Aberglaube, moderne Mythen
Sie sind sicher, dass Sie nie auf dummen Aberglauben reinfallen werden? Dann klopfen Sie schnell auf Holz! Viele kleine Gewohnheiten, Ideen und Überzeugungen haben sich in unserem Alltag eingenistet, die eigentlich völlig irrational sind. Dieser Aberglaube ist oft harmlos, aber es ist nützlich, über ihn zumindest mal nachzudenken.

Der Glaube an Freitag, den 13. als Unglückstag ist erst wenige Jahrzehnte alt. Den frühesten Beleg hat der Autor in einem Zauberbuch aus dem Jahr 1950 entdeckt.

Die ethnographische Umfrage des Vereins für Volkskunst und Volkskunde in München von 1908/09 erbrachte vor rund hundert Jahren Belege dafür, welche Tage die Menschen in Bayern als Glücks- oder Unglückstage empfanden. In Aichach etwa glaubte man an insgesamt 42 Unglückstage, darunter den 3. März, den 17. August oder den 1., 2. und 30. September. Als besonders kritisch galt der 1. April, der Tag, den man als Geburtstag des Judas Ischariot betrachtete, ferner der 1. August, der Tag, an dem der Teufel aus dem Himmel gestürzt wurde, und der 1. Dezember, der Tag des Untergangs von Sodom und Gomorrha (Gerhardt 1999, S. 35).

Folgt man dieser Quelle, gab es vor rund hundert Jahren in der Region deutlich mehr „Unglückstage“ als heute, da fast ausschließlich ein „Freitag, der 13.“ als Unglückstag gilt. Freitage, die auf den 13. Tag eines Monats fallen, gibt es jährlich nämlich nur mindestens ein- und maximal dreimal, in 28 Jahren stehen 48 „Freitage, die 13.“ im Kalender (Technische Universität Chemnitz 1998). Hinweise auf die Vorstellung vom „Freitag, den 13.“ als dem Unglückstag schlechthin finden sich in den volkskundlichen Quellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch noch nicht. Zwar gilt der Freitag als allgemeiner Unglückstag, wie etwa in Pfersee bei Augsburg (Willi 1999, S. 473), zwar ist die 13 als Unglückszahl geläufig, wie etwa in Scheppach im Landkreis Günzburg (Willi 1999, S. 547), doch eine Verknüpfung der beiden Elemente „Freitag“ und „13″ zum Vorstellungskomplex „Freitag, der 13″ hat noch nicht stattgefunden.

Dieser Befund stützt die Darstellung des Bonner Volkskundlers Günther Hirschfelder, der anhand des Datenmaterials zum „Atlas der deutschen Volkskunde“ (ADV) aus den 1930er Jahren festgestellt hat, dass es Hinweise auf die Bedeutung der Zahl 13 und dem Freitag als unglückschwangeren Wochentag gebe, jedoch keine Hinweise auf eine Bedeutung von „Freitag, dem 13″ (Hirschfelder 2001, hier S. 44; vgl. auch Hirschfelder 2002, hier S. 27). Aufgrund einer Medienrecherche konnte Hirschfelder als bisher ältesten Beleg einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausmachen, in dem sich der Journalist Thilo Koch am 13. Dezember 1957 unter der Überschrift „Freitag der 13.“ in einer Glosse mit dem Unglückstermin auseinander setzte, allerdings wenig konsequent, weil auch dieser Text die beiden Elemente „Freitag“ und „13″ über weite Strecken unverbunden nebeneinander behandelt.

»Zauberbücher kombinieren unterschiedlichste Inhalte, die auf diese Weise ihren ursprünglichen Sinn verlieren.«

„Thilo Koch dürfte kaum der Initiator für einen heute zwar diffusen, jedoch volkskulturell eindeutig belegten Termin sein. Sein Artikel steht aber für einen Trend, der in Deutschland in den 1950er Jahren aufkam und der unter anderem Freitag den 13. thematisierte.“ (Hirschfelder 2001, S. 46). Trotz Hirschfelders abwägender Worte informiert zum Beispiel die Internetenzyklopädie Wikipedia mit eindeutiger Gewissheit darüber, dass in Deutschland Freitag, der 13. zum ersten Mal 1957 in besagter Glosse von Thilo Koch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auftauche (Wikipedia 2007).

Ergänzend zu den Forschungen Hirschfelders kann hier ein Beleg für die Vorstellung von „Freitag, dem 13.“ mitgeteilt werden, der sieben Jahre älter ist als der von Hirschfelder erwähnte Zeitungsbeitrag und der zudem die beiden Elemente „Freitag“ und „13″ eindeutig zum Vorstellungskomplex vom Unglückstag schlechthin verbindet. Dieser Beleg findet sich in einem Zauberbuch, genauer gesagt in einer Variante des „6. und 7. Buch Mosis“, das in einer Bearbeitung von Ferdinand H. Masuch unter dem Titel „Das sechste und siebente Buch Moses, das ist Moses magische Geisterkunst, das Geheimnis aller Geheimnisse. Wortgetreu nach einer alten Handschrift. Mit alten Holzschnitten“ im Jahr 1949 mit dem Vermerk „Copyright 1950″ im Planet-Verlag Braunschweig erstmals erschien.

Sammelsurium des Geheimwissens

Zauberbücher sind magische Schriften, die rezeptartig Handlungsanweisungen bereithalten, um ihren Benutzern Macht über okkulte Kräfte zu verleihen, namentlich um Dämonen zu beschwören, um sich deren Macht vor allem bei der Suche nach verborgenen Schätzen zu versichern, um Leib und Leben von Mensch und Tier zu erhalten, um Gesundheit wiederherzustellen, um gegen Hexerei, Schadens- und Liebeszauber vorzugehen oder um Hab und Gut zu wahren und zu mehren. Zauberbücher wurden häufig mit fingierten Druckorten und Jahreszahlen versehen, als Verfasser wurden, ebenso fiktiv, biblische Gestalten oder berühmte Gelehrte ausgegeben, etwa Moses, von dem ein 6., 7., 8., 9., 10., 11. und 12. Buch im Umlauf war, Salomon, Albertus Magnus oder Faust, dem zahlreiche „Höllenzwänge“ zugeschrieben wurden.

Bei der näheren Analyse der Zauberbücher wird ein Konstruktionsprinzip deutlich, das ihre Verbreitung begünstigte. Die einzelnen Titel haben keinen klar definierten Inhalt, sondern sind aus Versatzstücken zusammengefügt. Zauberbücher erscheinen wie nach dem Baukastenprinzip gefertigt. Inhalte, Texte, Bilder, Namen, Abbildungen, Zauberzeichen, Titel, Beschwörungsformeln, sympathetische Rezepte, Anwendungsmöglichkeiten , Jahreszahlen, Druckorte, Verfasser, Herkunftslegenden: all diese Einzelelemente wurden in den unterschiedlichsten Variationen von den Zauberbuchherstellern – den professionellen Verlegern ebenso wie denen, die für den Hausgebrauch oder aus antiquarischem Interesse kopierten – gerade so zusammengestellt oder neu geschaffen, wie es die jeweiligen Umstände erforderten.

Es ist klar, dass bei einem solchen Verfahren die einzelnen Elemente ihre Bedeutung und ihren ursprünglichen Sinn verlieren. Zwar entstanden im Abendland bereits seit dem Mittelalter Zauberschriften, etwa der für Alfons von Kastilien 1256 kopierte „Picatrix“ mit seiner orientalischen Magie, Fassungen der „Clavicula Salomonis“ und Werke von Agrippa und Paracelsus, doch blieben diese Texte bis ins 18. Jahrhundert vor allem denen vorbehalten, die Zugang zu den Bibliotheken der Monasterien und Akademien hatten. Gelehrte und halbgelehrte Vermittler, entlassene Professoren etwa oder entlaufene Studenten, sorgten dann dafür, dass das Wissen über Magie aus den engen Zirkeln der Gelehrten heraus diffundierte.

Noch im 18. Jahrhundert waren bestimmte Zauberschriften rar, schwer zu greifen und nur wenigen bekannt. Nach der Schwelle von 1800 stieg die Zahl der Zauberbuchdrucke, aber auch der für den Hausgebrauch von Hand kopierten Texte, deutlich an. Seit 1900 gab es eine schier unüberschaubare Vielfalt von auflagenstarken Titeln, deren Erfolg zum Teil bis heute anhält, wobei noch immer die Ehrfurcht vor dem okkulten Wissen und die Aussicht auf glänzende Geschäfte Hand in Hand gehen. Den Verlegern, die im 19. und 20. Jahrhundert zu deutlich erschwinglicheren Preisen Magica produzierten, standen vornehmlich jene Schriften und Abschriften zur Verfügung, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden waren.

Der geschasste Hallenser Professor Phillippe ernährte sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts jahrelang mit dem Abschreiben magischer Schriften und stellte diese einfach selbst her, wenn er keine Originale in die Finger bekam. Ein anderer Kopist schrieb nur das ab, was er mit seinem Kleinen Latinum verstehen konnte. Beispiele wie diese lassen erahnen, welche Qualität jene Vorlagen hatten, aus denen zum Teil die populären Zauberbücher des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden. Jeder Druck, den die Zauberbuchverleger auf den Markt warfen, konnte irgendwo wieder als Vorlage einer Abschrift dienen, jede Abschrift konnte wieder Vorlage für einen Druck werden. Dennoch – oder gerade deswegen – hält der Erfolg der Zauber- und Beschwörungsbücher bis heute an (vgl. Bachter 2002, 2004, 2005; Wanderer 1976).

Ein umstrittener Bestseller

Ein Erfolg war auch die Fassung des „6. und 7. Buch Mosis“ im Planet-Verlag von 1949/50. Darin findet sich ein eigener Abschnitt, der besonders „Freitag den 13.“ als Unglückstag herausstellt: „Auf keinen Fall unternehme man etwas Wichtiges an einem Freitag, der auf den 13. Tag eines Monats fällt, das wird fast immer Unglück bringen.“ (Masuch 1950, Abb.1)

Freitag der 13. als Unglückstag. Aus dem „6. und 7. Buch Moses“, Braunschweig; Planet-Verlag 1950, S. 105.

Die Edition des „6. und 7. Buch Moses“ aus dem Planet-Verlag erfuhr zahlreiche Ausgaben und eine weite Verbreitung. Werbung dafür war bis in die 1970er Jahre bevorzugt auf den Anzeigenseiten von Groschenromanen zu finden, neben Anzeigen für Enthaarungscremes und formende Büstenhalter. (Abb. 2)

Eine Werbeanzeige für das „6. und 7. Buch Moses“ und ihr Umfeld (erschienen in Marken Arztroman Nr. 462 o.aJ. o.a.O).

Der Lehrer, „Aufklärer“ und Gründer des Hamburger „Archivs zur Erforschung des neuzeitlichen Hexenwahns“, Johann Kruse (1889-1983), strengte einen vom Dezember 1955 bis Februar 1961 in Braunschweig in mehreren Instanzen verhandelten Prozess an, der ein Verbot des „6. und 7. Buch Mosis“ wegen seiner angeblich schädlichen Auswirkungen zum Ziel hatte. Unterstützt wurde Kruse von der Deutschen Gesellschaft Schutz vor Aberglauben e.V. (DEGESA), Gutachter der Anklage war der Gerichtsmediziner Otto Prokop, die Verteidigung bot als Experten den Volkskundler Will-Erich Peuckert auf. Der Prozess endete 1961 mit einer Verurteilung der Verleger zu einer Geldstrafe von insgesamt 600 DM.

»Der Aufsehen erregende Prozess brachte dem „6. und 7. Buch Moses“ eine gesteigerte Aufmerksamkeit und dürfte zu seiner Verbreitung beigetragen haben.«

Eingezogen und verboten, wie von Kruse gefordert, wurde das inkriminierte Buch nicht (vgl. Baumhauer 1984). Der Prozess, die Berichterstattung darüber sowie die Publikationen der beiden Sachverständigen über den Gegenstand der juristischen Auseinandersetzung brachten dem „6. und 7. Buch Moses“ aus dem Planet-Verlag eine gesteigerte Aufmerksamkeit und dürften, als gewollter oder ungewollter Nebeneffekt, zu seiner Verbreitung beigetragen haben (Abb.3).

Kaufgesuch für ein „6. und 7. Buch Moses“ aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21 .Januar 1956, S. 12

In der Tat waren die Zeitungen beeindruckt von der hohen Auflage des Zauberbuchs und schrieben vom „eigentlichen ländlichen Bestseller der Bundesrepublik Deutschland“ (Pintschovius 1991, S. 189-190). 1957 berichtete die DEGESA von einer Erstauflage von 9.000 Exemplaren (Eigner, Prokop 1973, S. 255), bekannt ist die ebenfalls auf gute Verkaufszahlen hinweisende Summe von 94.000 DM, die das Buch bis 1954 den Braunschweiger Verlegern eingebracht hatte (Wanderer 1976, S. 27). Man darf also von einem weit verbreiteten Buch ausgehen, das zudem, auch das lässt sich belegen, von den Kunden ernst genommen und dessen Anleitungen in die Praxis umgesetzt wurden (vgl. Schäfer 1959, S. 55, mit Hinweis auf eine Verhandlung vor dem Jugendschöffengericht Ahaus unter dem Aktenzeichen 22 Ls 4/55; Masuch 1950, S. 20-21; Planet-Verlag o. J.).

Stephan Bachter

Stephan Bachter

,

Jahrgang 1967, Studium der Volkskunde, Geschichte, Kulturanthropologie und Pädagogik in Augsburg, Trient und München, 1998-2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Augsburg und München, Promotion 2006 an der Universität Hamburg, freiberuflicher Volkskundler

Kontakt: Tel. (0 82 73) 99 80 90, elektronische Post: kopfarbeit@gmx.net

Genau wie andere Vertreter der Gattung verwendete das 1950 im Braunschweiger Planet-Verlag erschienene „6. und 7. Buch Moses“ ebenfalls inhaltliche Versatzstücke aus früheren Zauberbuchausgaben. So wurden besonders Teile des Zauberbuchs „Der feurige Drache“, wie es um 1890 vom Verlag Fischer in Dresden und um 1920 vom Verlag Hülsemann in Leipzig veröffentlicht worden war, in der Braunschweiger Buch-Moses-Edition wiederverwendet. In diesen älteren Vorlagen findet sich allerdings noch kein Hinweis auf den Vorstellungskomplex von Freitag dem 13. als Unglückstag. Es handelt sich um einen neuen Textzusatz, der 1950 in dem von Ferdinand H. Masuch im Planet-Verlag herausgegebenen „6. und 7. Buch Mosis“ erstmals auftaucht.

Fazit

Der bisher älteste bekannte Hinweis auf „Freitag, den 13″ erschien also in einem weit verbreiteten, als autoritative Handlungsanleitung akzeptierten Zauberbuch, das sicher mehr Beachtung gefunden hat und über einen längeren Zeitraum greifbar war als die Glosse in einer Tageszeitung. Günther Hirschfelder hat darauf hingewiesen, dass der Ursprung der Vorstellung von „Freitag, dem 13″ in den 1950er Jahren zu suchen ist. Bis weitere Belege auftauchen, plädiere ich dafür, das „6. und 7. Buch Moses“ aus dem Braunschweiger Planet-Verlag als Ausgangspunkt für den Aberglauben vom „Freitag, dem 13.“ als Unglückstag zu betrachten.

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“ 2/2007.

Literatur

Bachter

, S. (2002): Wie man Höllenfürsten handsam macht. Zauberbücher und die Kulturgeschichte des Wissens. In. Landwehr, A. (Hrsg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit.
Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. Documenta Augustana, Band M.S. 371 -390, Wißner. Augsburg.

Bachter

, S. (2004): Grimoires and the transmission of magical knowledge. In: Davies, O. de Blecourt, W. (Hrsg.): Beyond the Witch Trials. Witchcraft and magic in Enlightenment Europe. Manchester University Press, Manchester, S. 194-206.

Bachter

. S. (2006): Anleitung zum Aberglauben. Zauberbücher und die Verbreitung magischen „Wissens“ seit dem 18. Jahrhundert. Dissertation Universität Hamburg.

Baumhauer

, J.F. (1984): Johann Kruse und der „neuzeitliche Hexenwahn“‚. Zur Situation eines norddeutschen Aufklärers und einer Glaubensvorstellung im 20. Jahrhundert untersucht anhand von Vorgängen in Dithmarschen. Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins. Band 14. Wachholz. Neumünster.

Eigner

, A.; Prokop. O. (1973): Das sechste und siebente Buch Moses. Zur Frage der Kriminogenität von Büchern und besonders laienmedizinischer Schundliteratur. In: Prokop, O. (Hrsg.): Medizinischer Okkultismus. Paramedizin. Fischer, Jena, S. 255-294.

Hauschild

, T. (1981): Hexen in Deutschland. In: Duerr, H.P. (Hrsg.): Der Wissenschaftler und das Irrationale. Erster Band. Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M„ S. 537-564.

Hirschfelder

, G. (2001): Freitag, der 13. – ein Unglückstag? Zeitschrift für Volkskunde 97 (2001/1), S. 29-48.

Hirschfelder

, G. (2002): Freitag der 13. – ein Unglückstag? Skeptiker 1/2002, S. 23-29.

Masuch

, F. H. (Hrsg., 1950): Das sechste und siebente Buch Moses, das ist Moses magische Geisterkunst. das Geheimnis aller Geheimnisse. Wortgetreu nach einer alten
Handschrift. Mit alten Holzschnitten. Planet Verlag, Braunschweig.

Pintschovius

. J. (1991): Zur Hölle mit den Hexen. Abschied von den weisen Frauen. Ullstein. Berlin.

Planet Verlag

(o. J.): Anzeige des Planet Verlags, Braunschweig. Überschrift: „Die Bücher Moses sind Erfolgsbücher“. Wohl 1960er Jahre. Kopie in einem Ordner mit faksimilierten, von Johann Kruse zusammengestellten Texten und Dokumenten, der sich unter dem Titel „Joh. Kruse: Hexenwahn im Freistaat Bayern“ unter der Signatur VKC 1003 in der Bibliothek des Instituts für Volkskunde/Europäische Ethnologie der LMU München befindet.

Schäfer

. H. (1959): Der Okkulttäter. (Hexenbanner – Magischer Heiler – Erdentstrahler). Kriminalistik, Hamburg.

Technische Universität Chemnitz

(1998): Pressemitteilung 37/98 vom 10.02.1998.

Wanderer

, K. (1976): Gedruckter Aberglaube. Studien zur volkstümlichen Beschwörungsliter atur. Dissertation Universität Frankfurt a. M.

Wikipedia

(2007) : Freitag der 13. https://de.wikipedia.org/wiki/Freitag%2C_der_13. (Zugriff am 02.05.2007).

Willi

. G. (1999): Alltag und Brauch in Bayerisch-Schwaben. Die schwäbischen Antworten auf die Umfrage des Bayerischen Vereins für Volkskunst und Volkskunde in München von 1908/09. Veröffentlichungen der schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Schwäbische Forschungsstelle Augsburg der Kommission für bayerische Landesgeschichte, Reihe 10. Quellen zur historischen Volks- und Landeskunde, Band I. Wißner, Augsburg.

J. Offe, I. Hüsgen, J. Bergmann

Auch wenn die meisten Menschen sich nicht als abergläubisch bezeichnen würden, vermeiden oder bevorzugen sie in ihrem Alltag dennoch bestimmte Handlungen aus Gründen des Aberglaubens. Um ein Bewusstsein für diesen alltäglichen Aberglauben zu schaffen und ihn gleichzeitig auf die Probe zu stellen, hat die Hamburger Regionalgruppe eine Testreihe initiiert, die jeweils an einem Freitag dem 13. durchgeführt wird. Bei diesen Tests vollführen die Testpersonen entweder glücksbringende oder unglücksbringende Handlungen und versuchen anschließend ihr Glück bei einem Würfelspiel. Das Ergebnis aller Tests zeigt, dass der Würfel völlig unabhängig von allen Handlungen im Durchschnitt dieselbe Anzahl von Treffern liefert: Die Zahl 6 als Gewinnzahl wird bei einem Sechstel aller Würfe erzielt – ein wenig überraschendes Ergebnis. Überraschend ist allerdings so manche Reaktion von Teilnehmern und Passanten.

(Un-)Glücksparcours am Freitag, den 13. in Hamburg

Bestandteil des Unglücksparcours: Spiegel zum   Kaputtschlagen

Ein Klassiker unter den Unglücksbringern: Spiegel zerschlagen.
Wer fordert das Unglück heraus?

Klopfen Sie gelegentlich auf Holz? Durchleben Sie eine Schrecksekunde, wenn Sie Salz verschüttet haben? Wehren Sie vorzeitige Glückwünsche zum Geburtstag ab? Willkommen beim alltäglichen Aberglauben! Den meisten Menschen ist völlig bewusst, dass derartige Handlungen und Vorsichtsmaßnahmen keine Auswirkungen auf ihr Schicksal haben und die Tendenz geht dazu, diese Rituale lächelnd zu tolerieren. Wer sich aber wie die Skeptiker die Aufklärung auf die Fahnen geschrieben hat, ist versucht, die Aufgeklärtheit seiner Mitbürger anhand dieser vermeintlich trivialen und belächelten Handlungen zu testen. Was liegt also näher, den Unglückstag „Freitag, der 13.“ als Testdatum für den alltäglichen Aberglauben zu nutzen? Die Hamburger Skeptiker haben dies inzwischen dreimal getan – hier ihre Ergebnisse und Beobachtungen.

Wie sehen solche Tests aus? Relativ einfach: Als Basis dient ein einfaches Würfelspiel, bei dem ein klassischer Sechserwürfel einmal geworfen wird – eine „6“ bedeutet „Gewinn“, bei allen anderen Zahlen geht der Würfelnde leer aus. Die Gewinnwahrscheinlichkeit beträgt ein Sechstel, da die „6“ eines von sechs möglichen Ereignissen ist. Nehmen an einem solchen Würfelspiel 100 Personen teil, sind also etwa 17 (= 100 / 6) Gewinne zu erwarten.  Um die Auswirkung abergläubischer Handlungen auf das Würfelglück zu testen, mussten die Teilnehmer vorher massiv glücks- oder unglücksbringende Handlungen durchführen: Die Personen auf dem „Glücksparcours“ pflücken ein vierblättriges Kleeblatt, bekamen einen Glückscent, zerschlugen Porzellan und drückten in der Hoffnung auf einen Gewinn die Daumen. Die Mutigen hingegen, die sich auf den Unglücksparcours trauten, mussten einen Spiegel zerschlagen, Salz verschütten, unter einer Leiter durchgehen und sich dann auch noch verfrüht zu einem Gewinn gratulieren lassen… Um einen solchen Effekt – sollte er wirklich existieren – tatsächlich zu bemerken, muss man in beiden Parcours sehr viele Teilnehmer haben.

 

1) Der erste Test wurde am Freitag, dem 13. Februar 2009, ab 13.13 Uhr im Billstedt-Center durchgeführt, einem Shoppingcenter im Osten Hamburgs. Durch den regen Besucherstrom gab es ausreichend Interessierte für das Experiment – insgesamt nahmen fast 300 Personen teil. Erhöhte der Glücksparcours die Chance auf einen Gewinn? Gingen die wagemutigen Absolventen des Unglücksparcours leer aus? Lassen wir die nackten Zahlen sprechen:

 

Parcours

Trostpreis

Gewinn

Summe

Glücksparcours

137

28

165

Unglücksparcours

96

28

124

Summe

233

56

289

Wie liest man eine solche Tabelle? Zunächst findet man unten rechts die Gesamtzahl der Teilnehmer (289). Diese Zahl wird aufgeteilt in vier Gruppen, die sich aus den beiden Parcoursvarianten und dem Würfelergebnis ergeben (Glücks-/Unglücksparcours, Gewinn/Niete). Die 165 Teilnehmer des Glücksparcours erwürfelten 28 Gewinne (17 %) und die 124 Teilnehmer des Unglücksparcours erwürfelten ebenfalls 28 Gewinne (23 %) – beide Ergebnisse liegen im Rahmen der erwarteten Trefferzahl von ca. 17 % (1/6). Die statistische Auswertung mit dem Vierfelder-Chi-Quadrat-Testergibt eine Prüfsumme von 1,43. Ein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen wäre erst ab einem Wert von 3,84 gegeben (Signifikanzniveau 5 %). Hinsichtlich der Gewinnchance besteht also zwischen den Absolventen von Glücksparcours und Unglücksparcours kein signifikanter Unterschied!

 

2) Das Experiment wurde am 13. März  2009 wiederholt, diesmal auf dem Campus der Hamburger Universität direkt gegenüber des Audimax.

An einem Freitagnachmittag in den Semesterferien herrschte erwartungsgemäß Ruhe auf dem Gelände. Statt wie im Billstedt-Center Schlange zu stehen, um mitmachen zu können, ignorierten außerdem die wenigen Studenten auf dem Campus das Versuchs-Angebot. Daher beschlossen die GWUP-Mitglieder, die Leute direkt anzusprechen, ob sie nicht ihren Aberglauben auf die Probe stellen wollten. Aber was mussten die Skeptiker feststellen? Der wissenschaftliche Nachwuchs zeigte wenig Interesse, bei dem Experiment mitzumachen! Die meisten winkten ab bei der Einladung, im Dienste der Aufklärung an einem Parcours teilzunehmen. Während der Pause einer Klausur (!) im Audimax fand sich dann aber doch noch eine Reihe von Probanden, so dass ein Stichprobenumfang von n=67 Teilnehmern erreicht wurde.

 

Die Ergebnisse im Einzelnen in der gewohnten Tabellenform:

Parcours

Trostpreis

Gewinn

Summe

Glücksparcours

26

5

31

Unglücksparcours

29

7

36

Summe

55

12

67

Die 31 Teilnehmer des Glücksparcours erwürfelten 5 Gewinne (16 %) und die 36 Teilnehmer des Unglücksparcours erwürfelten 7 Gewinne (19 %) – beide Ergebnisse liegen im Rahmen der erwarteten Trefferzahl von ca. 17 % (1/6). Die statistische Auswertung mit dem Vierfelder-Chi-Quadrat-Test ergibt eine Prüfsumme von 0,123, deutlich unter der Mindestanforderung von 3,84 für ein signifikantes Ergebnis. Das Ergebnis des ersten Experiments vom 13.02.2009 wurde also bestätigt.

 

3) Der dritte Test wurde am Freitag, dem 13. August 2010, in der Hamburger Innenstadt durchgeführt. Wie bei den ersten beiden Test mussten die Teilnehmer den Glücks- oder Unglücksparcours absolvieren. Am Ende würfelte jeder und bei einer „6“ gab es einen kleinen Gewinn, ansonsten einen Trostpreis. Aufklärung zum Thema Aberglauben und die anderen Anliegen der GWUP gab es für alle gratis dazu.

Insgesamt nahmen 73 Probanden an dem Experiment teil. Allerdings konnte die Experimentatoren nicht alle auswerten: Vier Probanden hatten sich erst – auf Empfehlung der GWUP-Mitglieder – für den Unglücksparcours entschieden, waren furchtlos unter eine Leiter durchgegangen und hatten eine schwarze Katze über den Weg laufen sehen. Dann schreckten sie aber davor zurück, einen Spiegel zu zerschlagen! Allen vier Probanden erschien das Risiko von sieben Jahren Pech dann doch zu groß. Einer der Abbrecher berichtete auch, dass er sich sonst spätestens beim Verschütten von Salz geweigert hätte – schließlich waren ihm nach dem Umkippen eines Salzfasses schon ganz böse Dinge widerfahren.

Zwei Frauen schienen recht immun gegen die Argumente der GWUP – die eine bezeichnete sich selbst als „Esoterikerin durch und durch“ und verließ den GWUP-Stand nach einer kurzen und eher fruchtlosen Diskussion mit den Worten: „Ich schließe Sie in meine Gebete ein“. Die andere ließ ebenfalls nicht an ihrer Überzeugung rütteln: „Alles ist vorherbestimmt. Es gibt keine Zufälle. Alles hängt zusammen.“ Der Großteil der Passanten war hingegen überrascht und erfreut über das ehrenamtliche Engagement gegen Esoterik und Pseudowissenschaften. Die Regionalgruppe Hamburg verbrachte also einen sonnigen und unterhaltsamen Nachmittag. Und die Ergebnisse?

 

Parcours

Trostpreis

Gewinn

Summe

Glücksparcours

35

3

38

Unglücksparcours

27

4

31

Summe

62

7

69

Nach dem Chi-Quadrat-Test wirkt sich das Absolvieren eines der beiden Parcours‘ nicht signifikant auf die Chance aus, beim Würfeln zu gewinnen (Ergebnis: 0,470, Mindestgröße für ein signifikantes Ergebnis: 3,84). Da für den Chi-Quadrat-Test aber der Erwartungswert in jeder Gruppe mindestens 5 betragen muss (was hier bei den Gewinnen nicht der Fall ist), ist er für diesen relativ kleinen Test nicht geeignet. Er kann nur als Orientierungswert dienen und wird hier zur Vergleichbarkeit mit den anderen Testreihen angegeben.

4) Die vierte Auflage unseres Aberglaubenstests fand am 13.5.2011 statt, und zwar wie schon im Vorjahr in der Hamburger Innenstadt. Der Versuchsaufbau war unverändert, neu hingegen war das grosse Medieninteresse: Vertreter der Hamburger Morgenpost, Radio Fritz und Radio Eins sowie drei Kamerateams verschiedener Fernsehsender hatten sich um 13:13 Uhr vor unserem Stand versammelt und bemühten sich um Interviews und originelle Bilder.

Dem stand eine eher verhaltene Publikumsbeteiligung gegenüber: Lediglich 28 Teilnehmer absolvierten den Parcours insgesamt – relativ gleichmäßig verteilt auf Glücks- und Unglücksseite. Auch gelang es uns nicht, die Mitglieder eines Bibelkreises, die einen Stand auf der gegenüberliegenden Seite aufgebaut hatten, zum Mitmachen zu überreden. Aberglaube, so sagten sie uns, sei zwar falsch, aber eine Überprüfung hinfällig: Wer Jesus erkannt habe, wisse, dass Unglück schlicht und ergreifend das Werk des Teufels sei.

Das können wir natürlich nicht widerlegen, aber wenn dem so ist, dann hat der Teufel im Statistikkurs gut aufgepasst! Hier unsere Ergebnisse in Zahlen:

Parcours

Trostpreis

Gewinn

Summe

Glücksparcours

13

2

15

Unglücksparcours

11

2

13

Summe

24

4

28

 

Nach dem Chi-Quadrat-Test wirkt sich das Absolvieren eines der beiden Parcours‘ nicht signifikant auf die Chance aus, beim Würfeln zu gewinnen.  Wie beim vorangegangenen Test liegen aber keine ausreichenden Daten für eine wissenschaftlich fundierte Aussage vor. Die Zahlen dienen nur als Orientierungswert für den Vergleich mit den vorangegangenen Testreihen.

Fazit: Bisher sind die getesteten abergläubischen Handlungen im Praxistest durchgefallen – die Würfel lassen sich durch vierblättrige Kleeblätter, verschüttetes Salz oder zerschlagene Spiegel nicht beeindrucken. Aber wer weiß: Vielleicht wurden nur die falschen Handlungen durchgeführt, oder die freie Wahl des Parcours hat dem Aberglauben keine Chance gelassen, oder… Die Reaktionen der Teilnehmer und die Diskussionen mit interessierten Zuschauern waren in jeden Fall aufschlussreich und anregend. Die Hamburger Regionalgruppe wird die Tests weiterführen.

Nachtrag: Am 13. April 2012 wiederholten die Hamburger Skeptiker das Experiment. Nicht viele Passanten waren dazu zu bewegen, bei unserem Test mitzumachen (der Stichprobenumfang war also zu klein für eine verlässliche Aussage dieses einzelnen Experiments), doch mit den anderen Experimenten zusammengenommen änderte sich nichts: Glücksbringer bringen kein Glück – Glücksbringer bringen nichts.

Aber die Unglücksbringer schaden zumindest nicht.

Julia Offe ist die Ansprechpartnerin der Hamburger Skeptiker, Inge Hüsgen ist Redaktionsleiterin des „Skeptiker“ und Jochen Bergmann ist einer der beiden stellvertretenden Vorsitzenden der GWUP.

 

Stand: 20.07.2011

Ein Krokodil zu viel …

…erregte im Sommer 2001 die Gemüter nicht nur der Leser der Bild-Zeitung, die täglich große Artikel über den schuppigen Unhold im Rhein brachte.

Ulrich Magin

Es begann am 24. 6. bei Altlußheim in Baden-Württemberg, gegenüber Speyer. Der Radfahrer Michael Berbner, 31, stellt sein Mountain-Bike ab, um eben mal kurz auszutreten, als er aus nächster Nähe ein etwa eineinhalb Meter langes Krokodil erblickt.
„Ich sah das Tier auf einem Baumstumpf über dem Wasser liegen. Völlig regungslos. Aber als ich einen Erdklumpen warf, fauchte mich das Tier wild an, verschwindet im Wasser.“
Die Polizei hält den Zeugen für glaubwürdig, geht davon aus, dass das Krokodil ein Haustier war, das seinem Besitzer lästig und dann einfach ausgesetzt wurde – vielleicht ein Stumpfkrokodil oder Kaiman. So unwahrscheinlich ist das zunächst nicht, ist doch die Geschichte von „Sammy“, dem Kaiman, der vor ein paar Jahren in einen Neusser Baggersee entkam, noch in aller Gedächtnis. Die Bild bildet zur Illustration fortan in all ihren Artikeln zum Rheinkrokodil wahre Krokodilmonster ab, denn ein eineinhalb Meter langes Reptil wirkt nicht wirklich gefährlich. Bald patrouillieren Schaulustige am Rhein, Survival-Experten machen sich in Kanu und Schlauchboot auf die Jagd. Die Polizei sucht mit zwei Booten, allerdings ohne je eine Spur von dem Mostrum zu entdecken. Angler, an sich Experten für den großen Fang, warnen öffentlich, das Tier werde alle Fische im Fluss fressen. Und der Bürgermeister der Rhein-Gemeinde, Hans Wirnshofer, 58, fordert, den gesamten Rheinabschnitt zu sperren. Schließlich kennt man ja den „Weißen Hai“ aus dem Kino. Doch trotz der ganzen Aufregung bleibt das Krokodil verschwunden. Den Zeitungen, und hier vor allem der Boulevardpresse, bleibt nichts anderes übrig, als über die Aktivitäten der Monsterjäger zu berichten.

Das ändert sich am 26. 6. Je nach Quelle bei Eltville oder Rüdesheim in Rheinhessen, stolze 113 Kilometer flussabwärts von Speyer, werden frühmorgens bei der Rheininsel Mariannenaue zwei neue Sichtungen des Untieres gemeldet: Zuerst beobachtet der Kapitän Karl-Heinz Weinert, 58, an Bord des Güterschiffes „Sinn“ um 6.24 Uhr etwas in Wasser: „Ich dachte erst, es sei ein Baumstamm. Doch der schwamm auf die Insel zu und kletterte ans Ufer. Da erkannte ich das Krokodil. Es war bestimmt drei Meter lang!“ Die zweite Sichtung, sie soll kurz darauf durch einen Anwohner erfolgt sein, geistert nur als Nebensatz durch die Presse.

Kann das dasselbe Krokodil sein? Einmal eineinhalb Meter lang, dann gleich aufs doppelte angewachsen? Und so weit vom ersten Auftauchen entfernt? Für Bild ist die Sache klar: Ja, so muss das sein. Und man zaubert gleich die Expertenmeinung hinzu: Ein Tierarzt, Dr. Florian Brandes, erklärt der Zeitung, das Tier habe sich offenbar 113 Kilometer treiben lassen. Als Kaltblüter sei es nicht kräftig genug, die ganze Strecke zu schwimmen. Wieder fahndet die Polizei mit einem Hubschrauber, mit Booten und 20 Beamten. Aber schon tauchen die ersten Skeptiker auf. So erklärt der Leiter der Reptilienforschung des Frankfurter Senckenbergmuseums, Gunther Köhler, gegenüber der Presse: „Krokodile legen in zwei bis drei Monaten maximal 30 Kilometer zurück.“ Aber es ist schon ein Tierpark im Hessischen gefunden, der bereit ist, Kroko aufzunehmen, sollte er oder sie gefangen werden.

Nun geschieht, was immer geschieht, wenn von irgendwo Monster- oder UFO-Aktivität gemeldet wird: Ein Zeuge taucht auf, der das Phänomen längst vor seinem ersten Auftauchen beobachtet haben will. Ein Artikel der Allgemeinen Zeitung (Mainz) berichtet, man habe Kontakt mit einer Frau, die zusammen mit ihrer Cousine bereits am 9. 6. ein Krokodil bei Heidesheim gesehen habe – es lag, nur fünf Meter vom Rheinufer entfernt, im Wasser. Die Polizei habe keine Meldung vorliegen, sagt der Mainzer Polizeisprecher Lothar Neumann, er bitte die Zeitung, die Adresse der Zeugin zu übermitteln. Es geschieht nichts, aber die Presse meldet: „Zwei Krokodile im Rhein?“ Selbst im Ausland gibt es nun regelmäßig Zeitungsmeldungen über „the Rhine crocodile“.

Zumindest scheint jetzt eindeutig, dass sich im Rhein zwischen Mainz und Bingen ein großes Krokodil tummelt. Der Landrat des Rheingau-Taunus-Kreises erlässt ein Badeverbot für die hessische Rheinseite. Polizei und Forstbeamte sind auf Suche zu Wasser, in der Luft und zu Lande. Kameracrews, Journalisten und Abenteurer fahnden nach dem Tier. Am Wochenende wird das Badeverbot verlängert. Gesehen wird das Tier aber nicht. Ein Sprecher der Soko Kroko: „Die Gefahr ist noch nicht vorüber, wir halten weiter nach dem etwa 1,50 Meter langen Reptil Ausschau.“

Allein, das Tier meidet den Rummel und bleibt über eine Woche lang auf Tauchstation. Bild muss die Durststrecke überbrücken, indem es Interviews mit Krokodiljägern sowie Verhaltenstipps bringt, sollten seine Leser dem Unhold begegnen. Dann, am 2. 7. um 22.30 Uhr, lässt sich der Schuppenknecht wieder blicken. Der Kapitän Hartmut Jeschke, 57, und zwei Besatzungsmitglieder des Tankmotorschiffes „Adria“ sehen das Krokodil in einer sternklaren und mondhellen Nacht nahe Bingen. Zuerst war da nur Gepolter an der Bordwand, dann Kroko. „Unter mir schwamm das riesige Krokodil, etwa zwei Meter lang. Mit dicken, braunen Schuppen bedeckt.“, sagt der Kapitän. Und Steuermann Hein Schneider, 65, fügt hinzu: „Es schwamm am Schiff vorbei. Klatschte mit dem Schwanz aufs Wasser, verschwand dann im Strudel der Schiffsschraube Richtung Rüdesheimer Aue. Echt unheimlich.“
Der Polizeisprecher Helmut Oberle hält die Aussagen für zuverlässig. Doch wieder bleibt die Suche mit Hubschrauber und Polizeibooten ohne Erfolg. Bis zum 4. 7. Da nämlich sichten Beamte der Wasserschutzpolizei das Krokodil bei Bad Geisenheim im Rheingau. Träge treibt es nahe des Ufers. Beherzt packen die Gesetzeshüter zu – und fischen ein Holzkrokodil aus den Fluten. Aus einem Baumstamm geschnitzt, stramme zwei Meter lang, 70 kg schwer, mit Kopf, Schuppen und großen Augen. Polizeisprecher Norbert Hübsch: „Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt und ganz schön geschuftet.“ Der Scherz findet Nachahmer. Und so fangen Passanten, die Kroko einige Tage später am Schwanz packen, nur ein Plastikkrokodil. Und das beendet die Saga. Das Holzkrokodil könnte es gewesen sein, dass alle genarrt hatte, präsentiert die Presse schließlich als Lösung der aufregenden zwei Wochen.

Das allerdings ist durchaus nicht die Lösung des Phänomens. Zum ersten muss festgestellt werden, dass ein Krokodil im Rhein so ungewöhnlich nicht ist. Sammy aus Neuss wurde bereits erwähnt, laut Bild soll auch bereits 1929 ein Krokodil im Rhein gefangen und in einen Zoo gebracht worden sein, schon 1914 hat auch der Fischer Gustav Meisch eine Schuppenechse bei Plittersdorf am Rhein aus seinen Netzen gezogen. Und nur wenige Tage nach der letzten Sichtung des Rheinkrokodils fischte die Wiener Feuerwehr nach der Meldung von Passanten ein 70 Zentimeter langes Krokodil aus dem Donaukanal und brachte es in den Tiergarten Schönbrunn. Der Wal im Rhein ist unvergessen, und in Dresden lässt sich alle paar Jahre eine Robbe in der Elbe sehen. Aber kann ein reales Krokodil überhaupt die Lösung gewesen sein? Haben alle Zeugen tatsächlich eine ausgebüxte Panzerechse oder ein geschnitztes Tier beobachtet?

Die Behauptung, ein Holzkrokodil habe die ganze Panik ausgelöst, ist offensichtlich ebenso absurd wie die Vorstellung, ein ständig wachsendes und wieder schrumpfendes reales Krokodil, das zwischen Speyer und Bingen hin- und herpaddelte, sei der Auslöser gewesen. Der Bericht aus Wien und viele andere ähnliche Vorfälle in der Vergangenheit haben gezeigt, dass die eher trägen Krokodile nicht so agil sind, dass sie auf Dauer ihren menschlichen Häschern entkommen können. Und Sammy war viel kleiner, wurde ebenfalls oft genug gesichtet, verstand es aber, den Polizisten und Tierfängern zu entkommen. Untergetaucht jedoch war der nie.

Wahrscheinlicher ist, dass die verschiedenen Sichtungen, besonders nach dem ersten Bericht, von ganz unterschiedlichen Objekten ausgelöst wurden (man kann an Bisamratten denken, Treibholz, sogar badende Hunde), die nur deshalb als Krokodil wahrgenommen wurden, weil die Zeugen aus der Presse wussten, dass ein Krokodil im Rhein schwimmen sollte. Da war eben etwas Großes, offenbar Lebendiges, was so noch nie gesehen worden war, und die Lösung war schon vor der Sichtung bekannt: Ein Krokodil musste es sein.

Nicht anders übrigens entstand im Sommer 1933 die Saga vom Ungeheuer von Loch Ness: Zuerst sah ein Ehepaar nur einen Wasserwirbel, dann deutete die örtliche Zeitung diesen als Zeichen für die Anwesenheit eines Monsters, dann erblickten plötzlich auch andere Zeugen „einen großen Fisch“ im See, und ganz zum Schluss meldeten sich – wie dieses Jahr beim Rhein-Krokodil – auch Leute, die das Ungeheuer schon „vor der ersten Sichtung“ gesehen haben wollten. Auch damals wurden sonst eher unscheinbare Erlebnisse neu gedeutet, als man von der Anwesenheit eines Monsters im See erfuhr. Die Aufregung vom Rhein war also eine ausgezeichnete Gelegenheit, live mitzuverfolgen, wie die Medien aus fast alltäglichen Beobachtungen (es werden nämlich fast monatlich irgendwo in Deutschland Krokodile gesehen, erfolglos gejagt und die Jagd dann eingestellt) eine Monstersaga bastelten. Bis zum nächsten Jahr.

Alligatoren in der Kanalisation?Interessant, spannend und grausig ist sie: die Vorstellung, dass etwas Gefährliches durch die Unterwelt unserer Großstädte kriecht. Kein Wunder, dass auch die Mystery-Serie „Akte X“ die bekannte Geschichte vom „Alligator in der Kanalisation“ streifte:

„Ich denke, es könnte vielleicht eine Python sein … oder eine Boa Constrictor. Vielleicht hat jemand seine Hausschlange in der Toilette heruntergespült. Vor Jahren haben wir einmal in den Kanälen einen Alligator gefunden“, erzählt in der Episode „Der Parasit“ ein Kanalarbeiter den beiden „X“-Agenten Mulder und Scully, die eine geheimnisvolle Kreatur tief unten im Dreckwasser jagen. Tatsache oder urbane Legende? Vielleicht beides. 1963 veröffentlichte der US-Schriftsteller Thomas Pynchon seinen Roman „V“, in dem er unter anderem folgende Mode-Torheit beschreibt: „Letztes Jahr, oder vielleicht in dem Jahr davor, kauften Kinder in ganz Nueva York kleine Alligatoren als Haustiere. Bei Macy’s konnte man sie für 50 Cent bekommen; jedes Kind, so schien es, musste einfach einen haben. Aber schon bald wurden sie den Kindern langweilig …“

Die Folge: „…und nun krochen sie – große, blinde Albinos – überall durch die Kanalisation.“ Diese Passagen brauchte Pynchon zumindest nicht völlig frei zu erfinden: In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts tummelten sich angeblich wirklich Alligatoren in New York. Der Superintendent der New Yorker Abwasserbehörde, Teddy May, habe die zahlreichen Gruselstorys seiner Arbeiter zunächst selbst nicht glauben wollen – bis er sich mit eigenen Augen von der Anwesenheit großer Schuppenechsen in der Kanalisation überzeugte. Mit Rattengift und Gewehren sollen May und seine Leute den Reptilien zu Leibe gerückt sein, die recht zahlreich auch den Bronx River bevölkerten, aber um 1937 allesamt erlegt wurden. Das jedenfalls berichtet der Autor Robert Daley in seinem 1959 erschienenen Sachbuch „World Beneath The City“, für das er ein ausführliches Interview mit Teddy May führte. An dessen Glaubwürdigkeit scheiden sich indes die Geister. Der amerikanische Folklorist und führende „Urban Legends“-Forscher Jan Harold Brunvand von der University of Utah zögert nicht, May einen „Spinner“ zu nennen. Der bekannte Kryptozoologe Loren Coleman hält dagegen die damalige Kroko-Jagd im Großstadtdschungel für glaubwürdig. Darüber hinaus ist bekannt, dass Alligatoren in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts bei mondänen New Yorkern in der Upper East Side als exotisches Status-Symbol hoch im Kurs standen.

Fakt ist, dass die New York Times im Zeitraum von 1905 bis 1993 aber nur 13-mal über Alligatoren, Krokodile oder Kaimane in und um New York berichtet hat – und nur eines dieser Tiere war direkt in der Kanalisation gesichtet worden. Zuletzt machte im Juni 2001 „Damon the caiman“ Schlagzeilen, der von der New Yorker Polizei lebend aus einem See im Central Park gezogen wurde. Irgendetwas an solchen Begebenheiten ist jedenfalls publikumswirksam genug, um sie dauerhaft ins Reich der modernen Mythen zu überführen. Die Wissenschaftsjournalistin Jane Goldman spekuliert:  „Es ist kaum verwunderlich, dass Abwasseranlagen so gut in die erzählerische Volkstradition passen. Sie sind dunkel, stinkend und nur wenige bekommen sie je zu Gesicht. Sie sprechen unsere Urängste an, unsere Faszination für das verborgene Unbekannte, das unter der zivilisierten Oberfläche lauert.“ Bernd Harder

Literatur:

  • Coleman, L. (1983): Alligators in The Sewers. In: Mysterious America. Faber&Faber, Boston
  • Goldman, J. (1997): Die wahren X-Akten, Band 2. vgs, Köln
  • Gatored Community
  • „New York City’s Alligator Population (cryptozoology.com)
  • Alligators in the Sewers

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 4/2001.

Affenzirkus, Pantherjagd und Krokodilalarm

Im Jahre 2001 wurden Großstädte, Badeseen, Flüsse und Wälder zur freien Wildbahn für mysteriöse Kreaturen. Während in Indien ein „Affenmann“ die Bevölkerung in Atem hielt, sorgte in Deutschland neben den schwarzen Panthern (Skeptiker 2/01) vor allem das „Rhein-Krokodil“ für Schlagzeilen

Mark Benecke, Silke Teichmann

Wegen der großen Hitze schlief ich auf dem Flachdach meines Hauses. Plötzlich ein Schatten, dann sah ich ein Ungeheuer weglaufen“, berichtete Vinard Kumar Yadav (19) atemlos in der Bild-Zeitung vom 27. 5. 2001. Zu diesem Zeitpunkt tobte ein mysteriöses Wesen schon in der achten Woche durch Indien. Der Terror hatte am Stadtrand von Delhi begonnen, wo laut Polizeibericht „ein Affe oder ein Mann mit Affenmaske“ die Menschen biss und kratzte. „Komisch, dass keines der Opfer an Tollwut erkrankt“, erklärten die Behörden da noch misstrauisch, „das passiert doch sonst immer“.

Ende April hatten die Bewohner von Kela Bhatta eine Kreatur mittels Schüssen in die Luft vertrieben, in der folgenden Nacht erschien sie drei Arbeitern auf einer Straße in Anand Vihar. „Das Geschöpf wollte uns töten“, gaben die verschreckten Männer zu Protokoll, „außerdem redete es im Bhojpuri-Sprachdialekt“. Am 10. 5. schaute dann erstmals ein Mensch dem Störenfried direkt ins Gesicht. Vineet Sharmas Großmutter, so berichtet es zumindest ihr gerade volljähriger Enkel, sah das „einen Meter vierzig große Geschöpf, das aussieht wie ein Schatten mit Affengesicht. Außerdem hat es rot glühenden Augen.“

Die Tatsache, dass in der Folgezeit manchmal zwei Affenmänner, dann wieder eine „wie eine Mumie weiß bandagierte Gestalt“ (Aussage von Chandrawati Singh, der Ehefrau des Homöopathen Dr. Singh aus Delhis Stadtsektor 22) und schließlich sogar ein zu Tode erschreckter Dieb mit Affenmaske („Ich habe niemanden verletzt“) gefunden wurden, stiftete zunächst keinen Unfrieden. Die ersten und einzigen Todesopfer des Monkey Man waren angeblich ein Eisenbahner und ein Obdachloser, die allerdings Hunderte von Kilometern voneinander entfernt gefunden wurden und beide schwere Schädelverletzungen aufwiesen. Zeugen hatten jeweils „einen Schatten“ in der Nähe der Opfer gesehen.

Sogar in der seriösen Times of India schwankte die Bewertung der Ereignisse anfangs. Berichte und Anfragen der britischen Boulevard-Zeitung The Sun wurden patzig mit der Bemerkung kommentiert, jeder Dritte in England glaube schließlich auch an die Auferstehung Jesu Christi. Als das Tier dann aber nachts Metallklauen schwingend auf einem Skateboard gesichtet wurde, hatte die Stunde von skeptischen Aufklärern wie Sanal Edamaruku erstmals auch in Indien geschlagen, die in Fernsehen und Zeitungen zur Vernunft riefen. Auch der Leiter des Zoologischen Gartens in Delhi erläuterte, dass ein Affe der gesichteten Art im gesamten Umkreis nicht existieren könne, und die international geschätzte Anthropologin Arun Sonakia gab abschweifend, aber wissenschaftlich korrekt zu Protokoll, dass der Mensch sowieso nicht vom Affen abstamme.

Bei der Polizei war bereits am 19. 5. das Fass übergelaufen. Seit diesem Tag nahm sie Menschen, die aus Armen-Siedlungen unbegründete Affenmannsichtungen meldeten, einfach fest. Unschön war, dass das zuletzt sechs Meter große Monster noch mehrere Verkehrsunfälle verursachte und bis zum 15. 6. über hundert Verletzte auf die Polizeiwachen hetzte. Seither ist Ruhe in Delhi.

Die englische Fortean Times, humorig-trockenes weltweites Zentralorgan für Skurriles und Absurdes, kassierte den Affenmann im Auftrag der Leserinnen und Leser sofort mit der ihr eigenen Nonchalance ein. Die rotglühenden Augen seien ein klarer Hinweis darauf, dass es sich um eine „fortianische Entität“ handele. Dieser schicke Begriff leitet sich von dem amerikanischen Exzentriker Charles Fort (1874–1932) ab, der angeblich als erster ungezwungen alle Berichte zu scheinbar paranormalen Erscheinungen in großem Stil sammelte. Die beiden anderen Wesen aus der forteanischen Rotaugen-Liga sind der Mottenmann und das Black Shuck. Während der eher ungefährliche Moth Man erstmals am 14. 11. 1966 in West Virginia auftauchte, wo er seither als Mischung aus Fledermaus und Nachtfalter umhergeistert, ist das Black Shuck schon gruseliger. Das rindsgroße, schwarze Wesen ist seit Ewigkeiten nachts in Norfolk, East Anglia, und Devon zu sehen. Und obwohl es häufig ohne Kopf herumirrt, „leuchten trotzdem dort, wo die Augen sein müssten, grüne, rote oder gelbe Flammen“. Dieses Feuer brennt allerdings nur, wenn Menschen mit einer Lampe in Richtung des raschelnden Ruhestörers leuchten. Daher glauben Naturwissenschaftler, dass es sich am ehesten um die sehr typische Rückstrahlung des Kunstlichts vom Augenhintergrund wilder Tiere handeln muss. Langweilige Spielverderber?

Für folkloristische Betrachtungen war in deutschen TV-Stationen keine Zeit. Auf der Suche nach ordentlicher Affenmann-Footage – die Bilder sollten bewegt sein – kramte eine gutmütige RTL-Archivarin ein Stück Zelluloid heraus, das ebenfalls einen trampelnden Zottel zeigte – nämlich die bekannte, verwackelte Mini-Doku des angeblich 1967 in den USA von Roger Patterson gefilmten Bigfoot. So schaffte es auch der rasch recycelte Bigfoot im Zuge der Affenmann-Berichterstattung am 17. 5. 2001 noch einmal in die Abendnachrichten, um zu illustrieren, dass Affenmänner alle Jahre wiederkommen, und außerdem der Fantasie der zweifelnden Zuschauer ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Auch die Bild-Zeitung konnte sich der verlockenden Footage nicht erwehren, nahm ein Bild aus demselben Filmchen, untertitelte es aber im Gegensatz zum korrekt vertonten RTL-Bericht mit der glatt gelogenen Bildunterschrift: „Das erste Foto des mysteriösen Affenmenschen, der Neu-Delhi in Panik versetzt“.

In den Abend-Nachrichten des größten deutschen TV-Privatsenders RTL verrieten die beiden Autoren des hier vorliegenden Artikels schon am 17. 5. 2001, dass die Verletzungen der angeblichen Opfer kein bisschen wie typische Affenbisse oder -kratzer aussahen und mutmaßten, was viel eher im Affenfell stecken könnte: Ein Mensch – oder ein Hirngespinst. Deshalb suchten sie Bilder von Fabelwesen aus dem 16. Jahrhundert heraus, denn schon damals waren Affenmenschen bekannt. Doch erst weiter eintrudelnde Affen-Meldungen ließen beim Autor (MB) die schlussendliche Glocke klingeln: Abgesehen davon, dass ausgerechnet jugendliche Schelme sowie fast ausschließlich sehr arme Inder, die sich mit ihrer Geschichte ein paar Rupien verdienen konnten, das Monster sichteten, kam mir auch der mittlerweile in indischen Zeitungen favorisierte Verdacht, es handle sich in Wahrheit um einen verkleideten Spion, seltsam bekannt vor. In staubigen Bücherbergen fand sich die Lösung: Vor Jahren hatte der sowjetische Sanitäts-Oberstleutnant V. S. Karapetjan seiner Kollegin Dr. Marie-Jean Kofman erzählt, dass er im Zweiten Weltkrieg in der Nähe der Stadt Buinaksk einen Affenmenschen untersucht habe. Sein Auftrag: Festzustellen, ob diese Kreatur – jawohl – ein „verkleideter Spion“ sei.

„Es war zweifelsfrei kein verkleideter Mensch sondern ein wilder Mensch irgendeiner unbekannten Art. Er stand vor mir wie ein Riese und reckte mir seine mächtige Brust entgegen. Brust, Rücken und die Schultern waren von zottigen Haaren dunkelbrauner Farbe bedeckt. Er war insgesamt beträchtlich größer als alle Bewohner dieser Gegend“, soll der Offizier gesagt haben.

In der ehemaligen Sowjetunion wurden Affenmänner also schon lange vor den Ereignissen in Indien regelmäßig gesichtet und mit bizarr klingenden Legenden geadelt, und zwar im riesigen Faltengebirge, das von Turkestan im Westen über ehemalige Sowjetgebiete bis nach China im Osten reicht. Aus dem Altaigebirge und der südlichen Mongolei werden Affenmänner ebenso berichtet wie aus dem Kaukasus, und so erklärt es sich auch, dass die Berggeschöpfe unter Dutzenden von Namen, besonders als mongolische „Alma“, bekannt sind. Der Glaube an sie saß so tief, dass zwei Universitätsprofessoren in der Mongolei und Russland sogar noch bis Ende der siebziger Jahre Hinweise auf die Tiermenschen sammelten. Schon damals waren die Almas stets groß und breitschultrig. Und sie hatten auch immer glühende Augen.

In China leben die fremden Wesen hingegen gerne auf Bäumen und bauen Nester. In den USA taucht der Bigfoot (Sasquatch) zwar mittlerweile eher als humoristische Gestalt auf, im April 2001 wurden laut New Scientist von einer Expedition um den Zoologen Robert McCall aber auch angebliche Haare und Kratzspuren des Wesens (allerdings an einem Baumstamm in Bhutan) gefunden. „Wir konnten daraus DNA extrahieren“, berichtete der ebenso bekannte wie umstrittene Oxforder Molekularbiologe Bryan Sykes, „aber sie gleicht nicht der von einem anderen Lebewesen, das wir kennen.“ So etwas sei ihm noch nie passiert. Die allzu flinke Schlussfolgerung der Expedition: Die Haare stammen vom lange gesuchten Bigfoot, der Einheimischen zufolge in der Gegend haust.

Während der Monkey Man aus Delhi seinen kurzen Zug durch die Weltpresse machte, trieb auch in Sri Lanka (wiederum laut Bild-Zeitung) zur selben Zeit ein anderer wildgewordener Affe sein Unwesen. Das angeblich sexbesessene Monster versetzte nicht nur Frauen in Panik, sondern auch Kioskbesitzer. Das Geschöpf klaute nachts immer Schokolade – vielleicht als Affrodisiakum?

Ach ja, Fußspuren des Affenmenschen wurden bei den jüngsten Affenereignissen nicht gefunden – keine einzige. Und so hat die Fortean Times wohl doch das letzte Wort: „Vermutlich wird sich die ganze Sache mit einem Ruck und ohne für die Polizei eindeutige Erklärung in Luft auflösen. Wie dem auch sei – wir berichten weiter.“ Viel Vergnügen!

Autoren: Mark Benecke (International Forensic Research Consulting, Köln) und Silke Teichmann (RTL TV, Nachrichtenredaktion, Köln)

Quellen

Affenmann:

  • Times of India, www.timesofindia.com/, 7.–25. 5. 2001 (Autoren: Rashmee Z. Ahmed, Sudeshna Chatterjee, Arun Kumar Das, Vinay Kamat, Lalit Kumar, PTI, S. Raghunath, Parmindar Singh, The Times of India News Service)
  • Fortean Times, Mai (#147) und Juni (#148, S. 8-9), 2001
  • RTL Aktuell (Abendnachrichten) vom 17. 5. 2001 (Autorin: Silke Teichmann)
  • RTL Aktuell (Abendnachrichten) vom 24. 5. 1993
  • Süddeutsche Zeitung Nr. 144/2001 vom 26. 6. 2001, Seite V2/11 (Wissenschaft) (Autor: Mark Benecke)
  • FAZ, 21. 5. 2001, S. 11 (Autor: AFP)
  • FAZ, 30. 5. 2001, S. 52 (Autor: Martin Kämpchen)
  • Die größten Rätsel unserer Welt, S. 254 ff., Deutscher Bücherbund, Stuttgart, 1989 (Autor: Felix Paturi)
  • BILD online 17. 5. 2001, 18. Mai 2001
  • Stuttgarter Zeitung online, 19. 5. 2001
  • AFP, 19. 5. 2001 (Meldungs-ID: AFP 191402 Mai 01, Autoren: ho/ilo)
  • New Scientist online, 2. 4. 2001 (Autor: Andy Coghlan)

Mottenmann:

  • https://www.mothmanlives.com/
  • ttp://www.bigfella.com/violent.dir/mothmn.html
  • https://www.geocities.com/SunsetStrip/Alley/7982/moth.htm

Black Shuck:

  • https://www.norfolkcoast.co.uk/ml_blackshuck.htm
  • https://www.angelfire.com/hi/nightterror/blackshuck.html

Internet-Tipps

  • https://www.benecke.com
  • https://skepdic.com/bigfoot.html
  • https://www.strangemag.com
  • https://www.izoo.org/isc/
  • https://www.uni-mainz.de/~meyec012/studium/yeti.html#3
  • https://www.cryptozoology.com
Yeti auf dem RhonegletscherIn Deutschland trieb am 31. 3. 1990 ein yetiähnliches Ungeheuer sogar vor laufender Fernsehkamera sein Unwesen – allerdings war es nur der TV-Moderator Kurt Felix, der sich für seine Show „Verstehen Sie Spaß?“ im Orang-Utan-Kostüm zum Affen machte und auf dem Rhonegletscher Touristen erschreckte. Hin und wieder berichten Zeitungen auch von vermeintlich echten Yetis und Schneemenschen, die in den Alpen oder in den deutschen Mittelgebirgen aufgetaucht seien. „Der Wunsch, die Berge und Wildnis mit Drachen und zottigen Riesen zu bevölkern, ist immer noch tief in uns“, analysiert der Mythen-Experte Ulrich Magin in seinem Buch „Ausflüge in die Anderswelt“ (Krummwisch-Verlag). „Wird uns die Chance geboten, an diesen uralten Traum zu glauben, wird sie auch wahrgenommen.“

Für Magin sind Yetis, Affenmenschen, Naturelfen, Kobolde und ähnliche Wesen „archetypische und mythische Erlebnisse der lebendigen Tradition eines Volkes“. So genannte fortianische Phänomene seien Ausflüge in das „Wunderland“ des Schriftstellers Lewis Carroll, „in dem die Dinge eine andere Bedeutung haben und das Alltägliche nicht mehr wiedererkannt wird. Etwas passiert im Kopf der Zeugen, wenn sie das, was sie undeutlich gesehen haben, mit etwas Bekanntem zu verbinden suchen. Sind die Erfahrungen bei aller Authentzität häufig vage – etwa die Begegnung mit der ungezähmten Natur –, so sind es die Deutungen nicht: Sie sind immer geprägt von Moden und den Denkmodellen des Zeitgeistes. Helle Lichter am Himmel waren erst Geister, dann Feuerdrachen und heute sollen es Raumschiffe sein. Drachen waren Wassergötter, dann unchristliche Monstren, später noch zu entdeckende Tiere und im evolutionstheorie-begeisterten 19. Jahrhundert überlebende Dinosaurier.“ Und so lebe auch der Berggeist Rübezahl noch immer fort als „Yeti auf dem Rhonegletscher“. Bernd Harder

 

Echs-trem unwahrscheinlich…Haarige, schuppige oder schleimige Monster bevölkern auch die Phantasie von Filmemachern – und zumeist werden sie ins Riesenhafte phantasiert. In Streifen wie „King Kong“, „Godzilla“ oder „Tarantula“ sind es Affen, Reptilien oder Insekten, die durch Atomversuche oder Umweltgifte zu Städte zertrampelnden Großwesen mutieren. Kann es solche Riesenmonster überhaupt geben? Nein, sagt der Saurierforscher Professor Paul Sereno von der University of Chicago. Für ihn markieren die Urzeitechsen mit ihren 50 Metern Länge eindeutig die Obergrenze. Selbst mit zwei Herzen hätten noch größere Tiere das Blut nicht mehr in Kopf und Schwanzspitze pressen können.

Dass es auf der Erde einen Riesenaffen à la „King Kong“ von der Größe eines Hochhauses gibt, verhindert allein schon die Schwerkraft: „Wenn man sich einen Gorilla um das Zehnfache vergrößert vorstellt und die Proportionen beibehält, bedeutet dies, dass die Abmessungen – Länge, Breite und Höhe – um das Zehnfache wachsen“, erklärt das Magazin bild der wissenschaft. „Das Volumen dieses Riesen stiege entsprechend mit der dritten Potenz an und würde das Gewicht auf das Tausendfache erhöhen. Die Querschnittsflächen der Knochen, die das Gewicht tragen, würden aber nur quadratisch zunehmen, also um das Hundertfache wachsen. Der Druck würde sich demnach bei einer Verzehnfachung aller Abmessungen ebenfalls verzehnfachen. Das Ergebnis: King Kong könnte nicht etwa zehnmal schneller laufen wie sein kleiner Bruder, sondern er würde schon nach dem ersten Schritt zusammenbrechen.“

Auch eine Fliege von einem Meter Größe würde am Boden kleben wie ein Felsklotz: Die Flügelflächen hätten sich zwar um das Zehntausendfache vergrößert, dafür aber wäre das Insekt um eine Million Mal schwerer geworden. Die Monsterechse Godzilla könnte in Wirklichkeit ebenfalls nicht buchstäblich in den Himmel wachsen: „Denn mit zunehmender Größe wandert der Schwerpunkt eines Körpers nach oben. Ein großes Lebewesen, das sich auf zwei Beinen fortbewegt, benötigt daher einen feinen Gleichgewichtssinn und motorische Fähigkeiten, damit es nicht stürzt. Außerdem braucht es ein Herz, das noch den höchsten Punkt – normalerweise das Gehirn – mit Blut versorgt. Große Tiere laufen daher meist auf vier Beinen. Damit ist einerseits ihre Körperachse horizontal ausgerichtet, was die Pumpleistung des Herzens weniger beansprucht, und andererseits haut sie nichts so leicht um.“ Bernd Harder

Literatur: Bührke, K.(1999): King Kong unter Druck. In: „bild der wissenschaft“ 10/99, S. 58-60

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 4/2001.

„Sleep all day, party all night, never grow old, never die“

Mark Benecke

Immer neue Filme und Bücher zeigen: Der Dracula-Mythos fasziniert auch uns aufgeklärte Menschen des Computer-Zeitalters. Doch woher kommen die Legenden um untote Blutsauger, spitze Zähne, Särge und Holzpflöcke? Im rumänischen Schäßburg traf sich die Transsylvanische Dracula-Gesellschaft und tauschte statt Blut neue historische und medizinische Erkenntnisse aus.

Tausend Kilometer lang hat es Raps und gelbes Kreuzkraut in die Felder geregnet. Nun beginnt das Reich des Mohns und von Büschen, die wie riesige Schneekugeln in der grünen Landschaft herumliegen. Angemessenerweise strahlt nach dreißigstündiger Zugfahrt auch noch der Vollmond: Die Transylvanian Society of Dracula hat zehn Forscherinnen und Forscher ins Rathaus des irgendwann einmal deutschen Schäßburgs, das heute Sighisoara heißt, gebeten. Hier wurde 1431 Vlad Tepes, der Pfähler, geboren, und hier soll nun ein für alle mal mit den vielen trüben Annahmen aufgeräumt werden, denen gleichermaßen das Andenken des walachischen Herrschers wie seines Romanpendants Graf Dracula unterliegt. Eine haarige Sache, denn erst einmal will die Unterscheidung zwischen historischem und klinischem Vampirismus gelernt sein.

Klinischerseits fällt sofort auf, dass werdende Vampire eine Persönlichkeitsänderung durchmachen: Sie werden aggressiv, denken unlogisch und fangen an zu beißen. So etwas geschieht jedoch nicht nur bei ausgesprochenen Geisteskrankheiten, sondern ebenso bei Tollwut. Genau mit dieser früher weit verbreiteten und gefürchteten Krankheit, so glauben einige Biologinnen und Biologen, könnten Menschen, vielleicht sogar durch wildgewordene Fledermäuse, Bekanntschaft gemacht haben. Dumm an dieser Theorie ist allerdings, dass Tollwut-Ansteckungen durch Fledermäuse nur aus dem tropischen Südamerika, nicht aber aus Europa bekannt sind.

Eine bessere medizinische Erklärung bot erst vor wenigen Jahren der Nicht-Draculaner Professor Reiter vom Wiener Institut für Rechtsmedizin. Er fand, dass besonders die aus dem 18. Jahrhundert überlieferten Obduktions-Berichte von Leichen, denen man vampiristische Umtriebe nachsagte (und die als Tote gelegentlich wirklich durchs Herz gepfählt wurden), stark an eine tödliche Milzbrandinfektion erinnern. Werden Menschen vom Anthrax-Erreger befallen, so können sie sogar eine blutige Lungenentzündung bilden. Den Obduzenten mag das als schräger Beleg für massives Blutschlürfen, allerdings in das falsche Innen-Organ, erschienen sein.

Andere postmortale Leichenerscheinungen können aus einem normalen Toten noch leichter einen Scheinvampir machen. Jeder Leichenbeschauer kennt beispielsweise das Geräusch, das einem Verstorbenen entweichen kann, der auf der Suche nach Rückenverletzungen aufgerichtet wird. Die dabei gelegentlich aus den nun zusammengedrückten Lungen strömende Luft erzeugt nicht nur ein letztes Stöhnen, sondern kann auch vom Austritt rötlicher Fäulnisflüssigkeit aus dem Mund begleitet werden. Leichen, deren Grab nach einiger Zeit wegen übernatürlicher Verdachtsmomente geöffnet wird, liegen darüber hinaus hin und wieder in einer Körperstellung, die nicht mehr der bei der Einsargung entspricht. Der Grund: Leichengase haben die zeitweise geblähten Glieder verrutschen lassen. Ein Tapferer, der da nicht an Vampire denkt.

Aus der Mode kommt damit auch die vielleicht älteste klinisch-naturwissenschaftliche Vampir-Theorie. Sie besagt, dass Porphyrie-Kranke die Wurzel des vampirischen Volksglaubens bilden. Tatsächlich sind die erbkranken Porphyrie-Patienten totenblass und lichtempfindlich – und somit nachtliebend. Sogar ihre Zähne können rot gefärbt sein. Auf einem Gemälde von J.-F. Gueldry aus dem 19. Jahrhundert ist eine Reihe solcher Menschen dargestellt, die mit Ekel im Gesicht frisches Stierblut trinken müssen, um den durch innere Zersetzung und häufige Hautverletzungen bedingten Blutverlust wieder auszugleichen. Ob Gueldry diese Menschen allerdings wirklich gesehen hat, ist fraglich: Bislang sind nicht einmal zweihundertfünfzig Porphyriefälle dokumentiert. Den Nörglern im Fach ist die Krankheit daher zu selten und zu passend, um wahr zu sein. Interessant ist dabei, dass Porphyrie ursprünglich zur Erklärung der „Ätiologie von Werwölfen“ herangezogen wurde. Am 2. 10. 1963 stellte der Londoner Arzt L. Illis auf der Tagung der Royal Society of Medicine einen fürchterlichen Fall von Porphyrie vor, den er einem fotografisch untermauerten Bericht aus dem Jahr 1923 entnahm: Ein narbenübersätes Mädchen mit vom Licht verbranntem Kopf sitzt da traurig auf einem Stuhl und legt die verformten Hände in ihren Schoß. „Die Veranlagung zum Werwolf liegt nach manchen Überlieferungen in der Familie“, sagte Illis damals, „genau wie bei der vererblichen Porphyrie.“ Unsere heutigen Hollywood-Heuler haben dabei wenig mit den Werwölfen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zu tun: Diese zeichnen sich in den Chroniken vor allem durch Narben, Blässe und schwere Entstellungen aus. Nimmt man noch die geistige Verwirrung der echten Kranken hinzu, so ist das Bild des besessenen Wermenschen komplett.

Eine ganz andere, aber ebenso spannende Forschungsrichtung bildet neuerdings der historische Vampirismus. „Was soll daran grausam sein, zwanzigtausend Türken zu pfählen?“, fragt beispielsweise der dröge Historiker Constantin Rezachevici in die Runde. „Vlad handelte doch nur gemäß Herkunftsrecht.“ Und tatsächlich: Der Pfähler war ein gebildeter, aber eben auch fanatisch gerechter Herrscher, der Fremde in seinem Land grundsätzlich nach der Art strafte, die in der Heimat der jeweiligen Übeltäter rechtsgültig war. Die böse Ironie liegt darin, dass die von Vlad beherrschte Walachei, ein Nachbarstaat Transylvaniens, ursprünglich eines der wenigen Länder der Erde war, das ausgesprochen milde Strafen verhängte.

So war es beispielsweise üblich, Straftätern einige Stockhiebe zu versetzen, sie mittels eines Schnittes in die Nase zu markieren oder ihnen eine bis zu fünfjährige Fastenzeit, gekoppelt an eine festgelegte Anzahl der Kirche zu überreichender Geschenke, aufzuerlegen. Selbst aus einem Mord konnte man sich in der Walachei mit etwas Glück freikaufen, und eines der erklärten rechtlichen Ziele war die Besserung der Verurteilten – ein moderner Gedanke, der selbst heutigen Zeitgenossen am Stammtisch eher bitter aufstößt. Vergehen, bei denen man in der Walchei mit zwar gelegentlich geschorener, aber heiler Haut davonkam, wurden in Zentraleuropa zur selben Zeit mit Vierteilen, Verbrennen, lebendigem Begraben oder tödlichem Zerbrechen der Gliedmaßen mittels eines Wagenrades geahndet.

Die Anwendung der strengen, fremdländischen Rechtsregeln gab Vlad einen cleveren Grund, seine Herrschaft nach außen wuchtig darzustellen und zugleich das eigene Land durch Abschreckung nach innen in eine Gegend zu verwandeln, von der bewundernd berichtet wurde, dass man „sogar noch im Wald“ seines Eigentums sicher war. Das konnte angesichts von Wegelagerern und Räuberbanden kein einziges zentraleuropäisches Land von sich behaupten.

Die Strafregeln von Byzanz bis ins türkisch-moslemische Reich kannte Vlad nicht nur deshalb, weil er als Kind von den Türken entführt worden war und daher zeitweise mit dem zukünftigen ottomanischen Herrscher, seinem späteren Feind Mohammed II. aufwuchs, sondern auch wegen seiner zahlreichen Verbindungen ins westliche Europa. Diese bestanden, weil die kleine Walachei, eigentlich ein Spielball der großen Mächte, derart an der Grenze zu den Muselleuten lag, dass Vlads kriegsstrategisches Können für die christlichen Staaten rasch unverzichtbar wurde.

Vlads heute bekannteste Tat, die Errichtung eines Waldes der Gepfählten aus einer unbekannten Zahl ottomanischer Soldaten, die er zum Sterben auf Pflöcke gesteckt hatte, ist dabei nur eine von vielen Spielarten seiner Schreckens-Taktiken. Perfide war auch sein Umgang mit feindlichen Truppen, die in die Walachei eingefallen waren. Anstatt die eigenen Soldaten sinnlos der feindlichen Übermacht zu entgegenzustellen, sandte der Pfähler Nacht für Nacht einige harmlose Störenfriede ins Lager der Feinde. Sie traten dort, oft in Kleidung des Feindes gewandet, einen Überfall-Alarm los, machten sich im enstehenden Chaos aber sofort wieder aus dem Staub. Tagsüber schnitt Vlad denselben Truppen, die, wie im fünfzehnten Jahrhundert üblich, grundsätzlich keine Verpflegung mitführten, durch unsichtbare Umzingelung in seinen Waldgebieten alle Versorgungsadern ab. „Nach fünf Tagen und Nächten“, berichtet der rumänische Historiker Mircea Dogaru den verblüfften Dracula-Kundlerinnen und Kundlern, „waren die ottomanischen Soldaten auch ohne Gegenangriff an Ende. Hungrig, durstig und übermüdet fielen ihnen die Waffen aus der Hand.“ War Vlad also ein friedlicher Taktiker?

Nicht ganz. Die Pfählung war beispielsweise nicht nur eine grausam-langsame, sondern auch besonders entwürdigende Todesart: In den Augen der türkischen Krieger erhielt ein Gepfählter durch die phallische Nebenbedeutung des Tötungsinstrumentes ein weibliches Attribut. In einer seiner drei Herrschaftsperioden ging Vlad sogar gegen Steuersünder im eigenen Land mit Pfählungen vor – allerdings erst nach der zweiten Mahnung. Das alles quittieren heutige Rumäninnen und Rumänen mit nachsichtigem Augenzwinkern, andererseits wirkte der bis heute hochgeschätzte Fürst zu einer Zeit, in der es das heutige Rumänien noch nicht gab.

Dass Vlad bis zu seiner Ermordung im Jahr 1476 auch erhebliches Glück hatte, zeigt sich am besten daran, dass er aus einer vom Papst persönlich angeordneten Haft freikam, weil er an der Spitze eines Kreuzzuges gebraucht wurde, der den Christen machtpolitisch gerade in den Kram passte. Göttliche Hilfe oder teuflisches Geschick? Und wie fügt sich das alles mit dem Grafen Dracula zusammen, den wir als charmanten Blutlecker aus dem Kino kennen?

Es fügt sich vorne und hinten nicht. Aufgedröselt hat das in den letzten Jahren vor allem Elisabeth Miller aus Kanada, die kürzlich die in einem Bauernhaus aufgetauchten Original-Notizen Bram Stokers sowie die dazugehörige Literaturgeschichte durchgeackert hat. „Ein echter Bestseller wurde Stokers Roman Dracula erst nach seinem Tod“, sagt die drahtige Professorin, „aber immerhin ist das Buch seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1897 durchgehend lieferbar gewesen“. Blickt man genauer in Stokers Notizen und die Romanfassung, so lösen sich schöne Vorurteile um den nokturnen Düsterling reihenweise in Sonnenlicht auf. Dass Vlad der Pfähler nie in Transylvanien geherrscht hat, ist den Skeptiker-LeserInnen schon weiter oben aufgefallen. Und dass der literarische Graf Dracula mit dem echten walachischen Voivoden Vlad nicht viel zu tun haben kann, zeigt sich daran, dass eigentlich dessen Vater den Beinamen Dracul führte. Diese Bezeichnung stand aber nicht für den damals in der Walachei mit Drachen verbundenen Teufel, sondern war ein westlicher Ordenstitel, den Vlad senior im Jahr 1431 ausgerechnet in Nürnberg vom Herrscher des Heiligen Römischen Reiches erhalten hatte. Die Mitgliedschaft im Drachen-Orden brachte nicht nur Ehre, sondern verpflichtete vor allem zum Kampf gegen Nichtchristen und war damit gerade das Gegenteil alles Teuflischen. Vlad junior, der spätere Pfähler, wurde nur aus diesem Grund ein Dracula: „der Sohn von Dracul“.

Roman- und Theatermann Stoker griff auf die beiden realen Draculas zurück, nachdem er ein 1820 erschienenes Buch über Moldavien und die Walachei in einer Bibliothek im britischen Whitby entlieh. Nur dort taucht der Name der Fürsten auf und wird in den missverständlichen Bezug zum Teufel gesetzt. Stoker selbst war niemals in Osteuropa, geschweige denn im Bereich des heutigen Rumäniens. Vielleicht hätte er nach einem Besuch der Gegend die Heimstatt des Gruselfürsten auch nicht in den Borgo-Pass verlegt: Erstens gibt es dort kein Schloss (das jetzt dort bestehende Castle Dracula Hotel ist ein Touristengag aus den 1980er Jahren), und zweitens verwendete Stoker durch seine Ortsferne eine teils falsche Beschreibung der Gegend. „Obstgärten und waldige Täler gibt es am Borgo-Pass wirklich“, erklärt die kanadische Dracula-Gelehrte Miller dazu, „aber die wild zerklüfteten Wege hat Stoker aus einer Reisebeschreibung kopiert, die eine andere Ecke der Karpathen beschreibt.“ Desillusionierend? Das war noch nicht alles.

„Der Pfähler“ wurde der walachische Woiwode Vlad Tepes genannt – weil er türkische Gefangene auf stumpfen Holzstangen aufspießen ließ. Vlad entsprach perfekt dem Bild eines adligen Schurken osteuropäischer Abstammung, den Bram Stoker für seinen „Dracula“-Roman brauchte.
Die romantische Geschichte, nach der Vlads erste Frau sich tötet, als sie eine an einen Pfeil geheftete Nachricht entdeckt, auf der zu lesen ist, dass die heimische Burg von Türken umzingelt ist, wird ebenfalls durch kein historisches Dokument gestützt. Selbst wenn sich einmal echte mittelalterliche Schriftstücke finden, geben sie oft genug nur Märchen wieder, die über Buda, die mächtige Hauptstadt Ungarns, gezielt nach Rom und Deutschland gestreut wurden. Eine besonders bizarre Kostprobe, die der US-amerikanische Historiker Kurt Treptow in einer deutschen Quelle ausgegraben hat, lautet: „Als Vlad einmal auf der Straße einen Arbeiter fragte, warum dieser ein kurzes Hemd trage, sagte der, dass seine Frau es gemacht hätte. Darauf befragte Vlad die Frau, was sie den Tag über treibe, und sie antwortete: „Waschen, kochen und weben.“ Da ließ Vlad sie pfählen, gab dem Mann eine neue Frau und schärfte ihr unter strengster Strafandrohung ein, sie solle immer nur langärmlige Hemden für ihren Mann herstellen.“ Eine andere Geschichte erzählt, dass Vlad gefangene Tartaren gezwungen habe, ihre bereits von ihm gebratenen Anführer aufzuessen oder ab sofort in seiner Armee zu kämpfen – „was diese dann bevorzugten“.

„Alles nicht ernst zu nehmen“, lautet das gemeinsame Urteil der auf dem Kongress anwesenden Geschichtskundler. Es handelt sich um Geschichten, die den Pfähler in ein wahlweise schlechtes oder besonders wehrhaftes Licht rücken sollten und sich irgendwann als erzieherische Stories verselbstständigten – mittelalterliche Großstadtlegenden also.

Der Untergang der Dracula-Legende steht trotz alledem nicht bevor. So haben der schlitzohrige Präsident der Transylvanian Society of Dracula, Nicolae Paduraru, sowie das rumänische Tourismusministerium gleich am Kongressort die Gründung eines riesigen Familien-Dracula-Landes angekündigt. Die potentiellen Themenpark-Macher haben Glück. Wie sich beim diesjährigen Kongress herausstellte, ist der Roman-Vampir Graf Dracula nicht gegen Sonnenlicht empfindlich: Im Stokerschen Buch wandert er mehrfach am Tage durch Straßen und Pfade. Nur eins verliert die Roman-Figur, wenn sie zu hell angeleuchtet wird: Ihre magischen Kräfte. Drum schließen wir hier den quietschenden Deckel seiner Lieblingskiste und lassen ihn vorerst in Frieden ruhen – bis er beim nächsten Kongress wieder ins wissenschaftliche Rampenlicht treten muss.

Die besondere Gruftnote: Vampire unter uns

„Ich wurde unverzüglich von einem Mann angesprochen, der einen schwarzen Gehrock und eine schneeweiße Krawatte trug. Er hatte schwarze Haare und einen sorgfältig gestutzten Bart, der in einer dünnen Linie von seinen Ohren ausgehend um seine Lippen lief und sich über den kleinen weißen Vampirzähnen leicht kräuselte. Seine Wangen waren glattrasiert, und ich schätzte ihn auf Mitte 30. ,Tagsüber bin ich Bauarbeiter’, eröffnete er mir. ,Aber ich sehe mich selbst als Vampir…’“

So schildert die amerikanische Journalistin Katherine Ramsland ihren ersten Kontakt mit der New Yorker Vampir-Szene. Dahinter verbirgt sich eine Subkultur aus schätzungsweise einigen hundert Menschen, die die Vampir-Mythologie in ihr Leben und in die moderne Kultur integrieren. Landesweit sollen rund 10 000 Mitglieder zum harten Kern der Vampirgemeinschaft zählen, behauptet das „Vampire Research Center“; die Anzahl der Interessierten an der Pheripherie sei ungefähr zehnmal so hoch. Vampir-Communities existieren außer in New York angeblich in New Orleans, Los Angeles, Chikago und London.

Die meisten heutigen „Vampire“ leben eine Art ästhetischen Fetischismus aus: „Es gefällt mir, wie wir unsere Phantasien sexuell, theatralisch und romantisch ausleben und wie wir Kostüme benutzen, um es richtig echt aussehen zu lassen“, erklärt der ehemalige Zahntechniker „Father Sebastian“, eine Schlüsselfigur der New Yorker Szene. Zum Vampir-Lifestyle gehört unter anderem das Tragen von Zähnen, Kontaktlinsen, blassem Make-up sowie ein bestimmtes Sozialverhalten. „Vampire können entweder einsame Wesen sein oder sich zu Zirkeln zusammenschließen“, erzählt „Father Sebastian“ weiter. „Ein Zirkel ist eine Gruppe von Freunden und/oder Liebhabern, die sich ein Versprechen gegeben haben. Enge Zirkel haben selten mehr als drei bis fünf Mitglieder, während etwas offenere Zirkel bis zu 13 Mitglieder haben können.“ Übrigens unterscheidet Sebastian zwischen „Vampir“ und „Vampyr“: „Wenn wir Vampir sagen, meinen wir das Wesen aus den Legenden. Mit Vampyr meinen wir die modernen Vampir-Liebhaber.“

Ihren Besuch in einem geheimen New Yorker Vampir-Club schildert Katherine Ramsland so: „Die vorherrschende Farbe der Kleidung ist Schwarz, Kerzen oder gedämpftes Licht verstärken die Atmosphäre. Die Männer tragen vielfach Spazierstöcke und überladen ihre Hände mit Silberschmuck; Frauen tragen Kleider, Korsagen, Hüte und Frisuren in einem phantastischen Stil. Ich sah ein Mosaik aus schweren Halsbändern, Plateaustiefeln, engen schwarzen Jacken, schwarzem Lippenstift, Bauchnabel-Ringen, langen silbernen Krallen, Totenkopf-Hemden und Latexkleidung jeglicher Art. Es gab nichts Billiges oder Abgetakeltes hier.

Mir fiel eine Frau in einem langen, schwarzen Kleid auf, die einen breitrandigen Hut mit einem schwarzen Spitzenschleier trug, der ihr Antlitz verbarg. Ich nahm an, dass sie durch ihn hindurch sehen konnte, aber ich vermochte ihr Gesicht nicht zu erkennen. Eine andere trug enge, schwarze Hosen, hochhackige Schnürstiefel und eine Gummi-Korsage. Einige trugen Vampir-Make-up (etwas Blut im Mundwinkel, um ein Mahl vorzutäuschen), und viele waren mit spitzen Zähnen ausgestattet, aber andere zeigten einfach ihr wahres Gesicht. Jeder der Anwesenden ging seinen eigenen Wünschen und Vorlieben nach, ohne die anderen zu verurteilen.“ In einigen Clubs überschneiden sich Vampir-Partys offiziell und inoffiziell mit der S/M-Szene.

Ein großer Teil der Vampir-Kultur besteht aus Maskerade und Spiel. Daneben gibt es aber auch „Vampire“, die sich gegenseitig die Haut aufschlitzen, um einander ihr Blut darzubieten – oder gar zu trinken. Dieser Austausch wird in erster Linie als Transfer von Lebensenergie betrachtet. Es geht dabei weniger um das Blut selbst als um die Empfindung von Nähe und Erregung. Der selbst ernannte New Yorker Vampir Ethan Gilcrest etwa bezeichnet Blut als „flüssige Elektrizität“. Oft bleibt es dabei aber auch nur beim Saugen an der Hautoberfläche, wobei höchstens „Knutschflecken“ entstehen.

Die dritte zahlenmäßig bedeutsame Gruppe in der Vampir-Subkultur bilden die so genannten Psycho-Vampire. Diese sind überzeugt, von der „Aura“ anderer Menschen zehren und ihnen auch ohne deren Wissen „Kraft“ rauben zu können. Was ist davon zu halten? „Ich habe einige Menschen kennen gelernt, die angaben, psychische Vampire zu sein“, schreibt Ramsland. „Sobald ich sie jedoch einem Test unterzog, hatten sie alle möglichen Ausreden parat, warum nichts dabei herauskam. Ich forderte sie auf, sich an mir zu versuchen – ich wollte herausfinden, wie es sich anfühlt, wenn einem die Lebenskraft ausgesaugt wird. Sie lehnten immer ab, entweder weil sie nicht wollten, oder weil ich zu konzentriert war oder zu den seltenen Menschen gehörte, die dagegen immun seien.“

Der Kölner Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke, der die Vampir-Szene in New York ebenfalls über mehrere Jahre ausforschte, hat bei vielen „psychischen Vampiren“ eine gedämpfte, melancholische, ins Depressive gehende Grundstimmung ausgemacht – „nicht klinisch auffällig, aber als ein Charaktersplitter“. Denkbar, dass Jugendliche und junge Erwachsene, die glauben, selbst nicht genug „Lebenskraft“ zu produzieren, im psychischen Vampirismus eine Art Junkfood-Spiritualität suchen, die ihnen das Gefühl von Macht und Kontrolle über die Umstände und zugleich die Sinnlichkeit verleiht, die sie vermissen. Darüber hinaus scheint der psychische Vampirismus ein Mittel zu sein, die Verbindung mit okkulten Kräften vorzutäuschen.

Wie jede Subkultur ist auch die Vampir-Szene sehr vielfältig und die Übergänge zwischen den einzelnen Ausprägungen (bis hin zum pathologischen Blut-Fetischismus) fließend. Der amerikanische Religionswissenschaftler Mark T. Spivey wagt die Prognose, dass „der Vampirmythos wächst und sogar zu einem eigenen Lebensstil wird“. Zu den Gründen meint Spivey: „Ich glaube, der Vampir gibt diesen Leuten ein gesteigertes Selbstwertgefühl. Vampire offerieren den Teenagern Selbstbewusstsein. Sie erleichtern es ihnen, traurig, ein Außenseiter und missverstanden zu sein. Das Daseins des Vampirs, wie immer es beschrieben wird, ist eine genaue Kopie des Generation-X-Lebensgefühls: dunkle, mysteriöse Antihelden, die sich vom Blut der Gesellschaft ernähren, um zu überleben – und überleben wollen sie auf jeden Fall.“

Katherine Ramsland indes zeigte sich am Ende ihrer Recherchen eher enttäuscht: Die moderne Version des Vampirs – herkömmliche Nahrung essen, Energie stehlen, Verhaltensregeln aufstellen, in Clubs tanzen – sei in keiner Weise vergleichbar mit dem pulsierenden Mysterium, das dem klassischen Vampir in der Literatur und auf der Leinwand anhaftet. Bernd Harder

Blut-Ergüsse

Voltaire nahm den Vampir als Bild für den Adel, der sich mit aller Macht gegen das aufstrebende Bürgertum wehrt und seine Dominanz zu retten versucht, Karl Marx wenig später fürs Kapital. Der zeitgenössische Bestseller-Autor Stephen King ist dagegen fasziniert von Dracula und Co., von deren Anarchismus und zeitloser Existenz: „Vampire leben ewig. Sie haben keinen festen Job und müssen sich keinen Arbeitszeiten unterwerfen. Sie sind die ganze Nacht unterwegs und schlafen den ganzen Tag. Und sie haben eine starke sexuelle Natur.“

1897 brachte der irische Schriftsteller Bram Stoker seinen Briefroman „Dracula“ heraus. Binnen kurzem verkaufte sich das Grusel-Epos mehr als eine Million Mal – eine Tatsache, die wohl erst in zweiter Linie etwas mit der literarischen Qualität des streckenweise recht zähen Schauerstücks zu tun hatte. Denn unter ihrer unheimlichen Oberfläche ist Stokers Erzählung eine subtile Metapher auf die Doppelmoral und ängstliche Lustfeindlichkeit des viktorianischen Zeitalters: „Dracula“ als zwielichtiger Anti-Held auf einem Kreuzzug gegen Tabus und Prüderie, geradezu über-sinnlich den sexualpsychologischen Dreiklang Blut, Lust und Tod anschlagend.

Mehr als 200 Mal ist „Dracula“ seither allein fürs Kino seinem Grab entstiegen. Berühmte Autoren, von Alexandre Dumas oder Arthur Conan Doyle bis hin zu Gogol und Maupassant, haben dem Vampir-Mythos frisches Blut zugeführt; denn „Dracula“ erweist sich immer wieder aufs Neue als Projektionsfläche, die größer ist als jede erzählerische Phantasie. „In die Figur des Vampirs lässt sich alles, aber auch wirklich alles hineinlesen“, urteilt der Spiegel: „Mal ist er Liebhaber und Verführer, mal Blutsauger und Zerstörer. Er ist böse und triebhaft, witzig und weltläufig, süchtig nach Blut und sehnsüchtig nach Verschmelzung, ein Untoter ohne Ruhe und ein Rastloser, der sich nach ewigem Schlaf sehnt.“

Wann aber der letzte Sargdeckel für den Blutsauger fällt, ist ungewiss. Zu tief wurzelt die Figur in den kollektiven Sehnsüchten, Ängsten und verdrängten Trieben von uns Normalsterblichen. Wie heißt es in einem aktuellen Vampir-Buch treffend: „Sleep all day, party all night, never grow old, never die!“ Bernd Harder

Dr. Mark Benecke arbeitet international als Kriminalbiologe. Für die Transylvanian Society of Dracula ist er der „Konsul der Rheinlande“ und führt derzeit auch den Vorsitz der Gesellschaft. Er ist Autor des Buches „Der Traum vom ewigen Leben“ (Kindler, 1998) und gehört dem Wissenschaftsrat der GWUP sowie dem wissenschaftlichen Beirat des Skeptiker an. Weitere Informationen: www.benecke.com

Bücher:

  • Hans Meurer: Vampire – Der dunkle Mythos von Blut, Lust und Tod, Eulen-Verlag, Freiburg 2001
  • Katherine Ramsland: Vampire unter uns, vgs-Verlag, Köln 1999
  • Raymond T. McNally/Radu Florescu: Auf Draculas Spuren. Die Geschichte des Fürsten und der Vampire, Ullstein-Verlag, Frankfurt 1996
  • Christopher Frayling: Alpträume. Die Ursprünge des Horrors, Vgs-Verlag, Köln 1996

Internet-Tipps:

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 3/2001.

 

Schwarz wie die Nacht, mit glühenden, gelben Augen

Bernd Harder

Sie sind pechschwarz wie die Nacht oder beigefarben. Sie haben ein glänzendes, glattes Fell und einen langen Schwanz. Ihre Augen glühen gelb. Man kann sie weder fangen noch fotografieren. Und doch streifen sie angeblich durch unsere Wälder und Großstädte: geheimnisvolle Riesenkatzen, die von Augenzeugen als Panther, Puma oder Löwe identifiziert werden.

So wie in Berlin. Am 23. 8. 2000 erreicht gegen 10.30 Uhr ein ungewöhnlicher Notruf die Polizei: In einem Gewerbegebiet treibe sich ein „großes, dunkelbraunes Tier, größer als ein Schäferhund“ herum. 60 Polizeibeamte, 15 Feuerwehrleute, ein Jäger und ein Tierarzt durchsuchen daraufhin das Gebiet südwestlich des Stadtteils Krummensee bis zur Autobahn A 13. Zwei Hubschrauber versuchen das exotische Raubtier aus der Luft zu orten – jedoch ohne Erfolg. Das Tier war zunächst von einer Frau im Gewerbegebiet in Schenkendorf gesichtet worden. Kurz darauf macht ein 15-jähriger Junge eine ähnliche Beobachtung in einem Waldstück nahe des Sees. Gerüchte, dass auch Polizisten das Tier im Wald gesehen hätten, kann das Polizeipräsidium Potsdam allerdings nicht bestätigen. Nach Aussagen der Zeugen habe das Tier braunes Fell und einen „gelassenen“, katzenartigen Gang, aber keine Mähne. Daraus schließt die Einsatzleitung zunächst, es handele sich vermutlich um eine Löwin. Die Beobachtungen seien sehr ernst zu nehmen, heißt es. Die Polizei setzt Funkstreifenwagen ein und fordert die Bevölkerung per Lautsprecher auf, die Häuser nicht zu verlassen und sich von dem Wald fern zu halten. Ein Gruppe von Kindern wird sogar von einer Polizeistreife aus einem Krummenseer Café evakuiert und nach Königs Wusterhausen gebracht. Fährten, die die Einsatzkräfte finden, entpuppen sich als Spuren von Wildschweinen und Hunden. „Wir haben nichts entdeckt, was auf ein Raubtier hindeutet“, erklärt Polizeisprecher Geert Piorkowski schließlich. „Löwe, Hund, Pony oder Ente?“, titelt die Berliner Morgenpost.

Drei Tage zuvor in Bayern: Polizei und Jäger im Landkreis Pfaffenhofen sind – zum Teil mit Maschinenpistolen bewaffnet – auf Großwildjagd, seit mehrere Zeugen gemeldet haben, einer schwarzen Raubkatze begegnet zu sein. Etwa 1,80 Meter lang soll sie sein, womöglich ein Panther oder ein Jaguar – so die Beschreibung eines Spaziergängers, der das Tier am Abend des 20. August gesehen haben will. Als das mysteriöse Wesen ihn bemerkt habe, sei es in den Wald geflohen. Ein Hubschrauber sucht die Umgebung mit Wärmebildkameras ab, ohne das Rätsel erhellen zu können. Derweil berichtet eine Pfadfindergruppe von einem „großen Tier“ in der Nähe des Klosters Steinerskirchen. Auch eine ältere Dame meldet sich auf dem Pfaffenhofer Polizeirevier. Sie habe beim Gassigehen mit ihrem Hund gegen 7.10 Uhr am Morgen das Hinterteil eines „großen schwarzen Tieres mit einem langen Schwanz“ erspäht, bevor es in einem Maisfeld verschwand. „Die Sache ist schon seltsam“, sagt ein Polizeisprecher. Einerseits werde nirgendwo ein schwarzer Panther vermisst. Andererseits seien die Zeugen durchaus sehr glaubhaft.

Wenn Kanadier am flackernden Kaminfeuer sitzen, schottische Wissenschaftler im Schein ihrer Computerbildschirme diskutieren oder Nomaden im Himalaya beim Rinderhüten plaudern, dann haben sie alle ein Thema: die gefährlichen Monster ihrer Heimat: Bigfoot. Nessie. Yeti. Im Bayerischen Wald treiben immerhin Wolpertinger ihr Unwesen. Zum Glück sind die kleinen Pelz-Feder-Viecher vom Gemüt her der Bevölkerung Bayerns ziemlich ähnlich – gemütlich und wenig blutrünstig. Und die schwarzen Großkatzen? Falls einem der Panther begegnet, sollte man keinesfalls auf ihn zugehen oder ihn gar in die Enge treiben, raten Raubtierexperten. Auch Weglaufen wird nicht empfohlen, da sonst der Jagdtrieb geweckt werden könnte. Am besten sei es, stehen zu bleiben und dem Tier in die Augen zu schauen. Spätestens dann würden Panther weglaufen. Bleibt allerdings die Frage, ob Zoologen wirklich die richtigen Ansprechpartner in Sachen Geisterkatzen sind.

Ein einziger Panther benötigt 250 Rehe als Futter pro Jahr. Doch bisher fand man in Deutschland keine Anzeichen dafür, dass sich die Rotwild-Population derart verkleinert hätte. Eine Raubkatze „muss sich ernähren, sie hinterlässt Kadaver der getöteten Tiere und Exkremente, sie plündert Mülltonnen und wird wahrscheinlich irgendwann einmal fotografiert“, weiß der deutsche Mythenforscher Ulrich Magin. All dies geschah jedoch auch dieses Mal nicht – weder in Berlin noch in Pfaffenhofen. Auch nicht in Saarbrücken. Dort hielt 1992 wochenlang eine geheimnisvolle schwarze Raubkatze die Bevölkerung in Atem. Täglich meldeten sich Bürger, die eine Großkatze in freier saarländischer Wildbahn beobachtet haben wollten. Die Behörden legten eine Panther-Akte und und rückten mit Hunde-Staffeln aus. Ohne Ergebnis. „Gustav“ taufte ein Journalist die mysteriöse Erscheinung – „weil sie sich so eisern versteckt hält“.

Doch wenig später brach die Panther-Panik von neuem aus: Zuerst im niederbayerischen Landkreis Landau/Isar, dann in Parsberg in der Oberpfalz. Zwei Angler behaupteten, am Ufer der Laaber streune eine große schwarze Katze herum. Im bayerischen Deggendorf wollten im Frühjahr 1993 ebenfalls zahlreiche Menschen einen Panther gesehen haben. Viermal ordnete die Polizei Treibjagden an. Alle waren vergeblich. Im vergangenen Sommer spürten die Behörden einem Panther bei Bad Camberg in Hessen nach. „Panther fressen keine Hessen“, amüsierten sich die örtlichen Medien über die ergebnislose Aktion.

Natürlich reißen hin und wieder tatsächlich exotische Tiere aus Gehegen oder zoologischen Gärten aus. Doch in der Regel werden solche realen Geschöpfe schnell entdeckt, von Tierfängern oder der Polizei gestellt und getötet oder eingefangen. Jüngstes Beispiel: Der Tiger „Sahib“, der im Dezember 2000 beim Zirkus Sarrasani ausbüxte und einen Tag lang quer durch Wiesbaden flüchtete – ehe er mit einem Betäubungsgewehr außer Gefecht gesetzt werden konnte. Reichlich Stoff für ein Stück à la „Menschen, Tiere, Sensationen im Großstadtdschungel“ lieferten auch Brillenkaiman „Sammy“ und Känguru „Manni“, das 1998 dem Zoo von Bad Pyrmont den Rücken kehrte und am Ende von einem Zug überfahren wurde.

Bemerkenswert: Auch während „Mannis“ kurzer Exkursion gab es zahlreiche Phantom-Sichtungen. Mal wurde der graue Hüpfer beim Rübenfrühstück in Hameln beobachtet – und gleichzeitig 160 Kilometer weiter nördlich in einem Maisfeld bei Stade. Diese Tatsache weist womöglich auch einen neuen Weg zur Erhellung der Panther-Epidemie in Deutschland. Beziehungsweise zu jenen katzenähnlichen Wesen, die von Skeptikern als „fliegende Untertassen der Tierwelt“ bezeichnet werden.

Ein Panther jagender Polizist aus dem Dorf Fürth im Kreis Bergstraße lässt sich vorsichtig ein, dass „nicht alles, was zuverlässige Zeugen sehen“, Realität sein müsse. Wahrnehmungspsychologen haben längst herausgefunden, dass unser Gehirn eine Art „Glaubensmaschine“ ist – die uns hilft, Dinge vorzufinden, von denen wir glauben, dass wir sie vorfinden werden. Selbst wenn es sie in Wirklichkeit gar nicht gibt. „Irgendwo da draußen“, folgert Mythen-Fachmann Magin, „im dunklen Wald, packt manchen die Angst vor der Begegnung mit einer Natur, die noch nicht vollkommen unterworfen erscheint, vor einer Wildnis, in der viele ohne die Errungenschaften der Zivilisation nicht überleben könnten. Und hin und wieder faucht diese feindliche Natur aus dem Gebüsch, wie sie schon vor 500 Jahren unsere Vorfahren bedroht hat. Wo sie Werwölfe sahen, sehen wir heute exotische Raubkatzen. Ein Stück der in Zoos gebändigten Natur, das uns wieder entglitten ist.“

 

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 2/2001.

Geisterfahrer auf der Datenautobahn

Bernd Harder

Kennen Sie die Geschichte vom Döner-Wurm, der sich durch den Körper ins Gehirn frisst? Haben Sie auch schon gehört, dass Getränkedosen tödlich sind? Höchst wahrscheinlich. Denn Wander-Sagen haben wieder Hochkonjunktur – vor allem übers Internet. Hier vier aktuelle Beispiele aus dem Bereich Medizin.

Döner-Wurm – Erschreckend, oder?

„Eine Studie der deutschen Lebensmittelkontrolle hat bei Qualitätsüberprüfungen festgestellt, dass in jedem zehnten Kebab Wurmeier zu finden sind. Diese Eier und entstehenden Larven sind gegen Magensäure resistent! Sie haben die gleichen Eigenschaften wie unser heimischer Fuchsbandwurm, das heißt sie fressen sich langsam durch den Körper zum Gehirn. Diese Eier entstehen durch das lange Warmhalten am Spieß.“

Tatsächlich? Glaubt heutzutage noch jemand an Ur-Zeugung? Anscheinend, denn ansonsten hätte dieser E-Mail-Kettenbrief kaum eine beachtliche Verbreitung finden können. Es mag sein, dass die tierischen Kebab-Fleischlieferanten hin und wieder Bandwurmeier mit der Nahrung aufnehmen. Und in der Tat widerstehen solche Parasiten der zersetzenden Wirkung von Magensäure – jedoch nur, wenn sie die Zubereitung des Fleisches am Spieß überleben, was äußerst unwahrscheinlich ist. Außerdem: Auf dem farbigen Schock-Foto, das der Döner-Warnung meist als Attachement angehängt ist, frisst sich kein Wurm durch ein menschliches Auge, sondern eine tropische Insektenlarve, nämlich die der Dasselfliege (Dermatobia hominis). So gesehen, gehört der Tod bringende Wurm im Döner wohl in die selbe Kategorie wie Rattenzähne oder Fingernägel im Hamburgern, von denen diverse Großstadtlegenden seit langem erzählen. Andere zeitgenössische Fast-Food-Mythen ranken sich zum Beispiel um Gen-manipuliertes, künstliches Hühnerfleisch bei „Kentucky Fried Chicken“ oder um „Mayonnaise“ aus Sperma, für die ein masturbierender Angestellter bei „Burger King“ oder „Pizza Hut“ verantwortlich ist. Möglicherweise bricht sich in solchen Ekel-Storys das latent schlechte Gewissen vieler Schnellimbiss-Fans Bahn. Dosentod Quatsch mit Dose oder Ernst zu nehmende Warnung?

„Kürzlich verstarb eine Frau unter absurden Umständen. Sie trank von Mineralgetränkebüchsen (Fanta, Cola etc.), als sie auf dem Genfer See war. Montags wurde sie ins Hospital in Lausanne eingeliefert, und am Mittwoch verstarb sie. Die Autopsie ergab, dass sie an Leptospirose fulgurante verstorben war. Sie hatte kein Glas mit aufs Schiff genommen und direkt von der Büchse getrunken. Eine Kontrolle der Büchsen hatte ergeben, dass die Büchsen mit Rattenurin, also Leptospiras, verunreinigt waren. Die Frau hatte wahrscheinlich den oberen Rand der Büchse nicht gereinigt, bevor sie trank. Diese war mit trockenem Rattenurin infiziert, welches giftige, tödliche Substanzen, so das Leptospiras, enthält, welche die Leptospirose auslöst. Diese Büchsen werden in Lagern aufbewahrt, welche voll Ratten sind, und kommen dann ungewaschen in den Handel. Die Büchsen sollten nach dem Kauf, bevor Sie sie in den Kühlschrank tun, mit Geschirrspülmittel gründlich gereinigt werden. Gemäß einer Untersuchung in Spanien sind die Büchsen stärker verseucht als öffentliche Toiletten!!! Diese Mitteilung sollte an so viele Leute wie möglich weitergeleitet werden. Mitteilung vom Kantonsspital Genf.“

Natürlich ist es aus hygienischen Gründen angeraten, Dosen und andere Verpackungen zu reinigen, bevor man sie zum Mund führt. Eine Krankheit namens Leptospirose fulgurante gibt es aber gar nicht – höchstens Leptospirose, auch „Stuttgarter Hundeseuche“ oder „Weilsche Krankheit“ genannt. Leptospirose zählt zu den so genannten Zoonosekrankheiten, das heißt: Es handelt sich um eine bakterielle Infektionskrankheit, die von Tieren vornehmlich auf Menschen übertragen wird, die beruflich mit Tierpflege oder Tierhaltung zu tun haben. Durch getrockneten Rattenurin kann man sich allerdings nicht anstecken. Außerdem beträgt die Inkubationszeit sieben bis elf Tage, die Infektion ist mit Medikamenten heilbar, ein Krankheitsverlauf wie oben geschildert nicht möglich. Am Rande sei noch vermerkt, dass Getränkedosen in Gebinden transportiert und gelagert werden, die in Plastikfolie eingeschweißt sind. „Unfug kennt keine Grenzen“, verlautbarte das Berliner Robert-Koch-Institut in einer offiziellen Stellungnahme, nachdem es „mehrfach Anfragen von besorgten Bürgern“ gegeben habe. Als typische Anzeichen für eine elektronische Ente stechen vier Punkte hervor:

  1. Der Wahrheitsgehalt wird in der Meldung besonders hervorgehoben.
  2. Ort und Zeitpunkt des Ereignisses sind nicht nachvollziehbar.
  3. Wissenschaftliche Institutionen, Behörden etc. werden als Zeugen aufgeboten, ohne dass die Quelle nachprüfbar ist.
  4. Im Text wird Wert darauf gelegt, dass die Nachricht möglichst rasch und an viele Personen weiterverbreitet wird.

Busenstarren hält Männer fit

… meldete sogar Bild im Gefolge diverser Web-Gerüchte: „Zehn Minuten verbessern die Blutzirkulation wie 30 Minuten Aerobic!“ Schöne Aussichten für die Herren der Schöpfung? Leider nicht. Die Quelle dieser sensationellen Erkenntnis ist das US-Juxblatt Weekly World News, dem wir normalerweise Schlagzeilen verdanken wie: „Pizza Prostituto – Neuer Service: Prostituierte bringen Pizza ins Haus“. Oder: „Neues Gesetz – Blinde müssen Sturzhelm tragen“. Auch eine Kettenmail, in der „Dr. Karen Weatherby“ vom „New England Journal of Medicine“ detailliert die Auswirkungen der im wahrsten Sinne des Wortes spannenden Männer-Sportart auf Blutdruck und Herz-Kreislauf-System erklärt, ist ein Hoax. Es existiert keine Dr. Karen Weatherby, und ihr besagter Artikel findet sich in keiner medizinischen Datenbank der Welt.

Nierenklau

Böses Erwachen: Nach einer durchtanzten Disko-Nacht irgendwo im Ausland kommt die attraktive Trisha in einer mit Eiswürfel gefüllten Badewanne zu sich. Entsetzt stellt sie eine frische, schlecht vernähte Wunde an ihrem Rücken fest. Anscheinend ist die junge Frau mit einem starken Schlafmittel betäubt und dann ihrer rechten Niere beraubt worden. Sie ruft daraufhin die Polizei an und bekommt zu hören: „Erzählen sie mir bloß nicht, dass sie in einer Badewanne voller Eis aufgewacht sind und man Ihnen eine Niere entfernt hat … So beginnt der Teen-Horrorfilm „Düstere Legenden 2″, der eine Reihe der bekanntesten Großstadtsagen effektvoll in Szene setzt. Darunter eben auch die Schauergeschichte von der unfreiwilligen Organspende. In der Sammlung des Göttinger Volkskundlers Rolf Wilhelm Brednich („Die Maus im Jumbo-Jet“) liest sich das Ganze so:

Ein Ehepaar aus Bremen fährt nach Istanbul um dort einige Tage zu verbringen. Die Beiden streifen des öfteren durch den Basar, die Frau meistens dem Mann voran, der offenbar älter ist und nicht mehr ganz so schnell und beweglich wie sie. Als sie sich wieder einmal umdreht, um nach ihrem Mann Ausschau zu halten, sieht sie ihn nicht mehr. Sie geht zurück, sucht ihn, findet ihn aber nicht. Mit Hilfe von Einheimischen gelangt sie zum nächsten Polizeibüro und versucht dort klarzumachen, dass sie ihren Mann vermisst. Schließlich wird sie an die deutsche Botschaft verwiesen. Dort erkundigt man sich bei der Polizei, aber man findet keine Spur von dem Mann. Die Frau bleibt im Hotel und stellt täglich Nachforschungen an. Nach einigen Tagen wird sie schließlich angerufen und gebeten, ein Krankenhaus aufzusuchen. Dort sei ein Mann eingeliefert worden, den man bewusstlos am Strand gefunden habe. In der Tat identifiziert sie den Patienten als ihren Mann. Er befindet sich in schlechtem Zustand. Er wird sofort mit einem Flugzeug nach Bremen zurückgeflogen. Dort wird er untersucht. Der untersuchende Arzt fragt die Frau, ob der Mann in letzter Zeit operiert worden sei. Sie verneint dies. Es stellt sich heraus, dass er auf der rechten Seite in Höhe der Niere eine frische Wunde hat. Die Frau verlangt, dass man weitere Untersuchungen anstellt. Sie ergeben sehr rasch, dass ihm offensichtlich vor kurzem eine Niere entnommen worden ist.

Nichts verleiht einem urbanen Mythos mehr Stehvermögen als seine Vektorierung (zu Deutsch etwa: verbreitende Wiedergabe) in den Massenmedien. Die Vorstellung vom Organ-Klau inspirierte schon in den 1970-ern die Spielfilme „Coma“ (USA) und „Fleisch“ (Deutschland), in den 1990-ern die „Akte X“-Folge „Höllengeld“ sowie eine Episode der TV-Serie „Law und Order“. Sobald eine Geschichte im Kino, in Zeitungen oder Büchern vektoriert wird, erlebt sie einen gewaltigen Aufschwung. Nicht nur, weil die Anzahl der potenziellen Weitererzähler steigt, sondern auch weil das Erzählte mit erhöhter Glaubwürdigkeit wieder in den mündlichen Erzählkreislauf eintritt. Es spielt keine Rolle mehr, dass der Erzähler weder Namen noch Daten nennen kann – er hat es im Fernsehen gesehen oder irgendwo gelesen – also muss es auch wahr sein. Ist es aber nicht. Die „Kidney Snatchers“ gehen mal in Cincinnati um, dann wieder in Los Angeles, New Orleans, Houston, Las Vegas oder New York. Deutsche Touristen fallen ihnen aber nicht nur in Amerika, sondern auch in der Türkei, in Brasilien, Mexiko, Honduras oder Guatemala zum Opfer. Varianten des Mythos – z. B. mit einer Prostituierten, die ihre Freier im wahrsten Sinne des Wortes „ausschlachtet“ – finden sich praktisch überall in der ganzen Welt. Tatsache ist, dass z. B. in Indien ein lebhafter kommerzieller Handel mit Organen ohne kriminelle Handlungen oder Zwang im aggressiven Sinn blüht, obwohl seit 1994 ein strenges Transplantationsgesetz gilt. Angeblich kostet dort eine Niere bis zu $ 10 000. Doch das ist nur die Summe, die der Empfänger des Transplantats zu zahlen hat. Die Spender oder Verkäufer selbst („Donors“ genannt) bekommen 5000 bis 30 000 Rupien (ca. E 400 bis 750), den Rest teilen sich „Broker“ (die Vermittler der Lebendspende) und (Privat-)Klinik. Experten gehen von rund 100 000 „geheimen“ Nierenverpflanzungen in den vergangenen 25 Jahren aus. Auch in einigen anderen Ländern (Osteuropa, Lateinamerika, Afrika, China) soll ein Schwarzmarkt florieren. Aber Lebend-Organdiebstahl wie der krude Nierenklau in „Düstere Legenden“? Die Entnahme einer Niere ist ein komplizierter Eingriff, der nicht auf die Schnelle in einem Badezimmer oder Hinterhof durchgeführt werden kann und erhebliche postoperative Risiken wie z. B. retroperitoneale Infektionen, Proteinurie oder lokale Glomerulosklerose birgt. Eine solche Operation erfordert schon im Vorfeld genetische Tests, dauert mehrere Stunden und braucht ein eingespieltes Team von mindestens drei Chirurgen, einem Narkosearzt und zwei bis drei OP-Schwestern. Man darf davon ausgehen, dass medizinische und pflegerische Experten dieser Güteklasse sich wohl kaum massenhaft in die dunklen Machenschaften einer „Organ-Mafia“ verwickeln lassen würden. Im Dezember 1994 legte Todd Leventhal von der „United States Information Agency“ in Washington den Vereinten Nationen einen Bericht über seine umfangreichen Nachforschungen in Sachen „Kidney Snatchers“ vor. Darin steht unter anderem zu lesen:

„Keine Regierung, keine internationale Behörde, keine Organisation außerhalb der Regierung und kein Journalist hat je auch nur den geringsten Beweis vorgelegt, um diese Geschichte zu untermauern.“

Auch drastische Ausschmückungen des Stoffs, wonach in Dritte-Welt-Ländern Kinder als menschliche Ersatzteillager „gezüchtet“ und gefangen gehalten werden, entbehrten jeder Grundlage. Alles lässt darauf schließen, dass es sich bei dem Gerücht über den Organ-Klau um eine urbane Legende handelt, auch „FOAF“-Story genannt („Friend of a Friend“ – „Ich hab’s vom Freund eines Freundes gehört“). Dahinter verbergen sich Sagen aus der modernen Welt – Geschichten oder Gerüchte, die man sich auf Dinnerpartys, am Arbeitsplatz und in der Kneipe erzählt oder wenn man bei Freunden übernachtet. Großstadtsagen spiegeln in Form einer Erzählung weit verbreitete &Äuml;ngste, Befürchtungen und Vorurteile wider. In unserem Fall geht es wohl um eine diffuse Form von Xenophobie sowie um die moralische Botschaft, sich von dunklen Lasterhöhlen wie Diskotheken, Bordellen etc. fernzuhalten. Der Forscher und Buchautor Rolf Wilhelm Brednich hat festgestellt:

„Je gruseliger eine solche Geschichte ist, um so schneller verbreitet sie sich. Der Erzähler empfindet eine Art Angst-Lust, Schauer zu verbreiten. Er gewinnt mit einer aufregenden Geschichte Ansehen, kann sich aber auch davon distanzieren, da ja nicht er selbst, sondern der gute Freund die Geschichte erlebt hat.“

Manchmal indes können frei erfundene FOAF-Stories reale und durchaus ungute Folgen zeitigen: Die Aufregung um angebliche Organdiebstähle hat mancherorts schon dazu geführt, dass immer weniger Menschen sich als freiwillige Organspender registrieren lassen. Aus Angst, die dafür gemachten Angaben würden den Verbrechern die Arbeit noch zusätzlich erleichtern.

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 2/2003.

Segensreicher Pharaonenfluch

Die Archäologen, die 1922 die Grabkammer des Tutanchamun öffneten, überlebten dieses vermeintliche Sakrileg im Durchschnitt mehr als 23 Jahre.

Bernd Harder

„Der Tod kommt auf schnellen Flügeln zu dem, der das Grab des Pharao berührt!“ So lautet angeblich der Fluch des Tutanchamuns, dessen Ruhestätte im Tal der Könige bei Luxor am 26. 11. 1922 von Archäologen geöffnet wurde. Und wirklich: Der Geldgeber der Ausgrabungen, Lord Carnarvon, starb nur fünf Monate später an einer Infektion. Als nächsten traf es 1926 George Bénédicte, einen Mitarbeiter des Pariser Louvre, danach war der New Yorker Museumsarchäologe Arthur Mace (1928) an der Reihe. Schauerlich – wenn da nicht die Tatsache wäre, dass „der Fluch des Tutanchamun sich in Wirklichkeit als ein Segen für diejenigen entpuppte, die am engsten mit ihm befasst waren“, stellen die beiden englischen Archäologen Peter James und Nick Thorpe richtig. Denn: „Von insgesamt vier Personen, die als erste ihren Fuß in das Grab gesetzt hatten und daher einem besonderen Risiko ausgesetzt gewesen wären, blieben drei völlig unberührt.“

Nämlich der Expeditionsleiter Howard Carter (der das Hauptziel des Fluches hätte sein müssen), sein Assistent A. R. Callender und Lord Carnarvons Tochter Lady Evelyn Herbert. Der Anatom Dr. Douglas Derry, der die Mumie des Pharao auswickelte, lebte danach noch 44 Jahre. Auch die meisten anderen Mitglieder von Carters Team erreichten ein Alter von mehr als 70 Jahren und kamen als Ägyptologen zu hohem Ansehen.

Der amerikanische Skeptiker James Randi recherchierte unten stehende Tabelle [Anm. des Webmasters: Leider nur in der Print-Ausgabe vorhanden!], aus der hervorgeht, dass die 22 Ausländer, die unmittelbar mit der Öffnung des Grabes zu tun hatten, den „Fluch“ um durchschnittlich mehr als 23 Jahre überlebten. Die Beteiligten starben im Schnitt mit 73 Jahren, „womit sie ungefähr ein Jahr älter wurden als andere Personen ihres Standes und ihrer Jahrgänge“.

Der britische Sergeant Richard Adamson etwa, der sieben Jahre lang in dem Pharaonengrab schlief, um es zu bewachen (und dabei nach eigener Aussage oft laut Grammophonmusik laufen ließ) war noch 57 Jahre nach diesem Sakrileg gesund und munter. Mehr noch: Weder am Eingang noch an anderer Stelle des Grabes wurde ein Fluch gefunden: „Tatsächlich finden sich Inschriften mit Bannflüchen nur selten in ägyptischen Gräbern, und wenn, dann nur in Privatgräbern, nicht in denen der Pharaonen. In der Zeit Tutanchamuns waren sie ganz ungebräuchlich“, stellen James/Thorpe klar. Vermutlich ist der „Fluch“ eine reine Erfindung der Presse und der Wachleute gewesen. „Um Grabräuber weiterhin fern zu halten, kam uns die Sache mit dem Fluch gelegen“, erzählte Sergeant Adamson vor zwanzig Jahren der Daily Mail. „Journalisten hatten sich die Sache ausgedacht, weil sie in anderen Gräbern Flüche an der Wand gefunden hatten. Wir haben die Zeitungsleute – äh – nicht darin entmutigt.“

Die schaurige Sentenz vom „Tod auf schnellen Flügeln“ stammt aus der Feder der schwärmerisch veranlagten Schriftstellerin Minnie McKay, die unter dem Pseudonym „Marie Corelli“ unter anderem eine gespenstische Mumien-Geschichte verfasste.

Übrigens: 1982 verklagte ein gewisser George LaBrash die Stadt San Francisco auf Invalidenrente, weil er bei einer Ausstellung die Maske Tutanchamuns bewacht und dabei einen Schlaganfall erlitten hatte. Begründung: Der Schlaganfall sei ein Arbeitsunfall gewesen, den der alte Fluch bewirkt habe. Die Klage wurde abgewiesen.

Literatur:

  • Benecke, M. (2001): Endlich Ruhe im Sarkophag. Im Internet unter www.benecke.com/ruhe.html
  • James, P./Thorpe, N. (2001): Halley, Hünen, Hinkelsteine. Sanssouci, Zürich
  • Randi, J. (2001): Lexikon der übersinnlichen Phänomene. Heyne, München

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 1/2002.

Moderne Mythen

Kennen Sie die Geschichte vom Kaufhaus, in dem kleine Kinder verschwinden? Haben Sie auch schon gehört, dass die GEZ demnächst Rundfunkgebühren zurückerstattet? Höchst wahrscheinlich. Denn moderne Wander-Sagen und Großstadt-Legenden haben wieder Hochkonjunktur. Nicht nur im Kino. Auch übers Internet.

Bernd Harder

Böses Erwachen: Nach einer durchtanzten Disko-Nacht kommt die attraktive Trysha in einer mit Eiswürfeln gefüllten Badewanne zu sich. Entsetzt stellt sie eine frische, schlecht vernähte Wunde an ihrem Rücken fest. Anscheinend ist die junge Frau mit einem starken Schlafmittel betäubt und dann ihrer rechten Niere beraubt worden.

So beginnt der Film „Düstere Legenden 2″, der nach der Kino-Auswertung nun in die Videotheken kommt. In dem Teen-Horrorstreifen geht es um eine Regisseurin, die einen Psychothriller nach Motiven von so genannten urbanen Legenden drehen will. Das sind Sagen aus der modernen Welt – Geschichten oder Gerüchte, die man sich auf Dinnerpartys, am Arbeitsplatz und in der Kneipe erzählt oder wenn man bei Freunden übernachtet. Immer wieder taucht darin auf die Hundebesitzerin, die ihren Pudel nach einem Regen-Spaziergang in der Mikrowelle trocknet … der Mann, der auf dem Boden der Schachtel mit fritiertem Hühnchen, das er gerade im dunklen Kino verspeist hat, ein Rattenskelett findet … Und eben das junge Mädchen, das in einer Bar oder Diskothek – siehe oben.

Eine junge Frau wird in der Tiefgarage eines Kaufhauses von einer älteren Dame gebeten, sie mitzunehmen, da sie ihren Bus verpasst habe. Als die ältere Dame ins Auto steigt, bemerkt die junge Frau, dass sie an den Händen und Armen sehr behaart ist, und wird misstrauisch. Sie beschließt, die Dame zu bitten, noch einmal auszusteigen, um ihr beim Herausfahren aus der Parklücke behilflich zu sein. Als dies geschehen ist, hält die junge Frau jedoch nicht an, sondern fährt einfach davon. Zu Hause angekommen, entdeckt sie im Auto eine Plastiktasche, die der älteren Dame gehören muss. Als die junge Frau hineinschaut, findet sie ein Beil. Daraufhin beschließt sie, zur Polizei zu gehen, um diesen Vorfall zu melden, und erfährt, dass gerade ein Frauenmörder gesucht wird, der seine Opfer mit einem Beil tötet. – Diese bekannte urbane Legende ist auch in dem Film „Düstere Legenden“ zu sehen.

Doch außer der unfreiwilligen Organspende setzt „Düstere Legenden 2″ nur noch eine weitere „FOAF“-Story („Friend of a Friend“ – „Ich habs vom Freund eines Freundes gehört“) in Szene: Eine alleinstehende Frau hält sich einen Schäferhund. Der schläft auf dem Teppich neben ihrem Bett, und immer wenn die Frau nachts Geräusche hört, streckt sie den Arm aus und lässt sich von ihrem Hund die Hand lecken. Eines Nachts wird sie wieder einmal wach; aber sie spürt die Hundezunge und nimmt an, dass alles in Ordnung ist. Am nächsten Morgen findet sie den Schäferhund tot. Auf dem Schlafzimmerspiegel steht mit Lippenstift geschrieben: „Auch Diebe können lecken.“

Die Geschichte bleibt im Kern immer dieselbe. Nur Handlungsort und Personen wechseln

Dass den Machern von „Düstere Legenden 2″ nicht mehr einfällt, als diese beiden bekannten Uralt-Mythen aufzuwärmen, ist bezeichnend: „Der Kern einer Geschichte bleibt immer derselbe“, analysiert der Göttinger Volkskundler Rolf Wilhelm Brednich. In Deutschland gilt als eine der neuesten Varianten der modernen Sagen die hartnäckig kolportierte Geschichte von den verschwundenen Kindern bei Ikea: Eine Mutter streift mit ihrem fünfjährigen Sohn durch die Kinderabteilung des schwedischen Möbelhauses in Hamburg. Als sie den Jungen kurz aus den Augen lässt, ist er plötzlich verschwunden. Die Geschäftsleitung sperrt alle Ausgänge, Mitarbeiter durchkämmen die Verkaufsräume und Toiletten. Schließlich finden sie das Kind. Es kauert verstört und mit teilweise abrasierten Haaren auf einem Klodeckel, hat einen anderen Anorak an und ist offenbar unter Drogen gesetzt worden.

„Je gruseliger eine solche Geschichte ist, um so schneller verbreitet sie sich“, hat der Forscher und Buchautor Rolf Wilhelm Brednich festgestellt. „Der Erzähler empfindet eine Art Angst-Lust, Schauer zu verbreiten. Er gewinnt mit einer aufregenden Geschichte Ansehen, kann sich aber auch davon distanzieren, da ja nicht er selbst, sondern der gute Freund die Geschichte erlebt hat.“

Doch weil besorgte Eltern immer wieder bei Ikea nachfragen, hat die Firma mittlerweile Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Verleumdung gestellt. Auch die Pressestelle der Hamburger Polizei erklärt, dass die Horror-Story nie stattgefunden hat: „Es gibt nämlich kein Opfer und keinen Täter.“ Ähnlich äußert sich das Polizeipräsidium München, das sich derzeit mit einer ebenso makaberen urbanen Legende konfrontiert sieht: Laut diversen Internet-Warnungen soll ein Verrückter durch die Diskotheken ziehen und wahllos Szene-Gänger mit einer „Aids-Spritze“ infizieren.

Den amerikanischen Folklore-Experten Jan Harold Brunvand von der Universität Utah dagegen gibt es wirklich. Und der kann die Legende vom entführten, betäubten, neu eingekleideten und mit rasiertem Kopf wieder aufgefundenen Kind bis ins Jahr 1983 zurückverfolgen. Die Schauplätze sind mal Disneyland, mal die Spielzeug-Kette „Toys R Us“ und ganz aktuell „Sam’s Club“, ein Tochterunternehmen des Wal-Mart-Konzerns.

Es sei „kriminell, wie hier mit den Grundängsten von Eltern gespielt wird“, beklagt Ikea-Pressesprecher Christian Maaß. Und nicht nur er. Einer ganzen Reihe von Firmen und Prominenten bläst gegenwärtig heiße Luft ins Gesicht – in Form von üblen Unterstellungen und unwahren Behauptungen. Denn die überwiegend mündlich weitergegebenen urbanen Legenden bekommen Konkurrenz aus der virtuellen Realität: durch so genannte „Rumors“, zu deutsch Internet-Gerüchte.

Das Internet hat sich zum idealen Medium entwickelt, um üble Gerüchte zu verbreiten

Es sieht aus wie Hühnerfleisch. Es schmeckt wie Hühnerfleisch. Aber das, was die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken (KFC) ihren Kunden tatsächlich auftischt, sei gar kein Hühnerfleisch – sondern ein gen-manipuliertes, billiges Kunstprodukt. Das jedenfalls behaupten die anonymen Urheber des jüngsten Online-Gerüchts, das in den elektronischen Briefkästen zahlloser Internet-Benutzer weltweit aufläuft. Die Folge: Ernährungswissenschaftler wie Professor Colette Janson-Sand von der New Hampshire-Universität können sich vor „hysterischen“ Anrufen verunsicherter Verbraucher kaum retten. Und auch KFC-Sprecher Michael Tierney kommt mit dem Dementieren nicht nach.

Das weltweite Datennetz Internet kombiniert die Wiedergabetreue des Schreibens und die Langlebigkeit der mündlichen Überlieferung mit der Geschwindigkeit des Telefons. Gerüchte, Klatsch und Wandersagen können auf der Festplatte eines Computers in Melbourne gespeichert und zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne Fehler über Telefonleitungen oder Satellitenverbindungen auf einen Computer in Frankfurt, London, Florenz, Chicago oder Tokio kopiert werden. Außerdem ermöglicht das Internet „in sehr viel größerem Maße die Verbreitung von eigenen Beiträgen, als dies die klassischen Massenmedien wie Fernsehen, Zeitungen oder Hörfunk tun“, erläutert der Kommunikationswissenschaftler Axel Becker von der Uni Mannheim: „Jeder Internetnutzer ist nicht nur Empfänger, sondern kann auch zum Sender werden. Was zählt, ist technisches Wissen und nicht publizistische Erfahrung oder Qualität.“

Ist der US-Modedesigner Tommy Hilfiger ein Rassist? Hat Barbara Streisand in einem Porno mitgespielt? Unterhält der Weltkonzern Procter & Gamble enge Verbindungen zu Satanisten? Für Millionen von Cyber-Freaks steht das außer Frage. Für sie ist das Daten-Netz am Anfang des 21. Jahrhunderts das, was im 19. Jahrhundert Hinterzimmer und Flugblatt waren: Versammlungsort und Publikationsmittel zugleich. Hier forschen sie nach jener „Ausdeutung“ von Geschehnissen und Prominenten-Biografien, die ihnen die offiziellen Versionen angeblich verweigern. Beispiel Procter & Gamble: Der Präsident des Konzerns habe in einer amerikanischen Talkshow erklärt, ein Großteil des Gewinns seiner Firma fließe der Satanskirche zu, informiert eine weitverbreitete E-Mail aus den USA. Aus diesem Grund rufen christliche Organisationen immer wieder zu einem Boykott von Procter & Gamble-Produkten auf – unbeeindruckt von der Tatsache, dass der Procter & Gamble-Chef nie in besagter TV-Sendung aufgetreten ist. Sogar die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin sah sich zu einer Stellungnahme veranlasst: „Leichtgläubige können einer böswilligen Unterstellung aufsitzen und durch Weitergabe dieser erwiesenermaßen falschen Behauptungen zu aktiven Unterstützern einer Verleumdungskampagne werden.“

„Gegen anonyme Informationen im Internet gibt es keine rechtliche Handhabe“, klagt Filmstar Harrison Ford mit vielen seiner Kollegen. Jedes noch so üble Cyber-Gerücht wird blitzschnell weltweit verbreitet. Und niemand kennt Urheber, Quellen oder Fakten. Als Gegenmaßnahme bieten in Amerika so genannte Monitoring-Services ihre Dienste an, die wenigstens einschlägige Newsgroups und Chatrooms überwachen – also quasi die Korridore der virtuellen Welt, wo etwa darüber spekuliert wird, ob Sängerin Whitney Houston Drogen nimmt oder Hillary Clinton heimlich die „Black Panthers“-Bewegung unterstützt. Und das auch noch ganz ernsthaft – im Unterschied zu jenen Witzbolden, die diverse Juxgeschichten (englisch: Hoaxes) in die Online-Welt setzen. In diese Kategorie gehören die meisten Viren-Warnungen. Aber auch E-Mail-Botschaften, dass Jesus geklont werden soll oder die GEZ Rundfunkgebühren zurück erstattet.

Viren-Warnungen sind mit Vorsicht zu genießen. Sie nutzen oft lediglich unsere Ängste aus

ARD und ZDF haben im abgelaufenen Geschäftsjahr einen Gewinn von über einer Milliarde Mark erzielt, der über die GEZ anteilig den Gebührenzahlern zurück erstattet wird. Microsoft und AOL wollen fusionieren und zahlen jedem Internet-Nutzer, der diese Nachricht weiter verbreitet, pro E-Mail eine kleine Gebühr. Die Firma Siemens verschenkt hochwertige Mobiltelefone. Was haben diese drei Meldungen gemeinsam? Sie kursieren im Web. Und sie sind frei erfunden. Von wem, weiß niemand. „Wir sind bemüht, den oder die Verfasser zu ermitteln“, teilt die GEZ-Pressestelle mit. Und die Kollegen bei Siemens: „Der Kettenbrief, den Sie erhalten haben, ist ein Schwindel. Wir sind zwar immer auf der Suche nach neuen Marketing-Ideen; das Versenden von Ketten-E-Mails gehört jedoch nicht dazu.“

Der amerikanische Folklore-Forscher David Emery führt eine Liste mit derzeit mehr als 600 so genannten Internet-Hoaxes. Ihre meist jugendlichen Verfasser sind hauptsächlich fasziniert von der weltweiten Verbreitung und der ungeheueren Zahl an Kopien, die ihre kurzen Fantasiegeschichten erreichen. Der neueste Ulk (englisch „Fake“)-Hit: Das „Second Coming Project“ (SCP), eine nicht profitorientierte Organisation in Berkeley/Kalifornien, will die Wiederkunft Jesu Christi selbst herbeiführen. Absicht der SCP sei es, das Turiner Grabtuch auf Erbmaterial zu untersuchen und daraus einen zweiten Erlöser zu klonen. Das ist zwar albern, liest sich aber wenigstens noch leidlich amüsant – im Gegensatz zu gefakten Viren-Warnungen, die etwa so daherkommen:

Virus WOBBLER trifft per E-Mail mit Titel „CALIFORNIA“ ein! IBM und AOL haben mitgeteilt, dass dieser Virus praktisch „tödlich“ ist, schlimmer als mit Virus MELISSA. Virus CALIFORNIA löscht alle in der Festplatte gespeicherten Informationen, zerstört Netscape Navigator und Microsoft Internet Explorer. Keine Post mit diesem Titel öffnen. Bitte diese Information auch an alle Bekannten, Mitarbeiter usw. weitergeben, die per E-Mail arbeiten. Bisher sind wenige über diesen Virus informiert; daher bitte so schnell wie möglich alle anderen auch informieren.

In Wirklichkeit handelt es sich bei solchen Mitteilungen „mehr um ein soziologisches Phänomen“, weiß der Computer-Experte Frank Ziemann von der Technischen Universität (TU) Berlin: Das eigentliche „Virus“ stellt die Warnung selbst dar, „denn sie richtet erheblichen Schaden an, indem sie Menschen verunsichert und Arbeitszeit bindet.“ Beschäftigen sich zum Beispiel 1000 Angestellte einer Firma nur zwei Minuten lang mit besagter E-Mail, gehen dem Unternehmen 2000 Arbeitsminuten verloren. Geschätzte Kosten des Produktionsausfalls: 144 000 Mark. Ein weiteres Ziel solcher Falschmeldungen besteht darin, Lawinen von Mails auszulösen und so den Mail-Server zu überlasten. Einen ernst zu nehmenden Hintergrund haben Viren-Hoaxes nicht. Kurz gesagt: Eine reine Textnachricht hat noch niemals etwas gelöscht oder gar eine Festplatte zerstört. Die vermeintlichen „E-Mail-Viren“ befallen allenfalls Menschen und nutzen deren Ängste aus. Und sie vervielfältigen sich über psychologische Mechanismen. Das gilt ebenso ebenso für eine weitere sehr populäre Form der modernen Mythen: für die Kettenbriefe nämlich.

Alle Kettenbriefe am besten ignorieren. Egal, wie seriös das Anliegen auch immer zu sein scheint

Kaum gingen die Benzinpreise nach oben, verstopfte vielen Computer-Benutzern folgender elektronischer Kettenbrief die Mailbox:

Dies ist eine Protestaktion gegen die ständig steigenden Treibstoffpreise! Sie betrifft einen allgemeinen Aufruf, um 30. April nicht zu tanken! Diese Aktion ist notwendig, um zu zeigen, dass ein paar Millionen Menschen genug davon haben, sich von den Ölmultis das Geld aus der Tasche ziehen zu lassen …

Ob es sich dabei um einen echten Aufruf handelte und wer dahinter steckt, konnte bis heute noch nicht geklärt werden. Allerdings geht die Idee wohl auf eine ähnliche Aktion in den USA zurück, die 1999 mit geringem Errolg versucht wurde und in einem Archiv für „urbane Legenden“ dokumentiert ist (siehe Kasten „Internet-Tipps“). Bei Licht besehen, ist das Ganze völlig witzlos: Die Leute tanken eben vorher voll, und nach dem Tag des Boykotts tanken sie auch wieder wie bisher. „Kettenbriefe sind kein adäquates Medium zur Kommunikation seriöser Anliegen!“, warnt die TU Berlin – egal, ob sie per Post oder neuerdings via Internet versendet werden. Das zeigt das Beispiel des berühmten „Kettenbriefjungen“ Craig Shergold aus England. Der erkrankte mit neun Jahren an einem Gehirntumor und wünschte sich von überall auf der Welt Postkarten, um ins „Guinness Buch der Rekorde“ zu kommen. Heute ist Craig 21 und längst wieder gesund – trotzdem erhält er noch immer bis zu 10 000 Briefe am Tag, die ihn und seine Eltern zur Verzweiflung treiben.

Auch in Deutschland geht der „Shergold“-Kettenbrief nach wie vor um – in der Skeptiker-Redaktion landete er erst unlängst wieder über ein katholisches Jugendbüro. Merkwürdigerweise ist der Adressat, an die die Genesungskarten geschickt werden sollen, nicht immer mit Craig Shergold identisch. Vermutlich halten auch findige Briefmarkensammler die Aktion am Laufen. Oder aber Kriminelle gelangen mit der Tränendrüsen-Masche an Anschriften und Telefonnummern, um damit im professionellen Adressenhandel mitzumischen. Sogar Kettenbriefe, in denen für ein an Leukämie erkranktes Mädchen Knochmarkspender gesucht wird, sind schlechte Scherze ohne realen Hintergrund. Nicht selten behaupten die anonymen Urheber, durch die Weiterleitung des Kettenbriefs werde Geld für die Behandlung eines kranken Kindes gesammelt. Fakt ist jedoch, dass es gar keine technische Möglichkeit gibt, die Weiterleitung von E-Mails zu zählen.

Eine andere Kettenbrief-Variante richtet sich an Kinder und verspricht ihnen eine Flut von Bilderbüchern (oder auch Geld), wenn sie den Schrieb innerhalb von drei Tagen an sechs Kinder weiterschicken: „Auf der Namensliste lässt du den ersten Namen weg und setzt deinen Namen an die letzte Stelle. Dem ersten Namen sendest du ein kleines Kinderbüchlein (oder eine Ansichtskarte oder einen Geldbetrag). In cirka drei Wochen wirst du dann selbst 36 Bücher erhalten.“

Kleiner Schönheitsfehler: Wenn die ersten sechs Kinder gehorsam mitgespielt haben, dann landete die Aufforderung bei 36 anderen Kindern. Und wenn die auch mitmachten, bei 216 Kindern. Langer Rechnung kurzer Sinn: Schon der 20. auf der Liste spielt mit 3 656 158 440 062 975 Jungen und Mädchen. So viele Menschen gibt es aber gar nicht auf der Welt. Auf ihre Bilderbücher werden die Teilnehmer also lange warten.

So erkennen Sie einen E-Mail-Viren-Hoax: Vorsichtig sollte man dann werden, wenn sich an der eigentlichen Nachricht ein Anhang befindet. Denn echte Viren sind meist Bestandteil einer ausführbaren Datei („exe“, „com“, „bat“, „vbs“ etc.). Für einen Hoax, also eine falsche Viren-Warnung, dagegen gibt es vier Anzeichen:

  • das Subject (Betreff) enthält oft den Hinweis „Virus-Warnung“ oder ähnliches.
  • Der Adressat wird aufgefordert, die „Warnung“ schnell an möglichst viele Menschen weiterzuleiten.
  • Die Wirkung des Virus wird sehr drastisch dargestellt und beinhaltet Dinge, die ein Computer-Virus gar nicht kann (zum Beispiel Hardware beschädigen).
  • Häufig wird als Quelle eine namenhafte Firma oder Organisation genannt, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen.

Ist dies alles der Fall, rät der Viren-Experte Frank Ziemann von der TU Berlin: „Leiten Sie die Mail auf keinen Fall weiter. Löschen Sie sie oder speichern Sie das Ganze ab, falls Sie Kuriositäten sammeln. Vergessen Sie dann die Sache. Verschwenden Sie keine wertvolle Zeit damit.“

Internet-Tipps: Hoax- und Kettenbrief-Info-Service und Urbane Legenden/Rumours (engl.)

Am deutlichsten in der Nähe von modernen Wandersagen bewegt sich die legendäre „Glückskette“, die mal aus Neuseeland, mal aus den Niederlanden oder aus China kommt, drei-, acht- oder gar elfmal um die Welt gereist ist und ihrem Empfänger „Glück innerhalb der nächsten vier Tage“ bringen soll. Vorausgesetzt natürlich, er schickt den Brief/die Mail an zehn Freunde und Bekannte weiter. Andernfalls droht Unheil und Missgeschick. Ein mindestens drei Jahrzehnte alter bizarrer Unfug, dem nur abergläubische Glückssehnsucht sowie die Angst vieler Zeitgenossen vor magischen Automatismen ein ungebührliches Gewicht verleihen.

Meme statt Gene: Trachten auch Informationen danach, sich zu vermehren?

Oder steckt am Ende viel mehr hinter Kettenbriefen, Hoaxes und urbanen Legenden? Pünktlich zur Jahrtausendwende hat die englische Psychologin Susan Blackmore eine schon ältere (keineswegs unumstrittene) Theorie für das Informations- und Kommunikationszeitalter wieder aufgewärmt: die von den Memen. Diese launige Wortschöpfung klingt keineswegs zufällig nach „Genen“. Denn ähnlich wie Gene sind Meme laut Blackmore Informationen, die danach trachten, sich zu verbreiten und zu vermehren. „Menschen sind dazu veranlagt zu klatschen und zu tratschen und wollen Neuigkeiten und Ansichten austauschen“, ist die Wissenschaftlerin überzeugt: „Meme wetteifern darum, in so viele Gehirne wie möglich zu gelangen und sich dort zu behaupten.“

Als Beispiel führt Blackmore die Wandersage von der Amerikanerin an, die ihren Pudel in der Mikrowelle zu Tode getrocknet haben soll: „Diese Geschichte ist so bekannt, dass Millionen Menschen weltweit davon gehört haben – aber sie haben vielleicht eine andere Version gehört, wie die mit der Katze oder dem Chihuahua. Das Ganze ist wahrscheinlich unwahr, aber Wahrheit ist nicht unbedingt ein Kriterium für ein erfolgreiches Mem.“ Ihr Fazit: Wenn sich ein Mem ausbreiten kann, wird es das tun. Auch über Kino und Video. Dort läuft jetzt ein Film über eine junge Frau, die nach einer durchtanzten Disko-Nacht in einer mit Eiswürfeln gefüllten Badewanne zu sich kommt …

So erkennen Sie einen E-Mail-Viren-HoaxVorsichtig sollte man dann werden, wenn sich an der eigentlichen Nachricht ein Anhang befindet. Denn echte Viren sind meist Bestandteil einer ausführbaren Datei („exe“, „com“, „bat“, „vbs“ etc.). Für einen Hoax, also eine falsche Viren-Warnung, dagegen gibt es vier Anzeichen:

Dieser Artikel erschien im „Skeptiker“, Ausgabe 1/2001.