Eine Revolution der Physik? Die Unterstützung der Homöopathie und ähnlicher Therapierichtungen durch die Krankenkassen
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Die Kontroverse zwischen so genannter alternativer und Schulmedizin ist nicht nur ein Streit zweier medizinischer Lehrmeinungen, sondern stellt die Frage nach der Gültigkeit der gesamten Wissenschaft. Warum finanzieren die Krankenkassen zum Teil Heilverfahren, die weder miteinander noch mit der heutigen Physik in Einklang zu bringen sind? Der Artikel fragt nach der inneren und äußeren Stimmigkeit der Homöopathie sowie ähnlicher Therapierichtungen und soll der Diskussion zwischen Krankenkassen, Ärzten und Politikern dienen.
Die Homöopathie ist der bedeutendste Zweig der so genannten alternativen Heilverfahren. Sie erfreut sich weiter Verbreitung und staatlicher Förderung; so trägt das Homöopathische Arzneibuch auf der ersten Seite den Bundesadler, und der Präsident des Bundesgesundheitsamtes fungiert als Vorsitzender der Homöopathischen Arzneibuch-Kommission. Der Deutsche Zentralverein Homöopathischer Ärzte (DZVHÄ) zählt 3000 Mitglieder. Tausende Heilpraktiker wenden die Homöopathie an; ihre Leistungen werden vom Staat als beihilfefähig anerkannt (Beckmann et al. 1998).
Die Kontroverse zwischen der naturwissenschaftlich orientierten Medizin (Schulmedizin) und der Homöopathie sowie den homöopathieähnlichen Verfahren wird von der Öffentlichkeit zumeist nur als Streit zweier gleichwertiger Medizinschulen wahrgenommen. Tatsächlich geht es jedoch um die Gültigkeit bzw. Vollständigkeit der heutigen Physik, teilweise sogar um die Gültigkeit der gesamten Wissenschaft seit Galilei.
Im Folgenden möchte ich nicht den Versuch einer umfassenden Darstellung und Kritik der so genannten „besonderen Therapierichtungen" unternehmen. Die Homöopathie zum Beispiel ist - wie jedes medizinische Verfahren - ein komplexes Zusammenspiel von Medizin, Pharmakologie, Psychologie und Soziologie (siehe Abb. auf S. 118). Als Physiker kann ich nicht zu all ihren Facetten Stellung nehmen. Für die medizinischen Aspekte der Homöopathie verweise ich daher auf Lehrbücher (Köhler 1999, Gabanyi 1994, Wünstel et al. 1992, Gawlik 1992), eine Kurzdarstellung des DZVHÄ (1998) sowie einige Beiträge aus skeptischer Sicht (Oepen und Schaffrath 1991, Strubelt und Claussen 1999a,b, Burkhard 2000). Hier beschränke ich mich zunächst auf die Darstellung der rechtlichen Sonderstellung der besonderen Therapierichtungen im deutschen Gesundheitswesen; anschließend betrachte ich die Herstellung homöopathischer Medikamente aus der Sicht des Physikers. Sodann beschreibe ich die gedanklichen Grundlagen und Arznei-Herstellungsmethoden einiger der Homöopathie ähnelnder Verfahren, zeige die Akzeptanz solcher Verfahren durch einige Krankenkassen auf und stelle am Schluss die Frage nach der inneren wie äußeren Stimmigkeit einer solchen Kassenpolitik.
Die rechtliche Sonderstellung der besonderen Therapierichtungen
Die Mehrheit der Patienten nimmt an, alle Medikamente, die in einer Apotheke verkauft werden, seien gründlich auf ihre medizinische Wirksamkeit geprüft worden. Das ist nicht der Fall; vielmehr sind im Arzneimittelgesetz (AMG) bestimmte Gruppen von einer Wirksamkeitsprüfung ausgenommen. Diese Medikamente gehören zu den drei besonderen Therapierichtungen: Homöopathie, anthroposophisch erweiterte Heilkunst und Phytotherapie (Pflanzenheilkunde). Sie werden teils lediglich beim Bundesgesundheitsamt registriert (Homöopathika ohne Indikationsangabe), teils nach Beurteilung durch Sachverständige der entsprechenden Therapierichtung (also Anhänger der Homöopathie und der anthroposophischen Heilkunde) zugelassen.
Die erstaunliche Tatsache, dass ganze Gruppen von Medikamenten von einer soliden wissenschaftlichen Wirksamkeitsprüfung ausgenommen werden, wurde durch das Arzneimittelgesetz von 1976 begründet. Im Jahre 1992 folgte die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Registrierung homöopathischer Arzneimittel, die für Homöopathika eine Haltbarkeitsdauer von fünf Jahren festlegt (Bundesminister f. Ges. 1992).
Nachdem die Homöopathie und die anthroposophisch erweiterte Heilkunst ihren Platz im Arzneimittelrecht gefunden hatten, wurde auch die Herstellung der zugehörigen Medikamente amtlich geregelt. Die erste Ausgabe des Homöopathischen Arzneibuches (HAB1) wurde am 25. 7. 1978 zur amtlichen Ausgabe bestimmt, sodass es den Bundesadler tragen kann. Das HAB1 hat die Form einer Loseblattsammlung; die Ergänzungslieferungen werden in der Regel vom Bundesgesundheitsminister unterschrieben.
Ein Arzneimittelrechts-Kommentar verdeutlicht den Hintergrund der politischen Entscheidungen:
„Bei der Beurteilung von Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen - Homöopathika, Anthroposophika und Phytotherapeutika - hat die Zulassungsbehörde Sachverständige zu hören, die auf dem Gebiet der jeweiligen Stoffgruppen oder der jeweiligen Therapierichtung über wissenschaftliche Erkenntnisse verfügen und praktische Erfahrungen gesammelt haben (§ 25 Abs. 6 Satz 6). Auf diese Weise hat der Gesetzgeber Befürchtungen Rechnung getragen, dass die Entscheidungen über die Unbedenklichkeit und vor allem über die Wirksamkeit naturheilkundlicher Arzneimittel allein auf der Basis schulmedizinischer Denkansätze getroffen werden. Er wollte vielmehr sicherstellen, dass der Pluralität der wissenschaftlichen Lehrmeinungen Rechnung getragen wird. Der Fortbestand der pflanzlichen Arzneimittel, der homöopathischen und anthroposophischen Arzneimittel, die sich auf eine lange Erfahrung gründen und eine besondere Auffassung von der Aufgabe der Arzneimittel zur Grundlage haben, bleibt durch die Regelungen des Gesetzes und bei ihrem verwaltungsmäßigen Vollzug gewährleistet (Tendenzschutz)" (Pabel 1991, S. 132f.).
Die Formulierung „Pluralität wissenschaftlicher Lehrmeinungen" suggeriert Gleichwertigkeit der Lehren und verstellt den Blick dafür, dass es hier um die Konfrontation zweier Systeme mit einander ausschließenden Tatsachenaussagen, um ein In-Frage-Stellen des gesamten wissenschaftlichen Weltbildes geht. Diese Wahrnehmungssperre möchte ich beseitigen.
Der Binnenkonsens
In Deutschland werden die Taxis in ziemlich kurzen zeitlichen Abständen vom Technischen Überwachungsverein auf ihre technische Sicherheit geprüft; ebenso müssen sich die Fahrer einer Tauglichkeitsprüfung unterziehen. Der von den Fahrern und Taxiunternehmern unabhängige TÜV prüft im Interesse der allgemeinen Verkehrssicherheit und der Fahrgäste. Man könnte sich aber auch vorstellen, dass alle am Bahnhof Zoo stehenden Taxifahrer sich zu einer Gruppe zusammenschließen, einander und ihre Autos untersuchen und danach feststellen: „Unsere Karren sind in Ordnung und kieken könn wa ooch." Hier würde also eine Feststellung innerhalb einer Gruppe ohne Mitwirkung einer neutralen Instanz getroffen. Eine solche Feststellung bezeichnet man als Binnenkonsens.
Schon der Bundesadler auf dem Homöopathischen Arzneibuch deutet die rechtliche Stellung der Homöopathie an.
Binnenkonsens ist in der menschlichen Gesellschaft im Bezug auf Werturteile durchaus üblich und sozial stabilisierend. Das ist aber etwas anderes als ein Binnenkonsens über Tatsachenaussagen mit Anspruch gegenüber gemeinschaftsfremden Personen. Die Möglichkeit der besonderen Therapierichtungen, die Bewertung ihrer Präparate im Binnenkonsens durchzuführen, wäre nicht weiter bemerkenswert - wenn diese Präparate nicht zum Teil über die Solidargemeinschaften der Krankenkassen bezahlt würden.
Beachtenswert ist auch die Rolle der Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes, die Vorsitzende der Homöopathischen Arzneibuch-Kommissionen waren. In dieser Funktion müssen sie annehmen, die Eigenschaften einer Flüssigkeit könnten durch Schütteln verändert werden. In ihrer übrigen Arbeit müssen sie das Gegenteil voraussetzen. Zum Vergleich stelle man sich vor, der Präsident des Luftfahrtbundesamtes wäre Vorsitzender einer Piloten-Kommission, deren Mitglieder die Erde für eine Scheibe halten. Die Zumutung dieses „Doppeldenk" - gleichzeitig zwei einander ausschließende Ansichten zu vertreten - ist nicht die Fiktion eines Orwell-Staates, sondern Realität im heutigen Deutschland.
Die Homöopathie aus physikalischer Sicht
Die Homöopathie ist nach ihrem Selbstverständnis weder Psychotherapie noch Seelsorge, sondern eine Therapie mit Medikamenten. Der Arzt untersucht den Patienten auf die in der Homöopathie vorgeschriebene Weise (Anamnese-Erhebung und Repertorisierung) und ermittelt hierdurch das geeignete Medikament nach dem Simileprinzip; das Medikament wird hergestellt und dem Patienten gegeben. Also ist die Wirksamkeit der Medikamente eine notwendige Bedingung für die Wirksamkeit der Homöopathie. Die Herstellung der Medikamente erfolgt nach den Vorschriften des Homöopathischen Arzneibuches (HAB1) durch rein technisch-pharmazeutische Verfahren ohne Bezug auf einen individuellen Menschen; für die typisch homöopathischen Produktionsschritte (Verdünnen und Schütteln) ist die Physik nach ihrem Selbstverständnis allein zuständig.
Nach den Vorschriften des HAB1 beginnt man, um z. B. ein Belladonna-Präparat herzustellen, mit dem Saft von Belladonna (Tollkirsche), der als Urtinktur bezeichnet wird. Von diesem gibt man ein Teil in ein Gefäß, darauf neun Teile Lösungsmittel (51%igen Alkohol), sodass eine Verdünnung von 1:10 entsteht. Nach dem lateinischen Wort für zehn heißt diese Potenzierungsreihe D, die erste Stufe also D1. Diese Lösung muss „mindestens 10mal kräftig geschüttelt" werden. Von dieser nimmt man wieder ein Teil, gibt darauf neun Teile Lösungsmittel, schüttelt und erhält D2 - und so weiter. Eine wesentliche Aussage der Homöopathie ist, dass durch dieses stufenweise Verdünnen mit dazwischengeschaltetem Schütteln, das Potenzieren, etwas anderes entsteht als durch das Verdünnen in einem Zug. So soll die Potenzierung D3 eine andere Wirksamkeit haben als die Verdünnung 1:1000.
Durch die Potenzierung gelangt man bald an die Grenze, jenseits derer kein Molekül der Urtinktur mehr in der Lösung enthalten ist. Diese Grenze, die durch die Avogadro-Zahl (Zahl der Moleküle pro Mol) gegeben ist, wird bei D23 erreicht. Für die üblichen Hochpotenzen D30 und höher lässt sich somit kurz und griffig formulieren: Wo Belladonna D30 draufsteht, ist kein Belladonna drin. Diese Tatsache ist den Homöopathen (wenn auch nicht allen Patienten) bekannt. Nach der Lehre Hahnemanns, der 1796 die Homöopathie begründete, rührt die Wirksamkeit der Hochpotenz-Präparate nicht von den materiellen Anteilen der Urtinktur her, sondern von einer Eigenschaft der Urtinktur, die er als „geistartige Kraft" bezeichnete. Diese geistartige Kraft soll durch das Schütteln auf das Lösungsmittel übertragen, ihre Wirksamkeit durch das Potenzieren gesteigert und durch die Verabreichung die Lebenskraft des Patienten erhöht werden. Spätere Autoren verwenden statt „geistartige Kraft" die Bezeichnungen „Bildekraft" bzw. „Wesen" (Steiner), „Urprinzip" bzw. „Information" (Dethlefsen 1985) oder „Energie".
Die medizinisch-psychologischen Faktoren der Homöopathie, auf die dieser Artikel nicht eingeht, sind kursiv dargestellt, während der Zuständigkeitsanspruch der Physik für die Medikamenten-Herstellung durch gewöhnliche Schrift gekennzeichnet ist.
Die Lösungsmittel Wasser und Alkohol sind keineswegs vollkommen reine Stoffe. Das sauberste Lösungsmittel, das das Arzneibuch kennt, ist „Wasser für Injektionszwecke". Dieses darf noch Nebenbestandteile wie z. B. Kalk- oder Eisenverbindungen enthalten, deren Konzentration etwa D6 entspricht. Auch der Alkohol enthält Nebenbestandteile, die davon abhängen, ob er aus Wein, Roggen oder Kartoffeln hergestellt wurde. Diese Nebenbestandteile werden beim Potenzieren mitgeschüttelt. Die Homöopathen nehmen jedoch an, dass beim Potenzieren nur die geistartige Kraft der Urtinktur an das Lösungsmittel übertragen werde, während den Nebenbestandteilen keinerlei Bedeutung zukomme. Somit ergeben sich für die Wirksamkeit der Hochpotenz-Homöopathie folgende notwendige Bedingungen:
1. Die Eigenschaften einer Lösung können durch Schütteln verändert werden.
2. Die Eigenschaften einer Lösung hängen von der Art der Verdünnung (stufenweise oder in einem Zug) ab.
3. In der Urtinktur existiert eine geistartige Kraft.
4. Die geistartige Kraft wird durch Schütteln auf das flüssige Lösungsmittel übertragen.
5. Diese Übertragung geschieht auch dann noch, wenn kein Rest der Urtinktur mehr vorhanden ist.
6. Die geistartige Kraft ist im flüssigen Lösungsmittel langfristig gespeichert (mindestens fünf Jahre).
7. Die geistartige Kraft rührt nur von der Urtinktur her, nicht von den Nebenbestandteilen des Lösungsmittels.
Hochpotenz-Homöopathie kann nur funktionieren, wenn alle diese notwendigen Bedingungen gemeinsam erfüllt sind. Andererseits würde bereits jede einzelne Bedingung im Falle ihrer Erfüllung die heutigen Naturwissenschaften als grob unvollständig nachweisen. Physik und Chemie kennen keine Veränderung einer Lösung durch Schütteln („Schütteln" als Verarbeitungsschritt kommt in Römpps Chemielexikon gar nicht vor), keine Abhängigkeit von der Art der Verdünnung, keine geistartige Kraft (weder in Anwesenheit noch in Abwesenheit der Urtinktur), keine Unterscheidung der Urtinktur von den Nebenbestandteilen und keine Speicherung von Information in einer Flüssigkeit, weil deren Moleküle - von kurzlebigen kristallähnlichen Wassermolekülverbänden abgesehen, die als Cluster bezeichnet werden - in ständiger ungeordneter Bewegung sind.
Ich behaupte wohlgemerkt nicht: „Aus der Physik folgt, dass das Phänomen X nicht existiert", sondern treffe nur die schwächere, leicht prüfbare Aussage „Wenn das Phänomen X existiert, ist die Physik grob unvollständig, weil sie dieses Phänomen nicht kennt". Dabei bedeutet „grob", dass die Vervollständigung der Physik, also die Schließung der Wissenslücke, nobelpreiswürdig wäre. Bei der Erfüllung der oben genannten Bedingungen handelt es sich nicht um geringfügige Ergänzungen, sondern um radikale Änderungen der gegenwärtigen Lehre, qualitativ vergleichbar z. B. mit der Entdeckung der Kernspaltung.
Homöopathie-ähnliche Verfahren
Als homöopathieähnlich bezeichne ich die Verfahren, die sich zwar in ihrer Krankheitslehre sowie ihrem Menschen- und Naturbild grundlegend von der Hahnemann-Homöopathie unterscheiden, in der Medikamenten-Herstellung jedoch ähnliche Verfahren verwenden. Dies sind vor allem die anthroposophisch erweiterte Heilkunst nach Rudolf Steiner und die Spagyrik, die insgesamt der Esoterik zuzurechnen sind.
Rhythmische Präparate
In der anthroposophisch erweiterten Heilkunst, deren Präparate überwiegend von den WELEDA-Werken hergestellt werden, spielen kosmische Rhythmen eine wichtige Rolle. So schreibt der anthroposophische Arzt Otto Wolff: „Durch das Studium der kosmisch-ätherischen Kräfte, die der Pflanzenbildung zugrunde liegen, ist es möglich, diese in besonderer Weise, das heißt durch rhythmische Behandlung der Säfte, wirksam werden zu lassen und damit die Heilwirkung zu erhöhen. Es wurden besondere Verfahren ausgearbeitet, um mit Hilfe von rhythmischen Prozessen kosmische Kräfte in die Substanzen einwirken zu lassen" (Bühler und Wolff 1992, S. 25). Wenn das stimmt, ist die Physik grob unvollständig, weil sie keine „kosmisch-ätherischen" Kräfte kennt.
Die rhythmischen Prozesse werden im HAB1 folgendermaßen realisiert:
„Rh-Urtinkturen nach Vorschrift 21 werden aus frischen Pflanzen (...) hergestellt. (...) Der Presssaft wird (...) bis zur vollständigen Vergärung dem nachfolgend beschriebenen tageszeitlichen Warm-Kalt-Rhythmus („Rh") ausgesetzt. Der Presssaft wird morgens im Lauf von mindestens 30 Minuten auf etwa 37°C erwärmt und dann auf dieser Temperatur gehalten. Abends wird er im Laufe von mindestens 30 Minuten auf etwa 4°C abgekühlt und dann auf dieser Temperatur gehalten. Innerhalb jeder Erwärmungs- und Abkühlungsphase wird das Ansatz-Gefäß mindestens 10 Minuten lang geschüttelt."
Demnach hätte die Wärmebehandlung im Tagesrhythmus einen Einfluss auf das Medikament. Die Physik kennt hingegen keine Abhängigkeit der physikalisch-chemischen Abläufe von der Tageszeit. Wenn der Belladonnasaft weiß, wieviel Uhr es ist, dann ist die gesamte Wissenschaft seit Galilei grob unvollständig. Der Widerspruch zur Physik ließe sich vermeiden, wenn die Gärungserreger als Lebewesen mittels ihrer biologischen Uhr einem Tag-Nacht-Rhythmus unterlägen und so den Rh-Effekt bewirkten. Diese Frage wäre an die Experten der Brauerei- und Brennerei-Industrie zu richten. Das wäre aber eine naturwissenschaftlich erklärbare Wirkung, nicht der von Rudolf Steiner angenommene kosmozyklische Einfluss. Bei einem physikalisch-medizinischen Test (z. B. an Belladonna Rh D30, WELEDA-Werke) wäre der Vergleich durchzuführen mit einem Medikament, bei dem die zyklische Wärmebehandlung zwischen denselben Temperaturen, jedoch mit der Vertauschung von morgens und abends durchgeführt wurde.
Vegetabilisierte Metalle
Ein weiteres Element der anthroposophischen Lehre ist das „Wesen" der Metalle, durch das sie mit einer Pflanze, einem menschlichen Organ, einem Planeten und einem Tierkreiszeichen verbunden sind. Danach ist Eisen mit der Brennnessel (Urtica dioica), der Galle, dem Mars und dem Tierkreiszeichen Widder verbunden. Zur Herstellung von „vegetabilisiertem" Eisen wird ein Brennnesselbeet mit einem speziellen Eisenpräparat gedüngt. Im Herbst werden die Brennnesseln kompostiert. Dieser Kompost dient im nächsten Jahr als Dünger der Brennnesseln, die wiederum kompostiert werden usw. Nach dem dritten Jahr wird aus den Brennnesseln das vegetabilisierte Eisen gewonnen und zum Präparat „Urtica dioca ferro culta" verarbeitet.
Wenn dieses Verfahren wirkt, ist die Physik grob unvollständig, weil sie eine Veränderbarkeit des Elementes Eisen durch eine Pflanzenbehandlung nicht kennt. Außerdem sind die gesamte Naturwissenschaft und Schulmedizin seit Galilei grob unvollständig, da sie Zusammenhänge zwischen Metallen, Pflanzen, Organen, Planeten und Tierkreiszeichen nicht kennen.
Spagyrik
„Meyers Großes Taschenlexikon" erklärt den Begriff Spagyrik: „Vermutlich von Paracelsus geprägte Bezeichnung für denjenigen Zweig der Alchemie, der durch hermetische [d. h. auf Hermes Trismegistos (ca. 300 v. Chr.) zurückgehend - ML] Manipulationen des Trennens und Wiedervereinigens aus Roharzneistoffen mineralischen, pflanzlichen und tierischen Ursprungs gereinigte, geläuterte und damit in der Vorstellung der Spagyriker wirksamere Arzneimittel herzustellen lehrte."
Unter der Überschrift „Das Große Werk des spagyrischen Heilens" berichtet Ulrich Arndt ausführlich über die Spagyrik:
„Spagyrik nennt man den Teil der Alchemie, der sich mit Hilfe überlieferter alchemistischer Verfahren der aufwendigen Fertigung von Medikamenten und Tinkturen widmet - Verfahren, die sich beträchtlich sowohl von denen der Schulmedizin und der Pflanzenheilkunde als auch von denen der Homöopathie unterscheiden. (...) Die Fertigungsschritte Gärung, Destillation, Reinigung, Veraschung und Zusammenführung - an sich schon zeitaufwändiger als die meisten heute üblichen medizinischen Herstellungsverfahren - müssen zudem noch in Harmonie mit bestimmten kosmozyklischen Abläufen wie dem Stand von Sonne, Mond und Planeten durchgeführt werden. (...) Eisklares Wasser (...) wird in Spiralen über sieben Ringe geleitet, die die Information von sieben verschiedenen Metallen enthalten, welche wiederum mit den sieben Planeten in Beziehung stehen. Dann fließt das auf diese Weise energetisierte Wasser durch Holzrinnen zu Feldern und Gärten mit den unterschiedlichsten Heilpflanzen. (...) Zu bestimmten Zeiten, im Rhythmus der Auf- und Untergänge von Sonne und Mond, werden sie [die Heilpflanzen] bewegt, um die polaren Kräfte dieser Gestirne in den Pflanzensäften harmonisch zu entfalten. (...) Nach Destillation, Reinigung und anderen Fertigungsschritten sind die Pflanzen, Mineralien und Metalle in eine spagyrische Tinktur verwandelt" (Arndt 1997).
Die Verbindung der Spagyrik zu Alchemie, Numerologie und esoterischer Kosmologie ist offensichtlich. Der Nachweis, Wasser könne „energetisiert" werden, würde die Physik als grob unvollständig erweisen. Vor einem solchen Nachweis müsste der Autor jedoch präzisieren, was er unter „energetisiertem" Wasser versteht. Das gleiche gilt für die „polaren Kräfte" der Gestirne.
Diese Manipulationen des Trennens, Wiedervereinigens und Läuterns werden im HAB1 realisiert:
„Spagyrische Urtinkturen nach Vorschrift 25 werden aus frischen Pflanzen oder Pflanzenteilen (...) hergestellt. (...) In einem geeigneten Gefäß wird 1 Teil Pflanzenmasse mit 1 Teil Wasser und 0,005 Teilen Hefe versetzt und unter täglichem Durchmischen bei einer Temperatur zwischen 20 und 25°C der Gärung überlassen. Sobald die Gärungsvorgänge zum Stillstand gekommen sind, wird der Ansatz der Wasserdampfdestillation unterworfen. Im Auffanggefäß werden für ein Teil Pflanzenmasse 0,4 Teile Äthanol 86% vorgelegt; die Destillation wird beendet, sobald auf 1 Teil Pflanzenmasse 2 Teile der Mischung von Destillat und vorgelegtem Äthanol erhalten worden sind. Der Destillationsrückstand wird abgepresst, getrocknet und bei etwa 400°C verascht. Der Veraschungsrückstand wird zum Destillat gegeben; nach 48 Stunden wird filtriert."
Was bedeutet es für das Ansehen des Wissenschaftsstandorts Deutschland, wenn eine solche Vorschrift, die der Alchemie zuzuordnen ist, im HAB1 erscheint? Mindestens sollten die Mitglieder der Homöopathischen Arzneibuch-Kommission und der Bundesminister, der das HAB1 unterschrieben hat, sagen können, was sie sich dabei gedacht haben.
Die Haltung einiger Krankenkassen
Die Techniker Krankenkasse (TK) informiert in ihrer Broschüre „Anders heilen" zunächst über die Homöopathie, wobei Hochpotenzen ausdrücklich akzeptiert werden: „Die Inhaltsstoffe homöopathischer Arzneimittel (...) werden nach bestimmten Herstellungsvorschriften gelöst, zerrieben oder aufgeschwemmt und in exakt einzuhaltenden Abstufungen verdünnt. (...) Die Verdünnungsstufe wird als Potenz angegeben. Sie gilt in der Homöopathie als Maß für die therapeutische Wirkkraft der Arznei."
Weiter heißt es:
„Die Basis des anthroposophischen medizinischen Weltbildes ist die Unterteilung des Menschen in vier sogenannte ,Wesensglieder‘: Der ,physische Leib‘ ist der Körper, mit dem wir leben, der ,Äther-Leib‘ besteht aus den körperbelebenden Lebenskräften (Stoffwechselsystem), der ,Astral-Leib‘ besteht aus der Lust, dem Instinkt und der Leidenschaft (Seele), und das ,Ich als das Bewusstsein von sich selbst (Nerven und Sinnessystem, Geist). (...) Im anthroposophischen Sinn medizinisch tätig zu werden bedeutet, das Ungleichgewicht im Körper zwischen diesen einzelnen Leibqualitäten auszugleichen. (...) Dabei spielen auch Metalle eine wichtige Rolle, und sie werden als sogenannte ,vegetabilisierte‘ Metalle eingesetzt. Für diese Zubereitung wird ein entsprechendes Metallsalz um eine Pflanze herum dem Boden zugesetzt, in dem dann drei Jahre lang eine Pflanze wächst, die wesensmäßig zu dem Metall passt. Die theoretische Annahme ist dann, dass nach drei Jahren die Pflanze vollständig von dem Metallprozess durchsetzt ist" (Dogs 1997, S. 9 und 16f.). Trotz der Einschränkung „theoretische Annahme" kann man bei der Lektüre den Eindruck gewinnen, dass die TK die gesamte Wissenschaft und Medizin für grob unvollständig hält, da diese derartige Zusammenhänge und Einteilungen nicht kennen.
Die Hanseatische Krankenkasse (HEK) wirbt in Anzeigen wie folgt um Mitglieder: „Besondere Leistungen im Bereich Naturheilverfahren. Bitte erkundigen Sie sich! Wir übernehmen als Vertragsleistung z. B. Akupunktur, Anthroposophische Medizin, Homöopathie und mehr" (HEK 1998).
Unter der Überschrift „Anthroposophische Medizin: Wer bezahlt?" informieren die WELEDA-Nachrichten (1999) über Krankenkassen, die Leistungen der Homöopathie und anthroposophischen Medizin erstatten, nämlich die IKK Hamburg, die BKK Post und die Securvita BKK. Die Securvita BKK hat die Erstattung der besonderen Therapierichtungen „ausdrücklich auch in ihre Satzung aufgenommen"; „bei den Angeboten der IKK Hamburg und der BKK Post handelt es sich um wissenschaftlich begleitete Modellprojekte, durch die während fünf bzw. acht Jahren relevante Erkenntnisse über Kosten und Nutzen der klassischen Homöopathie, der Neuraltherapie, der Akupunktur und der anthroposophischen Medizin erhoben werden."
Beliebigkeit der Therapie?
Erstaunlich, dass die genannten Krankenkassen sowohl die Homöopathie als auch die anthroposophisch erweiterte Heilkunst als wirksame Therapien betrachten, die von ihnen bezahlt werden: Stelle ich mich auf den Standpunkt einer dieser Therapien, so erscheint mir die jeweils andere folgendermaßen:
Stehe ich auf dem Standpunkt der Hahnemann-Homöopathie, dann erscheint die anthroposophisch erweiterte Heilkunst als esoterische Scharlatanerie, weil sie die entscheidenden Voraussetzungen, das Simile-Prinzip und die Arzneimittelprüfung am Gesunden nicht kennt. Vielmehr ist die Arzneimittelwahl an die Weltanschauung der Anthroposophie gebunden; eine weltanschauliche Bindung wird jedoch von Hahnemann ausdrücklich abgelehnt.
Stehe ich auf dem Standpunkt der anthroposophisch erweiterten Heilkunst, dann erscheint die Hahnemann-Homöopathie als platter Materialismus, weil sie die entscheidenden Voraussetzungen, die viergliedrige Einteilung des Menschen und den Einfluss des kosmischen Geschehens nicht kennt.
Revolution der Physik?
„Mensch, reg dich auf! Was du siehst, hat noch keiner gesehen!" lässt Brecht den Galilei seinem Freund Sagredo nach der Entdeckung der Jupitermonde zurufen (Brecht 1963, 3. Bild). Galilei hatte soeben ein Weltbild falsifiziert, das nur auf Hypothesen gegründet und noch nicht experimentell geprüft worden war. Seine Aufregung bewirkte, dass er das Buch „Der Sternenbote" schrieb, das noch im selben Jahr erschien und alle Zeitgenossen zur Prüfung seiner Beobachtungen aufrief. Die Aussage, dass die Eigenschaften einer Lösung durch Schütteln geändert werden, ist von ähnlicher Tragweite wie die Entdeckung der Jupitermonde. Sie weist der Physik und Chemie, den Grundlagen der Wissenschaft und Technik des 20. Jahrhunderts, grobe Unvollständigkeit nach. Das soll man nicht nebenbei unterschreiben, danach darf man nicht ruhig schlafen, da soll man sich aufregen.
Als Hahn und Straßmann 1939 zu ihrem größten Erstaunen bemerkten, dass beim Beschuss von Uran mit Neutronen etwas Neues entsteht, nämlich Barium, regten sie sich zu Recht auf und publizierten umgehend. Was sie entdeckt hatten, erwies die bisherige Physik als grob unvollständig:die Kernspaltung. Wenn beim Schütteln einer Lösung etwas Neues entsteht, sei es eine geistartige Kraft, sei es - wie von vielen Homöopathen behauptet - ein stabiler Verband der Lösungsmittelmoleküle (Arndt 1996), dann wäre dies womöglich ebenso folgenreich wie die Entdeckung des Bariums.
Die Tatsache, dass einige Krankenkassen die Kosten für mehrere der oben beschriebenen Heilmethoden erstatten, obwohl sie völlig verschiedene, teils widersprüchliche Grundlagen haben und jede von ihnen die Physik als grob unvollständig hinstellt, erweckt den Eindruck, dass die uns Wissenschaftlern selbstverständliche Forderung, ein System müsse nach innen und außen stimmig sein, bei den Entscheidungen der Politik und der Krankenkassen über die Finanzierung der besonderen Therapierichtungen keine Rolle spielt. Womöglich sind die Krankenkassen heute kaum noch Solidargemeinschaften auf dem Fundament schulmedizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern vielmehr Konsumentenvereinigungen auf Glaubensbasis. Dass das Sozialgericht Lübeck Ende 2000 der Securvita das Recht zusprach, ihren Mitgliedern auch weiterhin die Kosten für Behandlungen durch Hochpotenz-Homöopathie und anthroposophische Medizin zu erstatten (wogegen das Bundesversicherungsamt geklagt hatte), weist in diese Richtung (Aktenzeichen S8 KR 167/99 ER 2). Gerade in der augenblicklichen politischen Debatte um die langfristige Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems wäre es wünschenswert, wenn Krankenkassen und Gesundheitspolitiker zu den in diesem Artikel herausgestellten Aspekten klar Stellung bezögen.
Literatur
- Arndt, U. (1996): Die heilige Ordnung - Geheimnis Wasser. Esotera 10/96, 40
- Arndt, U. (1997): Das „Große Werk" des spagyrischen Heilens. Esotera 10/97, 50-56
- Beckmann, O., Heise, H., Eyer, M. (1998): Beihilfevorschriften des Bundes und der Länder. Richard Boorberg Verlag, edition moll, München. Ordner II, Anhang 15: Gebührenverzeichnis für
- Heilpraktiker (GebüH), Ziffer 2: Durchführung des vollständigen Krankenexamens mit Repertorisation nach den Regeln der klassischen Homöopathie
- Brecht, B. (1963): Leben des Galilei, Suhrkamp, Frankfurt/M.
- Bühler, W., Wolff, O. (1992): Soziale Hygiene. Anthroposophische Medizin und ihre Heilmittel. Verein für ein erweitertes Heilwesen e. V., Bad Liebenzell-Unterlengenhardt. 6. Aufl.
- Bundesminister für Gesundheit (1992): Bekanntmachung vom 18. Dezember 1992, BAnz. Nr. 244, 30. Dezember 1992
- Burkhard, B. (2000): Anthroposophische Arzneimittel. Eine kritische Betrachtung. GOVI-Verlag, Eschborn
- Dethlefsen, T. (1985): Schicksal als Chance. Das Urwissen zur Vollkommenheit des Menschen. Goldmann, München, 15. Aufl.
- Dogs, C. P. (1997): Anders heilen. Techniker Krankenkasse, 1. Aufl.
- DZVHÄ (1998): Homöopathie - Eine Standortbestimmung des Deutschen Zentralvereins Homöopathischer Ärzte. Allgemeine Homöopathische Zeitung AHZ 243 (5/98), 198-202 Gabanyi, D. (1994): Homöopathie für Allgemein- und Fachpraxen. Eine bewährte Arzneimitteltherapie in zeitgemäßer und praxisnaher Darstellung. Perimed-Spitta Medizinische Verlagsgesellschaft, Balingen
- Gawlik, W. (1992): Homöopathie und konventionelle Therapie. Anwendungsmöglichkeiten in der Allgemeinpraxis. 2. Aufl., Hippokrates Verlag, Stuttgart
- HEK (1998): Anzeige in: Kneippblätter. Zeitschrift für naturgemäße Lebens- und Heilweise, Juni 1998, 235
- Köhler, G. (1999): Lehrbuch der Homöopathie. Band I: Grundlagen und Anwendung. 7. Aufl., Hippokrates Verlag, Stuttgart
- Oepen, I., Schaffrath, B. (1991): Homöopathie heute. Skeptiker 2/91, 38-43
- Pabel, H. J. (Hrsg., 1991): Arzneimittelgesetz mit Änderungsgesetzen und einer Kurzdarstellung. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart
- Strubelt, O., Claussen, M. (1999a): Ist Homöopathie mehr als ein Placebo? Die fehlende Beweiskraft einer sogenannten Meta-Analyse. Skeptiker 1&2/99, 40-43
- Strubelt, O., Claussen, M. (1999b): Zum Wirksamkeitsnachweis homöopathischer Arzneimittel. Deutsche medizinische Wochenschrift. 124, 261-266
- WELEDA (1999): Anthroposophische Medizin: Wer bezahlt? WELEDA Nachrichten 215, 12
- Wünstel, G., Gawlik, W., Stübler, M. (1992): Aktuelle Anwendungsmöglichkeiten der Homöopathie in der ärztlichen Praxis. Spitta Verlag, Balingen
Prof. Dr. Martin Lambeck, Studium des Wirtschaftsingenieurwesens und der Physik in Berlin. 1959 Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Physik, 1964 Promotion zum Dr.-Ing., 1969 Habilitation für Physik. Seit 1970 Professor am Fachbereich Physik der TU Berlin. Veröffentlichungen auf den Gebieten Optik, Magnetismus, zerstörungsfreie Werkstoffprüfung, Physik-Didaktik, Zusammenhang der Physik mit dem geistesgeschichtlichen Umfeld, Übersetzungen aus dem Englischen. Anschrift: Fachbereich Physik, Sekretariat P1-1, Technische Universität Berlin, 10623 Berlin; Lambeck(at)gwup.org
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 3/2001.