auch der Shakespeare-Code mit der Zeit immer
spektakulärer.

Für ernsthafte Wissenschaftler ist die Frage nach dem Shakespeare/Bacon-Code spätestens seit 1957 geklärt. Damals
veröffentlichten die beiden (miteinander verheirateten) Verschlüsselungsexperten William und Elizebeth Friedman ihr Buch „The Shakespearian ciphers examined“, in dem sie alle ihnen bekannten Code-Theorien auf den Prüfstand stellten (Friedman 1957). In allen Fällen verlief die Überprüfung negativ, was die beiden Autoren schlüssig und gut verständlich darlegten. Da auch andere Argumente (z. B. Stilanalysen) eindeutig gegen Bacon sprechen, kann man den Shakespeare-Code inzwischen getrost ad acta legen.

Weitere Para-Codes

Geradezu prädestiniert für einen versteckten Code sind die Schriften des Nostradamus. Der heute noch populäre Renaissance-Astrologe hinterließ eine Vielzahl von Prognosen in Form von Gedichten (Centurien), in denen es von Wortspielen, Buchstabenspielen, Andeutungen und Mehrdeutigkeiten nur so wimmelt. Ohne Zweifel ist es möglich, in einem solchen Gewirr unauffällig Nachrichten zu verstecken.

Aber gibt es einen solchen Code tatsächlich? Laut GWUP-Pressesprecher Bernd Harder „erscheint jedes Jahr mindestens ein neues Nostradamus-Buch, das im Untertitel die ’sensationelle Entschlüsselung‘ der Centurien verheißt.“ (Harder 2000). Selbstverständlich sind die Aussagen der bisher „entdeckten“ Codes mindestens genauso spektakulär wie das, was Nostradamus-Deuter ohnehin schon in die unverständlichen Vierzeiler hineininterpretieren.

Der bekannteste Entdecker eines Nostradamus-Codes ist der Buchautor und Hobby-Historiker Manfred Dimde. Dessen
Theorie überprüfte der inzwischen leiderverstorbene Mathematiker und Skeptiker Volker Guiard, der Mitglied der GWUP
war (Guiard 1998). Eine von Dimdes Methoden nennt sich „das innere Wort“. Diese Methode sieht vor, dass man einen Satz nimmt, die Wortzwischenräume entfernt und (nach kaum nachvollziehbaren Regeln) ein paar Buchstaben austauscht. Anschließend nimmt man Teile dieser Zeichenfolge und schreibt ihnen eine halbwegs passende Bedeutung zu.

Gemäß dieser Methode wird aus „M. Nostradamus“ die Folge MNOSTRADAMUS. Darin sind Wörter wie M (tausend), NO (schwimmen), STRA (Einsturz, Haufen), MUS (Maus) oder DAM (Frau, Dame) enthalten. Die jeweilige Bedeutung ist nicht gerade zwingend, auch wenn M das lateinische Wort für tausend ist und NO auf Lateinisch „ich schwimme“ heißt. Nimmt man es mit den Wortübergängen nicht so genau und lässt ein paar Buchstaben weg, dann kommt ein Satz wie der folgende zustande: M NO NOST OS S ST OSTR T AD R RAD. Dies heißt (laut Dimde): „Tausend Worte fließen aus dem Mund. Die Sequenz ohne Zeit ist wie eine Muschel. Die Zeit füge zur Weissagung. Strahle.“ Es dürfte klar sein, dass man auf diese Weise eine beliebige Zahl unsinniger Sätze produzieren kann, die sich wiederum auf unterschiedliche
Weise interpretieren lassen.

Die anderen von Dimde vorgeschlagenen Entschlüsselungsmethoden geben auch nicht mehr her. So gesehen verwundert es kaum, dass Volker Guiard Manfred Dimde offen als Scharlatan und dessen Theorie als Aprilscherz bezeichnete.

Kaum mehr als ein Aprilscherz sind meist auch die parawissenschaftlichen Codes, die in folgenden Objekten gefunden wurden:

Voynich-Manuskript

Das Voynich-Manuskript, das nach seinem Entdecker Wilfried Voynich benannt ist, gilt für
viele als das rätselhafteste Buch der Welt. Das mutmaßlich etwa 500 Jahre alte Werk ist in einer Schrift verfasst, die trotz zahlreicher Versuche bisher niemand entziffern konnte (siehe dazu auch Skeptiker 2/2008, S. 64-74, sowie den Beitrag S. 29-31 in Skeptiker 1/2010). Auch auf die zahlreichen Bilder darin konnte sich bisher niemand einen Reim machen. Ist die wahre Bedeutung des unverständlichen Buchs vielleicht in einem Code versteckt? Bereits zweimal vermeldeten parawissenschaftlich orientierte Hobby-Forscher die Entdeckung von verborgenen Nachrichten im Voynich-Manuskript.

3 Voynich s

Das Voynich-Manuskript hat bisher noch niemand entschlüsselt. Auch die angeblichen versteckten Botschaften, die darin entdeckt wurden, helfen nicht weiter. Höchstwahrscheinlich existieren sie gar nicht.
Quelle: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University

 

Den ersten Fund präsentierte bereits 1921 der Philosophie-Professor William Newbold (1865 – 1926). Er hielt winzig kleine Teile der Voynich-Schriftzeichen für Buchstaben einer griechischen Kurzschrift (Newbold 1918). Auf diese Weise konnte Newbold scheinbar einige der im Manuskript abgebildeten Gegenstände erklären – er hielt sie für Eierstöcke,
Zellstrukturen, Spermien und den Großen Andromedanebel. Da diese Objekte nur mit einem guten Mikroskop bzw.
Teleskop erkennbar sind, wäre diese Entdeckung angesichts des vermuteten Alters des Manuskripts eine Sensation
gewesen. Doch praktisch alle Experten, die Newbolds Arbeit lasen, hielten sie für Humbug.

Der zweite Voynich-Forscher, der im Voynich-Manuskript steganografische Botschaften gefunden haben will, ist der Buchautor Erhard Landmann. Die zahlreichen Sterne, die im Manuskript abgebildet sind, enthalten seiner Meinung nach mikroskopisch kleine Schriftzüge (Landmann 2007). Dies erkannte er, obwohl ihm keine Abbildung des Manuskripts mit ausreichender Vergrößerung zur Verfügung stand. Daher hat Landmann bis heute auch nicht verraten, welchen Inhalt die
derart verborgenen Botschaften haben.

Nazca-Scharrbilder

Bereits mit mehreren unterschiedlichen Codes wurden die berühmten Scharrbilder von Nazca
(Peru) in Verbindung gebracht. Es handelt sich dabei um oft mehrere Hektar große Liniengebilde, die nur aus der
Luft als Gesamtkunstwerk zu erkennen sind. Einige Bilder stellen Tiere (z. B. Affen und Kolibris), andere Menschen
dar. Bekannt sind die Nazca-Scharrbilder nicht zuletzt aus der Präastronautik – dort ist die Theorie populär, es handle sich um Markierungen für Außerirdische, die aus ihren Fluggeräten einen guten Blick auf die Scharrbilder haben dürften. Andere interpretierten irgendwelche Codes in die Bilder hinein. Demnach könnten die Bilder unter anderem Teil einer überdimensionalen Landkarte, eine Art Riesen-Visitenkarte einer vergangenen Kultur oder eine Sternkarte sein (Anonym 2009).

Bach-Kompositionen

Der Theologe und Musikwissenschaftler Friedrich Smend (1893 – 1980) fand einen angeblichen
Code bei Johann Sebastian Bach (Tatlow 1991). Er ging davon aus, dass der bekannte Komponist ein einfaches Zahlenalphabet nutzte (A=1, B=2, C=3 usw., wobei I und J sowie U und V nicht unterschieden werden).

Wie Bach diese Zahlen verwendete, zeigt angeblich der „Canon a 4 voce“, den der Komponist 1713 für einen gewissen Johann Gottfried Walther geschrieben hat. Wandelt man Bachs Namen in Zahlen um und zählt diese zusammen, dann ergibt sich: B+A+C+H = 2+1+3+8 = 14. Der Name Walther liefert folgendes Ergebnis: W+A+L+T+H+E+R = 21+1+11+19+8+5+17 = 82. Da der besagte Kanon 14 Taktstriche und 82 Noten hat, glaubte Smend nicht an einen Zufall. Auch wenn Smend in seinen Veröffentlichungen zahlreiche weitere Beispiele nennt, erzielte er keine größere Anerkennung mit seinen Forschungen.

Deutlich spektakulärer als Smends Bach-Code ist eine angebliche Entdeckung der beiden Autoren Kees van
Houten und Marinus Kasbergen (Houten, Kasbergen 1986). Sie behaupten, dass Bach sein eigenes Geburts- und Sterbedatum in seine Werke einkodiert hat.

Turiner Grabtuch

1997 fanden die Wissenschaftler André Marion und Anne-Laure Courage mit einer Computeranalyse
angebliche Inschriften auf der berühmten Reliquie (Marion 1998). Es handelt sich dabei um etwa einen Zentimeter
große griechische und lateinische Buchstaben. Untypischerweise revolutioniert dieser Fund jedoch nicht die Weltgeschichte, sondern ließ lediglich einige belanglose Wörter zum Vorschein kommen. Bisher gibt es noch keine Bestätigung durch weitere Untersuchungen.

4 Grabtuch s

Während ich an diesem Artikel schrieb (im Juli 2009), gab es Berichte über weitere Buchstabenfunde (Burger 2009).
Dieses Mal soll auf Aramäisch der Satz „Wir haben gefunden” auf dem Tuch aufgetaucht sein. Da es erneut nicht um
eine weltbewegende Botschaft geht, sind die Chancen, dass ein echter Code vorliegt, sicherlich größer als in den anderen
in diesem Artikel betrachteten Fälle.

Diese Liste ließe sich noch deutlich verlängern. Unter anderem „entdeckten“ fleißige Hobby-Steganografen geheime Botschaften in Kornkreisen, Stonehenge, der Kathedrale von Chartres, den Werken von Aristoteles, Shakespeares Grabstein, dem Roman „Gullivers Reisen“ und dem Comic „Dick Tracy“. Keine dieser Behauptungen konnte sich durchsetzen.

Bibel-Code und Koran-Code

Der mit Abstand bekannteste Para-Code findet sich (angeblich) in der Bibel. Dieser Bibel-Code geht auf Arbeiten des
israelischen Mathematikers Eliyahu Rips und seines Mitarbeiters Doron Witztum zurück. Die beiden ordneten den Text
der Thora (Altes Testament) zunächst in so genannten äquidistanten Buchstabenfolgen an. Diese entstehen, indem
man beispielsweise nur jeden fünften oder zehnten Buchstaben berücksichtigt und Wortzwischenräume sowie Satzzeichen
ignoriert. In den entstandenen Buchstabenfolgen suchten Witztum und Rips nach den Namen und Lebensdaten bedeutender jüdischer Persönlichkeiten.

Tatsächlich förderte die Suche deutlich mehr Funde zutage, als die Wahrscheinlichkeit erwarten ließ. Wissenschaftliche
Erklärungen schienen zu versagen, da alle Personen erst nach Niederschrift der Thora lebten. 1994 veröffentlichten die
Forscher ihre Arbeit in der renommierten Fachzeitschrift Statistical Science (Witztum, Rips, Rosenberg 1994).

Auch der Bibel-Code hat die Eigenschaft, dass er mit der Zeit spektakulärer wurde. Von der Rips-Veröffentlichung angeregt entwickelte der Journalist Michael Drosnin seine eigene Code-Version. Mit einer grob vereinfachten Variante von Rips’ Methode suchte er in der Thora nach Prophezeiungen zur Weltgeschichte. Tatsächlich fand er verschiedene Ereignisse, die sich auf Persönlichkeiten wie Winston Churchill, Adolf Hitler und Jitzchak Rabin bezogen. Seine Ergebnisse
veröffentlichte Drosnin 1997 in einem Buch namens „The Bible Code“ (dt. „Der Bibel Code“) (Drosnin 1997), ein zweiter Band erschien 2002 (Drosnin 2002). Im Gegensatz zu Rips und Witztum verzichtete Drosnin jedoch auf eine statistische Kontrolle und machte nur sehr spärliche Angaben zu seinen Suchexperimenten.

Codierte Vorraussagen in der Bibel? Brendan McKay fand „Prophezeiungen“ in Melvilles „Moby Dick“ während GWUP-Mitglied Wolfgang Hund mit einem Rotkäppchen-Code antwortete.

Drosnins Buch rief schnell einige Kritiker auf den Plan, die teilweise mit absurden Vergleichscodes reagierten. Brendan
McKay fand beispielsweise „Prophezeiungen“ in Herman Melvilles „Moby Dick“ (McKay, Bar-Natan, Bar-Hillel, Kalai 1999),
während GWUP-Mitglied Wolfgang Hund mit einem Rotkäppchen-Code antwortete.

Doch nicht nur Drosnins Bibel-Code, sondern auch die Ergebnisse von Rips und Witztum ernteten Widerspruch. Demnach
haben die beiden bei der Auswahl der jüdischen Persönlichkeiten, der Schreibeweise der Namen und der Erstellung des statistischen Modells jeweils die Möglichkeit mit der höchsten Trefferquote ausgewählt. Aus einer der vermeintlich bedeutendsten Entdeckungen der Wissenschaftsgeschichte ist somit inzwischen eine Banalität geworden, die unter Wissenschaftlern kaum noch eine Bedeutung hat.

Nach dem Erfolg des Bibel-Codes ließ ein Koran-Code nicht lange auf sich warten. 2004 veröffentlichte ein gewisser Adel
Awadalla ein Buch namens „The Mystifying Codes of The Holy Quran“, in dem er entsprechende Entdeckungen präsentierte (Awadalla 2004). Mit Hilfe des Codes soll es möglich sein, verschiedenste Ereignisse der Weltgeschichte aus
dem Koran herauszulesen – insbesondere solche, die sich erst lange nach dessen Entstehung ereignet haben.

Besonders schlüssig wirkt Awadallas Vorgehensweise jedoch nicht. Er ordnet jedem Buchstaben des arabischen Alphabets
eine Zahl zwischen 1 und 1000 zu (dies ist nicht seine Erfindung, sondern entspricht einer alten arabischen Tradition)
und zieht aus diesen Zahlen allerlei Schlüsse. In einer Koran-Sure ermittelt Awadalla beispielsweise 397 als Summe
der Buchstabenwerte des ersten Verses. Dies entspricht (laut Awadalla) der Anzahl der Jahre zwischen dem Beginn des
Aufenthalts der Juden in Ägypten und der Offenbarung der Thora. Im zweiten Vers ergibt sich die Summe 1224. Dies entspricht angeblich der Zeitspanne zwischen der Thora-Offenbarung und dem Beginn des Christentums im Jahr 11 n. Chr. Im dritten Vers ergibt sich 3121. Dies ist die Zeitspanne zwischen dem Beginn des Judentums und dem Ende des Osmanischen Reichs im Jahr 1908.

Allerdings ist es völlig willkürlich, den Beginn des Judentums auf das Jahr 1213 v. Chr. festzulegen. Das Jahr 11, in
dem das Christentum entstanden sein soll, muss man sogar als falsch bezeichnen, da Jesus von Nazareth erst um das Jahr 30 öffentlich auftrat. Warum Awadalla das Jahr 1908 als Ende des Osmanischen Reichs nimmt (und nicht etwa das Jahr 1923), ist ebenfalls nicht nachvollziehbar.

Angesichts dieser Fehler brauchen wir uns auch bezüglich der diffusen Katastrophen (es geht um Krieg und um „besondere Bestrafungen“), die Awadalla für die kommenden Jahre aus dem Koran herausliest, keine großen Sorgen zu machen.

Code-Fieber

Es gibt wohl nur einen Para-Code, der an Popularität annähernd mit dem Bibel-Code aufnehmen kann: den Da-Vinci-Code. Bekannt wurde dieser durch den gleichnamigen Roman von Dan Brown, der auf Deutsch unter dem Titel „Sakrileg“ erschienen ist (Brown 2004). Der Da-Vinci-Code ist angeblich im Gemälde „Abendmahl“ von Leonardo da Vinci versteckt. Allerdings geht es hierbei nicht um eine in Buchstaben kodierte Nachricht, sondern um verschiedene Gesten und Anordnungen, die auf dem Gemälde zu erkennen sind und angeblich eine geheime Bedeutung haben.

6 Abendmahl s

War Jesus mit Maria-Magdalena verheiratet und wollte über sie den christlichen Glauben verbreiten? „Das Abendmahl“ von Leonardo da Vinci eignet sich nicht als Indiz für diese abenteuerliche Theorie.

 

Hintergrund des Da-Vinci-Codes ist eine Verschwörungstheorie. Diese besagt, dass Jesus von Nazareth mit der
in der Bibel mehrfach erwähnten Maria Magdalena verheiratet war und diese zur Verbreitung des christlichen Glaubens
auserwählt hatte. Diese wahren Absichten Jesu sind jedoch heute angeblich nur noch einer kleinen Gruppe von Eingeweihten bekannt – der Bruderschaft von Sion.

So schön die Geschichte um den „Da-Vinci-Code“ auch ist – sie ist durch nichts belegt.

Zu dieser Bruderschaft soll auch Leonardo da Vinci gehört haben. Als er sein berühmtes Abendmahl malte, schmuggelte er angeblich ein paar Hinweise auf sein geheimes Wissen in das Bild. So soll die Figur auf dem Bild rechts neben Jesus nicht den Apostel Johannes, sondern Maria Magdalena darstellen (tatsächlich hat die abgebildete Person weibliche Züge). Der Zwischenraum zwischen den beiden hat die Form eines mit der Spitze nach unten zeigenden Dreiecks, was den Mutterschoß und das göttlich Weibliche symbolisieren soll. Die Körperhaltung der beiden entspricht ebenfalls der V-Form. Außerdem fehlt der Kelch auf dem Bild, was in den Augen der Verschwörungstheoretiker daran liegt, dass Maria Magdalena selbst der Heilige Gral ist.

Doch so schön diese Geschichte auch ist – sie ist durch nichts belegt. Die Ehe Jesu mit Maria Magdalena ist reine Spekulation und die Bruderschaft von Sion hat vermutlich nie in der beschriebenen Form existiert. Kunsthistoriker
weisen außerdem darauf hin, dass der Apostel Johannes auf vielen Gemälden mit jugendlichen Zügen dargestellt wird,
da es sich der Überlieferung nach um den jüngsten Apostel handelte.

Dass Johannes auf dem Bild wie eine Frau aussieht, kann einfach daran liegen, dass da Vinci es mit der Jugendlichkeit etwas übertrieben hat. Vielleicht wollte der geniale Künstler auch jemanden ärgern, oder vielleicht war sein Modell eine Frau. Eine Verbindung zu Maria Magdalena, der Bruderschaft von Sion und irgendwelchen Verschwörungen ist aus dem Bild allerdings mit dem besten Willen nicht herauszulesen.

Durch den Bibel-Code und den Da-Vinci-Code ist der Begriff „Code“ in den letzten Jahren zu einem Modewort in
den Populär- und Parawissenschaften geworden. Das anfangs erwähnte Buch „Der Pyramiden Code“ ist ein Beleg dafür. Bücher namens „Nostradamus-Code“ oder mit einem ähnlichen Titel sind gleich mehrere auf dem Markt. Dabei wird das Wort „Code“ häufig auch für Dinge verwendet, die nichts mit einem Code zu tun haben. So berichtete die deutsche parawissenschaftliche Zeitschrift Wunderwelt Wissen in ihrer Aprilausgabe des Jahrs 2008 über einen „Geheimcode der Smaragdtafel“ (Schwabenthan 2008). Der zugehörige Artikel ist deutlich seriöser, als es die Ankündigung auf der Titelseite vermuten lässt, und weiß nichts von einem Geheimcode.

Einen ähnlichen Code-Missbrauch betrieb ein deutscher Verlag im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten
Voynich-Manuskript. Ein durchaus seriöses Buch zum Voynich-Manuskript stammt von Rob Churchill und Gerry
Kennedy. Es heißt im Original schlicht „The Voynich Manuscript“. Dem Verlag Rogner & Bernhard fiel für die deutsche
Übersetzung kein besserer Titel ein als „Der Voynich-Code“ (Kennedy, Churchill 2005). So erhielt ein lesenswertes
Buch unnötigerweise einen pseudowissenschaftlichen Anstrich. Der Titel mag zwar verkaufsfördernd sein, erinnert
aber in ärgerlicher Form an den Bibel-Code und den Da-Vinci-Code.

Ohne das Wort „Code“ im Namen kommt dagegen das Buch „Das letzte Geheimnis“ von Ian Caldwell und Dustin Thomason aus (Caldwell, Thomason 2006). Darin geht es um versteckte Botschaften in dem berühmten und rätselhaften
Roman „Hypnerotomachia Poliphili“ aus dem 15. Jahrhundert. Ist „Das letzte Geheimnis“ ein weiterer Beitrag zur geistigen Umweltverschmutzung? Nein. Es handelt sich um einen Roman – ohne den Anspruch, authentisch zu sein.

7 Hypnerotomachia s

Der Renaissance-Roman „Hypnerotomachia Poliphili“enthält anerkanntermaßen einen versteckten Code. Dieser ist jedoch
deutlich unspektakulärer als die meisten Para-Codes. Er weist auf den Autor des anonym veröffentlichten Buchs hin.

 

Echte Codes

Angesichts der vielen zweifelhaften Codes in diesem Artikel soll nicht verschwiegen werden, dass es auch Code-Funde in bedeutenden Objekten gibt, die anerkanntermaßen echt sind oder zumindest plausibel erscheinen. Hier eine Auswahl:

  • Der im Artikel erwähnte Renaissance-Roman „Hypnerotomachia Poliphili“ enthält ein so genanntes Akrostichon (so nennt man einen Code, der sich ergibt, wenn man jeweils die ersten Buchstaben von Zeilen oder Wörtern aneinanderreiht). Dieses lautet: POLIAM FRANCISCVS COLVMNA PERAMAVIT (Francesco Colonna hat Polia sehr geliebt). Diese versteckte Botschaft könnte ein Hinweis auf den Autor des anonym veröffentlichten Buchs
    sein.
  • Mehrere Kornkreise enthalten unbestrittenermaßen einen Code. Ein 2003 in Großbritannien aufgetauchtes
    Exemplar war beispielsweise mit einer (belanglosen) Nachricht im ASCII-Format versehen. Ein Kornkreis aus dem
    Jahr 2008 enthält Markierungen, die die Zahl Pi im Dezimalsystem repräsentieren. Ist dies der Beweis
    dafür, das Außerirdische das Dezimalsystem nutzen und den ASCII-Standard kennen?
  • Der Berliner Fernsehturm ist 365 Meter hoch. Dies entspricht der Anzahl der Tage im Jahr. Falls unsere
    Nachkommen oder Besucher aus dem Weltall das metrische System kennen, werden sie das Gebäude
    vielleicht als steinernes Lehrbuch betrachten.

 

Literatur

Anonym (2009): Nazca Lines Theories. https://www.bibliotecapleyades.net/nazca/esp_lineas_nazca_2.htm
(Zugriff am 04.01.2010)
Awadalla, A. (2004): The Mystifying Codes of The Holy Quran. Trafford Publishing, Victoria.
Beck-Bornholdt, H. P.; Dubben, H.-H. (2006): Der Hund, der Eier legt. Erkennen von Fehlinformation durch
Querdenken. Rowohlt, Reinbek.
Bergmann, H.; Rothe, F. (2006): Der Pyramiden Code: Das Rätsel ist gelöst. Tosa, Wien.
Brown, D. (2004): Sakrileg. Lübbe, Bergisch Gladbach.
Burger, M. (2009): Zeichen auf Grabtuch entschlüsselt. Kurier (Online-Ausgabe), 22.07.2009.
Caldwell, I.; Thomason, D. (2006): Das letzte Geheimnis. Lübbe, Bergisch Gladbach.
Donnelly, I. (1997): The Great Cryptogram: Francis Bacon‘s Cipher in the So-Called Shakespeare Plays. Kessinger Publishing, Whitefish (Original von 1887).
Drosnin, M. (1997): Der Bibel Code. Heyne, München.
Drosnin, M. (2002): Der Bibel Code 2. Der Countdown. Heyne, München.
Friedman, W.; Friedman, E. (1957): The Shakespearian ciphers examined. Cambridge University Press, Cambridge.
Guiard, V. (1998): Die seltsame Welt des Nostradamus-Deuters Manfred Dimde. In: Shermer, M.; Christig, B.; Traynor, L.: Endzeittaumel. Alibri, Aschaffenburg
Harder, B. (2000): Nostradamus: Ein Mythos wird entschlüsselt. Alibri Verlag, Aschaffenburg.
Houten, K. van; Kasbergen, M. (1986): Bach en het getal. Walburg Pers, Zutphen.
Jager, C. de (1992): Adventures in science and cyclosophy. Skeptical Inquirer Winter/1992.
Junker, T.; Paul, S. (2009): Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. C. H. Beck, München.
Kahn, D. (1996): The Codebreakers. Scribner, New York. Kennedy, K.; Churchill, R. (2005): Der Voynich-Code.
Das Buch, das niemand lesen kann. Rogner & Bernhard, Berlin.
Landmann, E. (2007): Das sogenannte Voynich-Manuskript. Magazin 2000plus; Alte Kulturen Spezial.
Marion, A. (1998): Discovery of inscriptions on the shroud of Turin by digital image processing. In: Optical Engineering.
37, 1998.
McKay, B.; Bar-Natan, D.; Bar-Hillel, M.; Kalai, G. (1999): Solving the Bible Code Puzzle. Statistical Science 1999.
Newbold, W. R. (1918): The Cipher of Roger Bacon. In: Transactions of the College of Physicians of Philadelphia.
Serie 3.
Pyle, J. G. (1888): The little cryptogram: A literal application to the play of Hamlet of the cipher system of Mr. Ignatius Donnelly. Pioneer Press, Saint Paul.
Randow, G. von (1998): Mein paranormales Fahrrad. Rowohlt, Reinbek.
Schmeh, K. (2008): Versteckte Botschaften – Die faszinierende Geschichte der Steganografie. Dpunkt-Verlag, Heidelberg.
Schwabenthan, S. (2008): Der Geheimcode der Smaragdtafel. Wunderwelt Wissen 4/2008.
Tatlow, R. (1991): Bach and the riddle of the number alphabet. Cambridge University Press, Cambridge.
Witztum, D.; Rips, E.; Rosenberg, Y. (1994): Equidistant Letter Sequences in the Book of Genesis. Statistical
Science 1994.

 

Klaus Schmeh

(Jahrgang 1970) ist Diplom-Informatiker mit Schwerpunkt Verschlüsselungstechnik. Er ist Autor mehrerer
Bücher. Sein Buch „Versteckte Botschaften“ (Dpunkt-Verlag 2008) behandelt die Geschichte der Steganografie. Seit 2003 leitet Klaus Schmeh die GWUP-Regionalgruppe Rhein-Ruhr. Sein Schwerpunkt innerhalb der GWUP sind parawissenschaftliche Codes.

Die Verse von Nostradamus werden oft als erstaunlich genaue Vorhersagen bezeichnet. Ein guter Anlass, sich einige genauer anzusehen.

Weiterlesen

Druckerschwärze und Sternenstaub

Bernd Harder

Und dies geheimnisvolle Buch, von Nostradamus‘ eigner Hand, ist dir es nicht Geleit genug?

Auch Goethes Held Faust kam auf seiner Suche nach den Welträtseln nicht an dem großen Seher vorbei, nachdem er vergeblich in Philosophie, Medizin, Juristerei und Theologie nach Erkenntnis geforscht hatte. Doch am Ende erscheint die Szene in der Tragödie Erster Teil eher wie eine Persiflage: Der Erdgeist, der sich aus Nostradamus‘ Zauberbuch materialisiert, bleibt jede klare Antwort schuldig. Ganz und gar unmissverständlich urteilt dagegen der Aufklärer Voltaire, für den „der erste Prophet der erste Schurke war, der einem Dummkopf begegnete“. Zu allen Zeiten habe es solche Lügner gegeben, „Sybillen und Gestalten wie Nostradamus“. Auch der französische Dichter Pierre Corneille mag an Nostradamus gedacht haben, als er 1680 in „Le Feint Astrologue“ die Sterndeuter parodiert:

Er betrachtet den Himmel in finsterster Nacht, wälzt ein dickes Buch und malt tausend Figuren.

Dunkelheit, Dreistigkeit und Beschwörung des Zufalls — das ist nach Corneilles Poesie der Dreiklang, mit dem Propheten die auf kosmische Fingerzeige gestimmten Saiten der Seele zum Klingen bringen. Der calvinistische Reformator Theodore de Bèze (1519–1605) komponierte aus dem Namen Nostradamus gar einen lateinischen Spottspruch:

Nostra damus cum falsa damus, nam fallere nostrum est; et cum falsa damus, nil nisi nostra damus.

Zu Deutsch etwa:

Wir geben das Unsere, wenn wir Falsches behaupten, denn Falsches zu sagen ist unsere Art; und wenn wir Falsches sagen, geben wir das Unsere.

Scharlatan oder Inspirierter? An Nostradamus scheiden sich die Geister.

Hier ruhen die Gebeine des hochrühmlichen Michael Nostradamus. Er allein ward unter allen Sterblichen für wert befunden, unter dem Einfluss der Sterne mit geradezu göttlich inspirierter Feder vom künftigen Geschehen der ganzen Welt zu künden,

ist auf der Grabplatte des provenzalischen Magiers in der Dominikaner-Kirche von Salon zu lesen. Seine Anhänger soufflieren ihm bis heute eine Art Kursbuch für den Lauf der Welt. So frohlockte etwa die Münchner Abendzeitung im Sommer 1999:

Auf diesen Augenblick hat die Menschheit schon 450 Jahre gewartet. Wir sind diejenigen, die bald erfahren werden, ob Michel de Notredame, Nostradamus genannt, der berühmte französische Prophet und Mediziner, ein glatter Lügner war. Falls er wahr sagte, erwartet uns Schlimmes. Denn der Juli im Jahr 1999 ist gekommen, jener bedrohliche Termin kurz vor der Jahrtausendwende, über den der Seher in seinem prophetischen Werk „Centurien“ einst ausdrücklich berichtete.

„Ausdrücklich“ stimmt in diesem Fall tatsächlich. Die Jahreszahl 1999 wird von Nostradamus genannt — als eine der ganz wenigen konkreten Zeitangaben in seinem ansonsten eher verschwommenen Werk. Zwischen 1555 und 1558 verfasste Nostradmus 942 vierzeilige Verse, so genannte Quartains. Jeweils hundert davon bündelte er zu einer „Centurie“. Die fehlenden 58 Vierzeiler der VII. Centurie blieben ungeschrieben.

Grammatikalisch willkürlich und in der Vermengung einer Vielzahl poetischer Stilmittel übermotiviert, voller biblischer Krypto-Zitate und geografisch-historischer Anspielungen, erwecken die „Centurien“ dennoch den Eindruck einer geheimnisvollen Komposition aus Druckerschwärze und Sternenstaub. Im Vers 72 der X. Centurie heißt es:

Im Jahr neunzehnhundertneunzig und neun, im siebten Monat, wird ein großer Schreckenskönig vom Himmel herabsteigen, wird wieder auferstehen der große König von Angolmois, Mars regiert vorher und nachher durch Glück.

Das sind Worte, die nach Katastrophe klingen. Torschlusspanik angesichts des magischen Datums 1999 befiel denn auch nicht nur Schwärmer und Apokalyptiker, sondern auch den international anerkannten Wissenschaftler Alexander Tollmann. Der ehemalige Leiter des geologischen Instituts der Universität Wien erwartete die schockierende Dynamik des Weltuntergangs spätestens um den 11. 8. 1999 herum, den Tag der totalen Sonnenfinsternis in Europa: zuerst Dritter Weltkrieg, dann Endzeit-Impakt eines riesigen Komenten.

Als sich die Menschheit statt vor ihren Schöpfer zu treten in spezialbebrillter Partystimmung zeigte, war Tollmann fassungslos:

Es ist so unglaublich, dass das alles nicht geschehen ist. Nostradamus hat bisher zu hundert Prozent Recht gehabt. Er hat alles richtig beschrieben, etwa Hitler,

erklärte er einem Reporter. Wirklich? Nirgendwo in den „Centurien“ ist von Hitler die Rede, sondern nur von „Hister“. Und mit einer Person hat die Verwendung von „Hister“ bei Nostradamus gar nichts zu tun. „Hister“ ist ein Toponym, das in den „Centurien“ nur in Verbindung mit Ortsbeschreibungen auftaucht — und zwar handelt es sich ganz konkret um den alten lateinischen Namen für die Donau.

Der vorausgesagte „große Schreckenskönig“ jedoch tauchte im Sommer 1999 wirklich auf. Seine Regentschaft währte genau zwei Minuten.

Dass Nostradamus inzwischen zum populärsten Astrologen weltweit aufgestiegen ist, ist ein Phänomen, das er selbst nicht vorhergesagt hat,

erklärt die Leiterin des kleinen Nostradamus-Museums in Salon-de-Provence, Jacqueline Allemand, ihren Besuchern mit ironischem Lächeln – und wird bestätigt u. a. durch das Internet. In der Woche nach den Attentaten vom 11. September etwa war „Nostradamus“ die Nummer eins unter den Anfragen bei den Suchmaschinen. Und wer suchte, wurde natürlich auch fündig: Zahllose Fälschungen und Umdeutungen machten in jenen Tagen die Runde, um mit dem Namen des Meisters Sensationsmeldungen zu produzieren (siehe auch Skeptiker 3/01, S. 123).

In Salon also, rund 40 Kilometer südlich von Avignon, bezog Nostradamus 1547 ein mehrstöckiges Steinhaus an der Place de la Poissonnerie. Hier gründete er mit der vermögenden Kaufmannswitwe Anne Ponsarde eine Familie, hier empfing er kurz vor seinem Tod die Königsmutter Katharina von Medici. Heute heißt die ehedem namenlose Sackgasse im Stadtteil Ferreiroux denn auch „Rue de Nostradamus“. Und der Prophet weist mit müdem Blick zu seinem ehemaligen Haus mit der Nummer 11 — von einem pompösen Wandgemälde auf einem Neubau. Gleich daneben steht der Souvenirshop. Mit einem gewissen Faible fürs Mondäne verfasst Nostradamus in Salon erst einmal absatzstarke Schriften wie „Das Schminken und die Gerüche“, „Die Kunst des Einmachens“ sowie Gesundheitsratschläge und Rezepte für Liebestränke. Dann verdient sich der angesehene Arzt mit jährlichen Almanachen und Prognostica sein Geld — einer Art früher Esoterik-Literatur in Form eines Kalenders, der über die Tage und Monate hinaus Mondphasen, Wetterregeln und liturgische Termine ebenso umfasst wie den richtigen Zeitpunkt für den Bartschnitt bis hin zu vierzeiligen Orakeln über die Geschicke der Reichen und Mächtigen in Abhängigkeit von den astrologischen Vorzeichen. Der Erfolg der „Vorherverkündigungen“ ist leicht begreiflich: In einer unbeständigen Welt bilden solche Prognosen Fixpunkte, versprechen Antworten auf drängende existenzielle Fragen und sind damit tröstlich. Daneben veröffentlicht Nostradamus mehrere aufschlussreiche Fachpublikationen, darunter die Übersetzung und Neuordnung eines lateinischen Werkes über die ägyptischen Schriftzeichen namens „Hieroglyphica“, das von dem alexandrinischen Grammatiker und Philosophen Horapollon stammt.

Wir finden Nostradamus hier zum ersten Mal mit einer Thematik beschäftigt, die direkt in seine prophetische Produktion führt, das Enträtseln verborgener Bedeutungen, gepaart mit der poetisch-literarischen Bewältigung derselben,

kommentiert der Nostradamus-Forscher Elmar R. Gruber.
Es ist eine sternenklare Nacht im Jahr 1555, als Nostradamus zum Obergeschoss seines Hauses hinaufsteigt, wo sich sein Arbeitskabinett befindet. Gekleidet in einen doppelt mit Silberfäden verbrämten Umhang, lässt er sich auf einen dreibeinigen Messingstuhl fallen. Mit einem Lorbeerzweig rührt er in einer wassergefüllten Wahrsageschale:

Des Nachts sitze ich über geheimen Studien, allein bin ich und sitze auf ehernem Stuhl; Eine Flamme steigt empor, sie kommt aus der Einsamkeit, sie bringt hervor, woran man nicht vergeblich glauben soll.

So beschreibt Nostradamus seine Methode im Vers 1 der I. Centurie. Darin erscheinen seine Prophezeiungen als verrätselte Tagträume und fabulierte Phantasien. Und damit jener Gegenwart verhaftet, deren Nöte sie zu kompensieren suchten.
Bei Licht besehen, geht es in den „Centurien“ z. B. um sterbende Könige, fallende Festungen und göttliches Missgeschick, um Verbrechen und Terror, Blitzschlag und Pest, Tod und Blut. Oder künden des Dunkelmanns Düster-Szenarien in Wahrheit von Hitler, Stalin, Napoleon, der Tschernobyl-Katastrophe, den beiden Weltkriegen, der Mondlandung und dem Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center? Die „Centurien“ sind wie ein „kollektiver Rorschach-Test, in dem die Buchstaben die Rolle der Tintenkleckse einnehmen“ (Elmar R. Gruber) — der aber für Interpretationen den Vorteil hat, dass sich im Nachhinein fast alles hineingeheimnissen lässt. Zum Beispiel Vers 74 der VI. Centurie:

La dechassée au regne tournera, ses ennemis trouvez des coniurez: Plus que iammais son temps triomphera, Trois et septante à mort trop asseurez.

Als vor etwa 25 Jahren Jean-Charles de Fontbrune sich über die Schriften seines Landsmanns beugte, übersetzte er den Quartain wie folgt:

Die Linke wird an die Macht kommen, man wird entdecken, dass ihre Feinde Verschwörer sind. Mehr denn je wird ihre Zeit triumphieren, doch nach drei Jahren und siebzig Tagen steht ihr der sichere Tod bevor.

Fontbrunes Deutung: Die von linken Ministern regierte fünfte französische Republik werde „spätestens im September 1984“ blutig zusammenbrechen. Wie kommt Fontbrune auf die Linke? „La dèchassée“, teilte er mit, sei „ein Tanzschritt, der nach links ausgeführt wird; im Gegensatz zum chassée, der mit einer Rechtswendung verbunden ist.“ Es ist derselbe Vers, in welchem Théophile de Garencières im 17. Jahrhundert eine eindeutige Vorhersage der glücklichen Wiederseinsetzung des englischen Königs Karl II. (1660–1685) erkannte. Die Richter und Mörder seines Vaters Karl I. seien die erwähnten etwa siebzig Anhänger Oliver Cromwells, die man damals zum Tod verurteilt habe. (Tatsächlich wurden aber nur sechs hingerichtet.) Für den Nostradamus-Interpreten Charles Ward (19. Jahrhundert) beschreibt der Seher von Salon in VI,74 jedoch die Inthronisation, die Regentschaft und den Heimgang von Königin Elisabeth I. (1558–1603). James H. Brennan, wie Fontbrune ein Deuter aus unserer Zeit, hat wieder etwas ganz anderes im Sinn und übersetzt:

Sie, die abgesetzt wurde, wird wieder zur Herrschaft zurückkehren. Ihre Feinde wurden unter den Verschwörern gefunden, mehr als jemals zuvor wird ihre Zeit voller Triumphe sein. Dreiundsiebzig bis zum Tod mit großer Gewissheit.

Dieser Vierzeiler, erläutert Brennan, werde im Allgemeinen Elisabeth I. zugeschrieben, „obwohl sie mit siebzig, und nicht, wie der Vers konstatiert, mit dreiundsiebzig starb. Ich glaube, eine viel bessere Kandidatin wäre Benazir Bhutto, die Geschichte machte, als sie Pakistans erste weibliche Premierministerin wurde, dann aber durch Präsidentenerlass aus dem Amt entfernt wurde.“

Verklausuliert und dunkel ist zumeist der Sinn oder aber sowieso abwesend, ohne dass er sich erst verflüchtigen musste,

handelt eine „Kulturgeschichte der Missverständnisse“ die Prophezeiungen des Nostradamus als klassischen Fake ab. Zu Unrecht: Nichts deutet darauf hin, dass der raunende Provenzale ein Gaukler oder Betrüger war. Andererseits dürfte es den Nostradamus-Fans spätestens seit der Enttäuschung von 1999 schwer fallen, echte paranormale Fähigkeiten für ihr Idol zu reklamieren. Was erblicken wir wirklich, wenn wir dem Arzt und Astrologen die Maske des Propheten vorsichtig vom Gesicht nehmen? Vielleicht einen Jules Verne der Renaissance, der an den Wänden seiner Dachkammer die dunklen Schatten seiner Zeit irrlichtern sah und, vielleicht im Rauschzustand, in vierzeilige Gleichnisse übersetzte. Von „natürlichem Instinkt“ und „poetischem Furor“ schreibt Nostradamus in einem Brief an seinen König, Heinrich II. von Frankreich. Seinem ältesten Sohn César hinterlässt er in der Vorrede zu den Centurien:

Noch eines, mein Sohn, da ich den Begriff Prophet verwendet habe: Ich will mir in heutiger Zeit den Titel so großer Erhabenheit nicht zulegen. Denn wer heute Prophet genannt wird, hieß ehedem Seher. Denn der eigentliche Prophet, mein Sohn, ist jener, welcher Dinge sieht weit entfernt von jeder natürlichen Kenntniss.

Kein Prophet also, sondern ein „Seher“ im Wortsinn? Einer, der mit offenen Augen, scharfem Blick und wachem Verstand durch die Welt geht und überall Elend, Epidemien, Ignoranz, Dummheit, Fanatismus, Neid, Falschheit, Machtgier, Lüge, Krieg und Missgunst sieht? Ein humanistisch beseelter Literat, der gegen das Elend seiner Zeit anschreibt? Als Michel am 14. 12. 1503 als Erstgeborener der angesehenen Notarsfamilie Notredame in Saint-Remy-de-Provence das Licht der Welt erblickt, scheinen die vier Reiter der Apokalypse Aufstellung bezogen zu haben. Das geschlossene christliche Weltbild fällt in Trümmer. Gerade ein Jahrzehnt zuvor hat Christoph Kolumbus Amerika entdeckt. 1491 fertigt Martin Behaim in Nürnberg den ersten Globus. Die Erfindung des Buchdrucks hat das Wissensmonopol der Klöster aufgelöst. Die drei mächtigen Nationalstaaten Spanien, Frankreich und England beherrschen Europa und verzetteln sich in immer neue Kriege und undurchschaubare Zweckbündnisse. Bald wird der Augustiner-Mönch Martin Luther gegen die Missstände in der römischen Kirche rebellieren und die Reformation lostreten. Nach dem Willen seiner Eltern soll Michel Arzt werden. Der Legende nach unterrichteten ihn seine beiden Großväter schon früh in Latein, Griechisch, Hebräisch, Mathematik und Himmelskunde. Wahrscheinlich aber übernahm ein Hauslehrer diese Aufgabe. Sicher ist, dass Michels Großvater väterlicherseits ein wohlhabender jüdischer Getreidehändler namens Crescas de Carcassonne war, der um 1460 zum Katholizismus konvertierte. Weil er vermutlich in der Marienkirche Notre-Dame-la-Principale zu Avignon die Taufe empfing, nannte sich die Familie fortan Nostredame. Diese Schreibweise entspricht dem Provenzalischen, in heutigem Französisch heißt es „Notredame“. Mit 19 Jahren schreibt sich Michel de Notredame an der Universität Montpellier ein und latinisiert seinen Nachnamen zu Nostradamus. 1525 hält der schwarze Tod Einzug in die Stadt, und Nostradamus unterbricht sein Studium, um sich als Heilgehilfe nützlich zu machen. Das fürchterliche Leiden der Sterbenden, den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, den Giovanni Boccaccio später in seinem „Decamerone“ beschreibt, erlebt Nostradamus hautnah mit. Hellsichtig weigert sich der junge Medicus, die Kranken zur Ader zu lassen — und rettet damit nicht nur vielen Patienten, sondern vielleicht auch sich selbst das Leben. Denn unwissentlich unterbricht er so die Infektionskette der Pest, die auch durch Körperflüssigkeiten übertragen wird. Als Nostradamus vier Jahre später endlich zum Doktor der Medizin promovieren kann, eilt ihm längst der Ruf als unerschrockener Pestarzt voraus. Der wissenschaftliche Ritterschlag lässt nicht lange auf sich warten: Der berühmte Universalgelehrte Julius Caesar Scalinger ruft den 31-Jährigen nach Agen. Nostradamus richtet eine lukrative Praxis ein und heiratet ein 14-jähriges Mädchen, das ihn zum Vater eines Sohnes und einer Tochter macht.

Doch dann schlagen die Wogen des Schicksals umso heftiger über dem erfolgreichen Akademiker zusammen. Frau und Kinder sterben an Diphterie. Die Patienten bleiben aus. Mit dem strengen Rationalisten Scalinger überwirft er sich; vermutlich ging es dabei auch um Nostradamus übersteigertes Interesse an der Astrologie, die zu jener Zeit von vielen Ärzten auch als Diagnoseinstrument angewandt wird. 1538 verlässt Nostradamus Agen-de-Provence und durchwandert bis 1547 ziellos das Land — in einer Epoche des revolutionären Umbruchs in politischer, sozialer und religiöser Hinsicht. Auch vor der Inquisition muss er sich wegen seines regen Interesses an den Geheimwissenschaften in Acht nehmen. Es waren diese bedrückenden Lebenserfahrungen, die ab 1555 zu den „Wahren Centurien und Prophetien des Meisters Michel Nostradamus“ geronnen — ein magisches Esperanto aus Französisch, mittelalterlichem Latein und provenzalischem Dialekt. Mit Intuition und Grübelei, astronomischem Kalkül und „feuriger Dichtung“ holte der Seher von Salon Bilder von zeichenhaftem Charakter vom Himmel, deren wahre Zukunft in ihrer eigenen Gegenwart lag. Das gilt auch für jenen Quartain, der seinen Mythos begründete. 1. 7. 1559: Heinrich II., König von Frankreich, richtet am Pariser Hof eine Doppelhochzeit für seine Tochter Elisabeth und seine Schwester Margarethe aus. Zu den Feierlichkeiten gehört auch ein Ritterturnier, bei dem Heinrich die Lanze mit einem Hauptmann seiner Leibgarde kreuzt, dem schottischen Grafen von Montgomery, Gabriel de Lorges. Unter Hufgedonner preschen die beiden Pferde mit ihren bewaffneten Reitern die Schranken entlang. Die Lanze des Königs verfehlt ihr Ziel, und Montgomerys Lanze trifft im falschen Winkel auf den Schild des Königs. Sie splittert, rutscht nach oben ab und dringt durch Heinrichs Visier. Zehn Tage später stirbt der König an seinen Wunden. Vier Jahre vor dem tragischen Ereignis hatte Nostradamus im Vers 35 der I. Centurie geschrieben:

Der junge Löwe wird den alten überwinden, auf kriegerischem Feld im Einzelstreit. Im goldenen Käfig wird er ihm die Augen spalten, von zwei Flotten setzt sich eine durch, der Besiegte stirbt einen grausamen Tod.

„Seit dieser prophetischen Glanzleistung war Nostradamus noch zu Lebzeiten der gemachte Hellseher“, applaudierte 1981 sogar Der Spiegel in einer Titelgeschichte. Wirklich?

Der berühmte Quartain ist von Zeitgenossen nicht einmal wahrgenommen worden,

behauptet der renommierte französische Historiker Georges Minois. Und das mit guten Gründen: Heinrich II. war 40 Jahre alt, Graf Montgomery mit 29 Jahren unwesentlich jünger. Letzterer war kein König, also mitnichten ein „Löwe“. Außerdem spielte sich das Drama nicht „auf kriegerischem Feld“ ab, und nirgends ist überliefert, dass Heinrich II. einen auffälligen goldenen Helm oder ein goldenes Visier trug. Im Jahr 1555, als Nostradamus diese Verse schrieb, war vielmehr Heinrich II. der „junge“ und Karl V. mit seinem goldenen Helm — der deutsch-römische Kaiser, der sich mit den Franzosen heftige Kriege lieferte — der „alte“ Löwe. Gemeint hatte Nostradamus also das Gegenteil dessen, was die Interpreten hineinlesen: nämlich, dass sein König Heinrich II. über seinen Erzfeind siegen möge. Tatsache ist, dass Heinrichs Gemahlin Katharina von Medici den provenzalischen Propheten im Sommer des Jahres 1555 an den Königshof St. Germain-en-Laye befahl — gewiss jedoch nicht, um mit ihm in banger Sorge um das künftige Schicksal ihres Mannes speziell über den Vierzeiler I.,35 zu sprechen. Außerdem erging der Druckauftrag für die „Prophéties“ an Macé Bonhomme (Lyon) nachweislich am 30. 4. 1555… es ist davon auszugehen, dass das Buch vor Nostradamus‘ Reise an den Hof noch gar nicht erschienen war. Die okkultgläubige Florentinerin Katharina von Medici suchte seit frühester Jugend Rat bei Wahrsagern und Zauberern. Sehr beeindruckt scheint sie von Nostradamus nicht gewesen zu sein (wenn sie ihn auch 1564 bei einer Rundreise durch Frankreich noch einmal in Salon aufsuchte und ehrenhalber zum Leibarzt des 14 Jahre alten Königs Karl IX. ernennen wird). Denn der Seher beklagt sich später in einem Brief an einen Freund bitter über das knausrige Honorar von 130 Écus, das kaum die Reisekosten deckte. Immerhin aber war er für das einfache Volk nun der Prophet hoher Herrschaften. Zum endgültigen Triumph für Nostradamus schrieb erst dessen Sohn César die Begegnung mit der Königin und den Unfall des Königs um. Und zwar 1614 in seiner „Historie et Chronique de Provence“, also 48 Jahre nach dem Tod des Vaters am 1. 7. 1566. Und seither tritt jedes Jahr aufs Neue ein nächst besserer Deuter an die Öffentlichkeit, der die eklektische Orakelpoesie des Nostadamus überbelichtet. Die „feurige Dame“ aus Vers V.,65? Natürlich Marilyn Monroe — weil sie in dem Film „Manche mögen’s heiß“ mitspielte. Der „große Hintern“ aus Vers VI.,40? Natürlich Helmut Kohl — weil er Probleme gerne aussaß. Leicht verständlich also, warum Nostradamus nur falsch interpretiert werden, aber nie irren kann. Und damit unangreifbar bleibt.

All seinen Konkurrenten hatte er das Prinzip voraus, sich nie allzu weit aus seiner prophetischen Deckung hervorzuwagen, sondern sich zu behaupten in einer mit Namen und Scheindaten gesättigten Unklarheit, die alles verraten konnte, aber nichts verriet,

schreibt der Nostradamus-Biograf Frank Rainer Scheck. Zum unsterblichen Mythos um den Renaissance-Himmelsstürmer gehören außerdem: eine Herkunftslegende, an der sein Bruder Jehan und vor allem sein Sohn César strickten und die aus den Großvätern des Nostradamus „Ärzte und Berater“ adeliger Herrn machte — obwohl sie Kaufleute beziehungsweise Steuereintreiber waren. Und nicht zuletzt viele ungelöste Fragen, die sich um sein Leben und Werk ranken:

Nostradamus war eine sehr interessante, humanistisch und universal gebildete Persönlichkeit, der typische Gelehrte seiner Epoche, sowohl dem Studium der antiken Autoren hingegeben als auch bereit, im Experiment die neue Naturforschung zu erkunden,

analysiert Elmar R. Gruber:

In seiner Beschäftigung mit okkulten Dingen und Weissagungen ist er ein Repräsentant jener historischen Schnittstelle, an der das mythische und rationale Denken auseinander fielen. Nostradamus war beiden Welten verpflichtet, und nur unter diesem Gesichtspunkt wird uns sein Werk verständlich.

Und so gibt Nostradamus Rätsel auf, die immer wieder neu gelöst werden können. Zum Beispiel das Mysterium um den „großen Schreckenskönig“. Ein UFO, mutmaßte Star-Astrologin Elizabeth Teissier 1999 beim Barte des Propheten. Ein neuer Dschingis Khan aus dem Osten, warnten die Autoren eines „Lexikons der Propheten, Seher, Zukunftsforscher“. Tatsächlich reflektiert Nostradamus in Vers X.,72 nur die Hoffnungen und Sehnsüchte des 16. Jahrhunderts: auf das Erscheinen eines großen, gerechten, friedliebenden Monarchen nämlich („König von Angolmois“), den Nostradamus memorativ beim berühmten Herrscherhaus Angouleme-Valois ansiedelte, welchem auch „sein“ König Heinrich II. von Frankreich entstammte. Hinter dem vorher am Himmel auftauchenden „Schreckenskönig“ verbirgt sich wenig mehr als die totale Sonnenfinsternis vom 11. 8. 1999, die der astrophile Gelehrte mit den astronomischen Saros-Zyklen berechnen konnte — und die seinerzeit als bedeutsames Vorzeichen (Omen) umwälzender Ereignisse angesehen wurde. Nostradamus kleiner Fehler („siebter Monat“ statt achter) liegt darin begründet, dass er sich am zu seinen Lebzeiten aktuellen, aber inzwischen beendeten 109. Saros-Zyklus orientierte und diesen hochrechnete; tatsächlich aber gehört die Sonnenfinsternis von 1999 zum 145. Saros-Zyklus, der erst 1639 begann (vgl. die Internetseiten des Astronomischen Institutes der Universität Basel). Das Datum 1999, nahe am dritten Jahrtausend, steht somit rein symbolisch für eine Zeitenwende, die Nostradamus schon zu seinen Lebzeiten erhoffte, aber ganz im Stil seines poetischen Systems des Mehrdeutigen in eine unbestimmte Zukunft projizierte. Oder? Der Nostradamus-Deuter Manfred Dimde ist überzeugt, dass uns der „große Schreckenskönig“ noch bevorsteht. Und zwar als Komet, der „unserer Erde gefährlich nahe kommen“ werde. Wann das zu erwarten ist? „Um das Jahr 3100“. Eine Aussage ganz nach dem Vorbild des großen Meisters.

Literatur (Auswahl)

  • Bernhard Bouvier: Nostradamus. Ewert-Verlag, Gran Canaria 1996
  • Pierre Brind’Amour: Les premières centuries où propheties (Edition Macé Bonhomme de 1555). Textes littéraires francais. Librairie Droz, Genf 1996
  • Pierre Brind’Amour: Nostradamus astrophile: les astres et l’astrologie dans la vie et l’œuvre de Nostradamus. Pr. de l’Univ. d’Ottawa, Ottawa 1993
  • Georges Dumézil: Der schwarze Mönch in Varennes. Nostradamische Posse. Insel-Verlag, Frankfurt a.M. 1999
  • Elmar R. Gruber: Nostradamus. Sein Leben, sein Werk und die wahre Bedeutung seiner Prophezeiungen. Scherz-Verlag, Bern 2003
  • Volker Guiard: Die seltsame Welt des Nostradamus-Deuter Manfred Dimde. In: Michael Shermer/Benno Maidhof-Christig/Lee Traynor (Hresg.): Endzeittaumel. Alibri-Verlag, Aschaffenburg 1998
  • Bernd Harder: Nostradamus — Ein Mythos wird entschlüsselt. Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2000
  • Günther Klein: Nostradamus — Gaukler des Himmels. In: Hans-Christian Huf (Hrsg.): Sphinx. Geheimnisse der Geschichte. Lübbe-Verlag, Bergisch-Gladbach 1999
  • Carl Graf von Klinckowstroem: Rund um Nostradamus. In: Zeitschrift für kritischen Okkultismus und Grenzfragen des Seelenlebens, Berlin 1927. Nachdruck in der Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, Jahrgang 26, Nr. 1/2/3/4, 1984, Aurum-Verlag, Freiburg
  • Edgar Leoni: Nostradamus and his Prophecies. Random House Value Publishing Inc., New York 1999
  • Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Artemis&Winkler-Verlag, Düsseldorf/Zürich 1998
  • Roger Prévost: Nostradamus – Le mythe et la réalité. Un historien au temps des astrologues. Edition Robert Laffont, Paris 1999
  • James Randi: The Mask of Nostradamus. Prometheus Books, Buffalo/New York 1999
  • Frank Rainer Scheck: Nostradamus. dtv, München 1999

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 3/2003. Lesen Sie zu den Centurien des Nostradamus auch den Beitrag „Das Prophetenspiel„.