Ohne Schnitte
Bernd Harder
Der Begriff „Snuff“ ist auch für die Filmstudentin Angela neu. Eine Kommilitonin klärt sie auf: „Sie suchen sich jemanden aus. Entführen, foltern und ermorden ihn, und das nehmen sie mit der Videokamera auf. Ohne Schnitte, ohne Tricks, in einer einzigen langen Sequenz.“ Angela ist entsetzt, forscht aber weiter – für ihre Diplomarbeit „Gewalt in den Medien“. Bis sie am Ende selbst von einem Snuff-Produzenten als unfreiwillige „Hauptdarstellerin“ auserkoren wird … Das ist der Plot des spanischen Psychothrillers „Tesis“ (1996), der „geschickt die Thematik der Snuffmovie-Szene für seine Zwecke nutzt“, urteilte ein Kritiker. Drei Jahre später ermittelte Hollywood-Star Nicholas Cage als Polizist in „8MM“ („Acht Millimeter“) gegen die Macher von Todesfilmen. „Tesis“ und „8MM“ sind Leinwand-Phantasien. Doch was dem Schauspieler Charlie Sheen widerfuhr, schien grausige Realität: In den frühen 1990ern fiel dem populären Mimen ein japanisches Import-Video mit dem Titel „The Flowers of Flesh and Blood“ in die Hände. Inhalt: Die fachgerechte Ausweidung einer jungen Frau bei lebendigem Leib durch einen als Samurai verkleideten Mann. Geschockt informierte Sheen das FBI. Am Ende stellte sich das scheinbar erste und einzige entdeckte Exemplar eines authentischen Snuff-Films als gut gemachte Fälschung heraus. Genauer gesagt: Als erste Regie-Arbeit des japanischen Manga-Zeichners Hideshi Hino mit dem Originaltitel „Za ginipiggu – Akuma no jikken“. Mittlerweile ist „The Flowers of Flesh and Blood“ von der Firma „Devils Entertainment“ auch in Deutschland als DVD herausgebracht worden, und zwar als zweite Episode der sechsteiligen Reihe „Guinea Pig“. Auf einer Internet-„Fanseite“ liest sich die Inhaltsangabe zu dem blutigen Machwerk so: ‘ „Ein unbekannter Mann verfolgt eine junge Frau, betäubt sie und als sie aufwacht, liegt sie gefesselt auf einem Bett. Sie erhält von einem Mann eine Spritze und wird betäubt, so dass sie keine Schmerzen mehr verspürt, aber bei vollem Bewusstsein bleibt. Nun beginnt er, mit Messern, Hammer und Meißel, Sägen und anderen Utensilien das arme Mädchen auseinander zu nehmen.“ Dazu muss man wissen: Folter und Vergewaltigung stellen im japanischen Kunstschaffen allgemein akzeptierte Formen erwachsener Unterhaltung dar, und zwar nicht nur für Randgruppen und Pop-Art-Avantgardisten, sondern für die breite Masse. Über solche extrem verstörenden Kompilationen hinaus halten sich indes seit mehr als drei Jahrzehnten hartnäckig Gerüchte über die Existenz von echten Snuff-Filmen. Das Wort „snuff“ kommt aus dem Englischen und heißt soviel wie „auslöschen“. Damit ist die „Handlung“ eines solchen Streifens bereits hinreichend beschrieben. Snuff-Movies sind Kurzfilme, in deren Verlauf Menschen gefoltert oder sexuell misshandelt und schließlich vor laufender Kamera exekutiert werden. Urbane Legende oder unfassbare Wirklichkeit? Darüber gehen die Einschätzungen weit auseinander. Ursprünglich handelte es sich bei der Thematik um einen geschmacklosen Marketing-Gag der Verleihfirma „Monarch Releasing Corp.“: 1976 warb ein Filmplakat am New Yorker Times Square mit dem blutigen, zerschnittenen Foto einer nackten Frau für eine Low-Budget-Produktion namens „Snuff“ (in Deutschland: „Big Snuff – American cannibale – Bestialisch bis aufs Blut gequält“). Darunter stand zu lesen: „Das Blutigste, was jemals vor einer Kamera geschah! Dieser Film konnte nur in Südamerika gedreht werden, wo ein Menschenleben wenig zählt!“ Zahlreiche Protestveranstaltungen und Medienberichte verhalfen dem „lachhaft schlechten Schund-Opus“ (Cinema) zu unverdienter Publizität. „Snuff“ war in der Tat in Argentinien gedreht worden. Allerdings nur aus Kostengründen und schon fünf Jahre zuvor, 1971. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Film von Alan Shackleton noch „The Slaughter“ („Das Gemetzel“) geheißen und war von „Monarch Releasing Corp.“ als „nicht vermarktbar“ zurückgehalten worden. Kein Wunder: „The Slaughter“ war ein eher müdes Horrorfilmchen, das Morde, Folterungen und Verstümmelungen unter den Mitgliedern einer Hippie-Mädchensekte präsentierte.
Erst als Shackleton eine nachträglich eingefügte, zweiminütige Mord-Sequenz an einer jungen Frau als „authentisch“ ausgab, avancierte sein Zelluloid-Desaster zum Geheimtipp und lief vor vollen Häusern. Wieso konnte dieser unverschämte Schwindel funktionieren? Weil die Öffentlichkeit für angebliche Filme mit real-mortalem Ausgang in hohem Maße sensibilisiert war. Denn 1970 hatte der Prozess gegen den berüchtigten Serienmörder Charles Manson begonnen, und Zeugen behaupteten, der bestialische Mord der „Manson-Family“ an der Schauspielerin Sharon Tate sei mit der Kamera festgehalten worden und der Streifen irgendwo versteckt. „Fortan war Snuff als modischer Bestandteil der Subkultur nicht mehr wegzudenken“, schreibt das Fachblatt Cinema. Filme wie „Mondo Cane“, „Gesichter des Sterbens“ oder „Gesichter des Todes“ mit Aufnahmen von Autopsien, Verstümmelungen, Hinrichtungen, Geschlechtsoperationen und ähnlichem mehr erlangten auch in Deutschland eine Art Kult-Status. Die vorgeblichen Dokumentationen sind allerdings fast durchweg inszeniert – im Gegensatz zu „echten“ Snuff-Movies. Doch gibt es überhaupt echten Snuff? Szene-Kenner wie der international renommierte Kriminalbiologe und Forensiker Mark Benecke oder Manfred Kaltenwasser von der Fachabteilung „Kinderpornographie“ beim Bundeskriminalamt (BKA) verweisen die Todesfilme ins Reich der modernen Mythen. Unbestritten gibt es echte Tötungsvideos, vor allem im Bereich Kinderpornografie. Auch das amerikanischen Serienmörder-Duo Paul Bernardo und Karla Homolka beispielsweise filmte in den 1980ern seine Untaten. Der „Kannibalenmörder von Rotenburg“ Armin M. metzelte im Dezember 2002 sein Opfer ebenfalls vor laufender Videokamera. Fraglich ist aber die Existenz von „Snuff“-Aufnahmen, die mit dem Vorsatz der Verbreitung angefertigt und unter Erzielung eines finanziellen Gewinns weitergegeben werden. Denn solche Filme in Umlauf zu bringen, würde für die Täter ein kaum kalkulierbares Risiko darstellen.
1998 gab der österreichische Bundesminister für Umwelt, Jugend und Familie auf eine Abgeordneten-Anfrage hin bekannt, dass eine „verdeckte Recherche nach Materialien dieser Art“ keinen Beweis für die Existenz von Snuff-Movies erbracht habe. Auch bei der 80. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin 2001 in Interlaken war „Snuff“ ein Thema. Zwei Arbeitsgruppen analysierten verdächtige Video-Sequenzen einer Erschießung aus dem Internet – kamen aber zu dem Schluss, dass die Szenerie wohl gestellt war. Eine millisekundengenaue Analyse zeigte unter anderem, dass die Bilder vor einer Bluescreen aufgenommen wurden. Außerdem stimmte die Schussdynamik nicht, weil der Kopf des „Opfers“ nach hinten schnellt, was bei Nahschüssen nicht passiert. Der Rauch aus der Waffe sah wirklichkeitsfremd nach Bildbearbeitung aus. Auch in einschlägigen Internet-Foren und im Usenet wird das Thema „Snuff“ völlig offen diskutiert, unter Fans wie Gegnern. Erstere argumentieren, in solchen Filmen würden bloß Horror-Phantasien inszeniert, nichts sei echt. Die Gegner machen geltend, dass die Grenze durchaus oft überschritten werde – wie oft und ob überhaupt, weiß niemand. Der Zeit-Journalist Christoph Drösser merkte in seiner Rubrik „Stimmt’s?“ zum Thema „Snuff“ an: ‘ „Videos, in denen Menschen gefoltert und getötet werden und die kommerziell vertrieben werden, sind bisher ein Produkt der Phantasie … Ein fast schon beruhigender Gedanke: Nicht jede Monstrosität, die man sich vorstellen kann, wird auch in die Tat umgesetzt.“ Wobei diese Antwort „immer eine vorläufige bleiben muss – bis zum Beweis des Gegenteils“.
Literatur
- Benecke, M. (2002): Mordmethoden. Ermittlungen des bekanntesten Kriminalbiologen der Welt. Bastei-Verlag, Bergisch-Gladbach
- Benecke, M. (2002): Snuff – Filmhistorische Anmerkungen zu einem aktuellen Thema. In: Archiv für Kriminologie, Vol. 209 (2002)
- Dirk, R./Sowa, C. (2000): Teen-Scream. Titten&Terror im neuen amerikanischen Kino. Europa-Verlag, Hamburg/Wien
- Drösser, C. (2002): Stimmt’s? Neue moderne Legenden im Test, Rowohlt-Verlag, Reinbek
- www.haikosfilmlexikon.de/splatter/gh/guineapi.htm
- Harder, B. (1998): Mord und Folter als Geschäft. In: tele-welt, Nr. 11/1998
- Kerekes, D./Slater, D. (1995): Killing for Culture. An Illustrated History of Death Film from Mondo to Snuff. Creation Books, London/San Francisco
- Kraemer, O. (1997): Snuff. In: GQ, Nr. 10/1997
- Patalong, F. (2002): Mord vor laufender Kamera. In: Spiegel-Online, www.spiegel.de
- Stine, S.A. (1999): The Snuff Film. The Making of an Urban Legend. In: Skeptical Inquirer, Vol. 23, Nr. 3/1998
- Stratenwerth, I. (1997): „Videos von Privat gesucht“. In: Die Woche vom 25. April 1997
- Svoray, Y. (1997): The Gods of Death. One man hunts the truth about Snuff-films. Simon&Schuster-Verlag, New York
- „The Bizarre Guide to Snuff Movies“. In: www.bizarremag.com/ask/snuff.html
- Wherli, R. (2001): Verteufelter Heavy-Metal. Forderungen nach Musikzensur zwischen christlichem Fundamentalismus und staatlichem Jugendschutz, Telos-Verlag, Münster
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 1/2003.