Der Sechste Sinn und die unbewusste Wahrnehmung
Wolfgang Hell
Wenn Menschen regelmäßig erleben, dass sie sich auf ihre Vorahnungen und Intuitionen verlassen können, führen sie dies nicht selten auf paranormale Fähigkeiten zurück. |
Ich habe immer gefunden, dass Menschen, die ein für sie nicht erklärliches Erlebnis hatten, viel zugänglicher für eine wissenschaftliche Erklärungen sind, wenn man sie ernst nimmt und ihre Fähigkeiten, ein Erlebnis einigermaßen richtig wiederzugeben, nicht von vornherein bezweifelt. Natürlich mag es manchmal, wie auch in der Wissenschaft, Schwindler geben, die meisten Menschen aber sind aufrichtig. Wir können von den zum Teil in der Parapsychologie erforschten Phänomenen eine Menge über die menschliche Kognition lernen, was auch Mainstream-Psychologen, -Mediziner, -Neurophysiologen und -Biologen interessieren sollte. Die Beschränkung von Parapsychologen auf eine einzige Erklärung ist es, die mich stört. Die Parapsychologie könnte ein so spannendes Gebiet sein, das auch in der Mainstream-Wissenschaft mehr Beachtung finden würde, wenn sie diese Beschränkung aufgäbe und ernsthaft nach naturalistischen Erklärungen für ihre Befunde und Berichte suchen würde. Dieser Artikel berichtet Befunde, die den so genannten sechsten Sinn als Phänomen ernst nehmen, aber ihm eine naturalistische Erklärung geben.
„Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass jemand sie heimlich beobachtet und plötzlich bemerkte sie die Blicke des Büffelhirten“ (Vietnamesisches Märchen).
„Obwohl unentschlossen, hielt ihn ein unbestimmtes Gefühl zurück... Ein Krachen und ein Aufschrei der Menge versetzte ihn augenblicklich zurück in die Gegenwart. ... Genau vor ihm, am Rathaus, war ein Baugerüst eingestürzt“ (Lukas Wenger, Rote Rose)
Ein unbestimmtes Gefühl, das einen ohne bewusste Entscheidung zu einer bestimmten Handlung treibt oder von einer bestimmten Handlung abhält, ist manchen von uns gut bekannt. Wie weit verbreitet ein solches Gefühl ist, zeigen die beiden Zitate oben, eines von hier und heute und eines aus einer ganz anderen Zeit und Kultur. Woher kommt dieser Sechste Sinn? Gibt es dafür eine rationale Grundlage? Hat ihn jeder Mensch in gleicher Weise? Diese Fragen soll dieser Beitrag beantworten. Sie werden einen kleinen Überblick erhalten über psychologische Forschungen zur unbewussten Wahrnehmung, einen kurzen Einblick in einen ganz kleinen Teilbereich der Forschungen von Parapsychologen und meine persönliche Ansicht darüber kennenlernen, was der rationale Kern des Sechsten Sinns ist und welche Befunde man mit diesem rationalen Kern alle erklären kann. Doch zuerst sollen Sie erfahren, was all das mit Schafen und Ziegen zu tun hat.
Schafe und Ziegen
Eine in der Parapsychologie wichtige Einteilung ist die der Menschen in Schaf und Ziegen (sheep and goats). Die Schafe sind diejenigen, die an parapsychologische Phänomene (z. B. Hellsehen, der Einfluss von Geist auf die Materie, Ahnungen) glauben, die Ziegen sind die, die nicht daran glauben bzw. natürliche Ursachen vermuten. Die Unterteilung stammt von Gertrude Schmeidler (1945, 1959) und geht auf eine Bibelstelle zurück. „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und der wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe (sheep) von den Böcken (goats) scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.“ (Matthäus, 25: 31–33) Warum Schmeidler diese Unterteilung für empirisch fruchtbar hält, schreibt sie auf einer Webseite über sich (meine Übersetzung): „Die Daten überzeugten mich. Wiederholt waren die durchschnittlichen ESP-Werte [extra-sensory perception; außersinnliche Wahrnehmung; W. H.] von Versuchspersonen, die jegliche Möglichkeit von ESP-Erfolg von sich wiesen (die ich Ziegen nannte), geringer als die durchschnittlichen ESP-Werte von anderen Versuchspersonen (die ich Schafe nannte).“
Es gibt Fragebögen, mit denen die Einstellung zu ESP erfasst wird, die also sozusagen die Ziegen von den Schafen trennen. In diesen Fragebögen wird nach Einstellungen gefragt. Für mein Kapitel interessanter sind allerdings Fragebögen, in denen nach Verhaltensweisen und Wahrnehmungen gefragt wird. So hat Michael Thalbourne (2001) einen Fragebogen zu Transliminalität konstruiert und eingesetzt. Beispiele von Fragen aus diesem Fragebogen sind:
- „Manchmal führe ich kleine Rituale aus, um negative Einflüsse abzuwehren.“
- „Ich habe manchmal eine bösartige Präsenz um mich herum gespürt, ohne etwas zu sehen.“
- „Ich hatte schon über Zeiträume von mehreren Tagen hinweg ein erhöhtes Bewusstsein für Sinneseindrücke, die ich nicht ausblenden konnte.“
Transliminalität wird von Thalbourne (2000) so definiert (meine Übersetzung):
„Transliminalität ist die vermutete Tendenz für psychologisches Material, die Schwelle (limen) in unser Bewusstsein hinein oder aus ihm heraus zu über-(trans)schreiten.“
Stark transliminale Personen haben im Vergleich zu weniger transliminalen einen stärkeren Glauben an Paranormales, berichten über mehr mystische Erfahrungen, sind kreativer, neigen eher zu magischen Vorstellungen und sind psychopathologisch eher vom schizoiden Typ. Die Definition von Thalbourne halte ich für eher schwach, aber interessant daran aus experimentalpsychologischer Sicht ist das Konzept der Schwellenüberschreitung, insbesondere, weil Thalbourne berichtet, dass stark transliminale Personen (a) niedrigere Wahrnehmungsschwellen haben und (b) eher Gebrauch von unterschwelligen Reizen machen. Ich werde darauf am Ende des Beitrags zurückkommen, doch zuvor möchte ich Ihnen etwas über das Bestimmen von Wahrnehmungsschwellen und über unterschwellige Wahrnehmung referieren.
Messungen der Wahrnehmungsschwelle
Ist es denn nicht ganz einfach, eine Schwelle eindeutig zu messen? Leider nein. Die Höhe einer Wahrnehmungsschwelle hängt von der Definition und von der Art der Messung ab. Von den vielen Methoden möchte ich zwei sehr unterschiedliche vorstellen, die zu systematisch unterschiedlichen Ergebnissen führen. Die eine Methode definiert die Schwelle über die subjektive Wahrnehmung, die andere über das Verhalten. Beide werden in Tabelle 1 vorgestellt.
Über die (subjektive) Wahrnehmung | Über das Verhalten |
Experiment: Aussage der Versuchsperson | Experiment: Forced Choice (Zwangswahl) |
Immer ein Reiz vorhanden | Manchmal kein Reiz vorhanden |
Höhere Schwelle | Niedrigere Schwelle |
Schwelle unterliegt hoher subjektiver Schwankung | Konstantere Leistung |
Überzufällig gut auch im „Ich-rate -nur“-Zustand |
Tabelle 1: Methoden zur Messung der Wahrnehmungsschwelle im Vergleich
Die (subjektive) Wahrnehmung wird in Experimenten genutzt, bei denen die Versuchsperson sagen soll, ob sie einen Reiz (gerade noch) sieht oder nicht. Experimente, die die Schwelle über das Verhalten messen, nutzen hingegen das Forced-Choice-Design, also eine Zwangswahl, in der sich die Versuchsperson für eine von mehreren Alternativen entscheiden muss (z.B. Reiz anwesend oder nicht bzw. Reiz links oder rechts im Bild), auch wenn sie keinen Reiz wahrnimmt. Während man bei ersterer Methode stets einen Reiz präsentieren muss, ist es bei letzterer möglich, auch einmal keinen Reiz zu präsentieren. Meist findet man beim Verhalten eine niedrigere Schwelle als bei der Wahrnehmung und die Schwelle ist relativ konstant, während sie bei der subjektiven Wahrnehmung recht stark variieren kann. In den Forced-Choice-Experimenten können Versuchspersonen daher selbst dann gut abschneiden, wenn sie subjektiv meinen, „ich rate doch bloß“. Bei der Schwellenmessung über die subjektive Wahrnehmung ist immer ein Reiz vorhanden und die Probanden dürfen sagen, ob sie ihn sehen oder nicht. Die Höhe der Schwelle kann man beispielsweise durch die Reizstärke definieren, bei der sie in 50% der Fälle angeben, dass sie den Reiz sehen. Bei einer Schwellenmessung über das Verhalten ist nicht immer ein Reiz vorhanden, die Versuchspersonen müssen sich aber entscheiden (Zwangswahl), ob der Reiz links oder rechts ist, auch wenn sie subjektiv überhaupt nichts mehr sehen, sondern nur noch raten. Hier kann man die Schwelle beispielsweise durch die Reizstärke definieren, bei der sie gerade noch besser als zufällig die richtige Seite „raten“. Die Schwellenmessung über die subjektive Wahrnehmung ist variabler und führt zu einer höheren Schwelle. Die mit der anderen Methode gewonnene Schwelle ist niedriger und stabiler. Ganz wichtig ist mir hier, dass unter dieser Bedingung Probanden manchmal besser als per Zufall die richtige Seite finden, obwohl sie subjektiv nur noch raten. Unser Verhalten kann also auch dann noch überzufällig gut sein, wenn wir subjektiv nichts mehr „spüren“. Gibt es also doch so etwas wie unterschwellige bzw. unbewusste Wahrnehmung? Ob die richtige Antwort auf diese Frage Ja oder Nein ist, kann davon abhängen, welche Definition von Schwelle ich gewählt habe.
Unbewusste Wahrnehmung
Es gibt hier verschiedene Ausdrücke, die alle etwas Ähnliches meinen und deren genaue Wortwahl oft schon von theoretischen Vorstellungen beeinflusst ist. „Unterschwellige Wahrnehmung“, „außersinnliche Wahrnehmung“, „aufmerksamkeitsfreie Wahrnehmung“ und „unterbewusste Wahrnehmung“ sind Alternativen für den Ausdruck in der Überschrift dieses Abschnitts. Ich möchte gerne bei dem Ausdruck aus der Überschrift bleiben und meine damit eine Situation, in der ein Reiz handlungslenkend, aber der bewussten Wahrnehmung bzw. Erinnerung unzugänglich ist. Merikle (2000) hat dies etwas breiter so formuliert: „Subliminal perception occurs whenever stimuli presented below the threshold or limen for awareness are found to influence thoughts, feelings, or actions. (Subliminale Wahrnehmung findet immer dann statt, wenn Reize unterhalb der Schwelle (limen) für bewusste Wahrnehmung nachweislich Gedanken, Gefühle oder Handlungen beeinflussen.)“ Welche Hinweise gibt es in der psychologischen Literatur darauf, dass solche Reize wirksam sein können?
Experimentelle Befunde
Priming-Experimente
Ein prime ist ein „Vorreiz“, ein Reiz, der vor dem eigentlichen Reiz, auf den erst geantwortet werden soll, auftritt. Wenn ein Vorreiz einen Effekt auf die eigentliche Antwort hat (kommt schneller, kommt langsamer, wird in eine bestimmte Richtung beeinflusst), spricht man von einem priming-Effekt. Bei handlungsrelevanten Reizen geben Probanden oft schnellere Antworten als bei neutralen. Im Beispiel: Der Hauptreiz könnte ein Signal sein, das links oder rechts vom Fixationspunkt erscheint. Wüsste ich vorher, ob der Hauptreiz, auf den ich reagieren soll, links oder rechts käme, wäre ich schneller. Der prime könnte beispielsweise ein Pfeil sein, der (a) nach links, (b) nach rechts oder (c) in beide Richtungen zeigt. Der Hauptreiz käme in 8 von 10 Fällen auf der Seite, die der Vorreiz angezeigt hat. Dann werden Probanden mit den Vorreizen aus (a) und (b) schneller sein, wenn der Hauptreiz tatsächlich auf der angezeigten Seite erscheint. In der Kontrollbedingung (c) mit dem handlungsirrelevanten Vorreiz entfällt natürlich ein solcher Effekt. Auch bei handlungsrelevanten primes, die so schwach sind, dass sie der bewussten Wahrnehmung nicht zugänglich sind, kann ein priming-Effekt auftreten. Cheesman und Merikle (1984) ist ein guter Artikel, um diesen Typus von Experimenten kennenzulernen.
Wiederholungseffekt
Menschen ziehen bekannte Reize unbekannten vor. Sehr hilfreich ist dieser Effekt beispielsweise im Zusammenleben: Die meisten Menschen findet man im Laufe des näheren Kennenlernens attraktiver, schöner, netter, freundlicher als am Anfang. Das Interessante daran ist, dass dieser Effekt auch dann auftritt, wenn man überhaupt nicht weiß, dass ein Reiz schon mehrfach (eventuell sehr schnell oder sehr schwach) dargeboten worden ist. Zur Untersuchung nimmt man Reize, zu denen wir keine vorherigen positiven oder negativen Gefühle haben. Für mich sind das beispielsweise die beiden Reize aus Abbildung 2.
Abbb. 2: Zur Untersuchung des Wiederholungseffektes verwendet man z. B. zwei Schriftzeichen als Reize, die zunächst nicht mit negativen oder positiven Gefühlen verbunden sind. Wird eines der Zeichen der Versuchsperson wiederholt präsentiert, so bevorzugt sie dieses nach einer Weile.
Ich hoffe, sie bedeuten nichts, was mir peinlich wäre, wenn ich ihre Bedeutung kennen würde. Stellen Sie sich vor, Ihre Aufgabe wäre, zu entscheiden, welches dieser Schriftzeichen Sie schöner finden. Wenn es Ihnen so geht wie mir, fällt Ihnen diese Entscheidung sehr schwer. Wenn aber in einer Bedingung den Probanden das eine der beiden Zeichen vorher schon mehrmals ohne ihr Wissen dargeboten worden ist, so finden viele dieses Zeichen schöner, ohne einen ihnen bewussten Grund angeben zu können.
Inattentional blindness
Aufmerksamkeitslose „Blindheit“ bezeichnet den Befund, dass wir Dinge, auf die wir nicht achten, auch dann nicht wahrnehmen, wenn sie deutlich überschwellig dargeboten werden. Ein Beispiel von mir: Ich wollte einmal mit meiner Tochter schwimmen gehen, während meine Frau verabredungsgemäß zu Hause blieb. Ich ging also die Treppe hoch, um Sophies Badesachen zu packen. Ich musste dazu am Ende der Treppe über etwas steigen, das dort im Weg herumlag. Als ich die Badesachen meiner Tochter nicht sofort genau da fand, wo sie meiner Meinung nach zu sein hatten, ging ich dieses Problem auf die typisch männliche Art an. Ich rief nach unten „Wo sind denn Sophies Badesachen?“ und bekam als Antwort: „Die hab ich schon rausgestellt, Du musst eigentlich drüber gefallen sein.“ Ich war natürlich nicht darüber gefallen, weil ich, trotz mangelnder Aufmerksamkeit beim Gehen, sorgfältig über die Tasche mit den Badesachen gestiegen bin. Dass ich über das „Hindernis“ gestolpert wäre, ist ebenso unwahrscheinlich wie dass ich es als Badetasche erkannt hätte. In einem auf den ersten Blick kaum glaubhaften Experimentalbericht haben Simons und Chabris (1999) ihren Probanden einen gut eine Minute dauernden Film eines Basketballspiels gezeigt. Die Aufgabe der Versuchspersonen war, der einen der beiden Mannschaften (weiß oder schwarz) genau zuzuschauen und die Ballwechsel mitzuzählen. Es gazb noch andere Bedingungen, auf die ich hier nicht eingehen möchte. Nach dem Anschauen des Films wurden die Probanden gefragt, wie viele Ballwechsel sie gezählt hatten. Das war eine lösbare Aufgabe, für die sich die Forscher nicht die Bohne interessierten. Viel mehr interessierte sie die Antwort der Probanden auf die anschließende Frage, ob ihnen sonst noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Verblüffend viele antworteten hier mit „Nein“. Das ist deshalb verblüffend, weil ihnen hätte auffallen können, dass nach ca. 45 Sekunden eine Frau in einem Gorillakostüm auf dem Spielfeld erschien, den Spielern einige Sekunden zuschaute, sich dann in Gorillaart auf die Brust klopfte und wieder verschwand. Ich kenne den Film, weiß wann der Gorilla kommt, wenn ich mich aber auf die Aufgabe mitzuzkonzentriere, gehöre ich zu den ca. 50%, denen absolut nichts auffällt.
Ein bekannter Film zur Demonstration der aufmerksamkeitslosen Blindheit: Werden Versuchspersonen gebeten, die Anzahl der Ballwechsel zu zählen, so bemerken sie nicht, dass deutlich sichtbar eine Person im Gorillakostüm mitten durch die Szene läuft. Das Video ist online zugänglich.
Implizites Lernen
Explizites Lernen ist Ihnen gut vertraut, auch wenn es nicht immer beliebt ist. Jeder Mensch kann für die Schule oder auch fürs Leben einen Liedtext auswendig lernen oder alle Hauptstädte Europas. Implizites Lernen ist nicht geplantes Lernen, das sozusagen nebenbei abläuft. Die Namen Ihrer Klassenkameraden hat Sie in der Schule niemals jemand abgefragt und doch kannten Sie sie besser als die abgefragten Lateinvokabeln. Hier könnte man wenigstens noch sagen, dass Sie zwar nicht bewusst auswendig gelernt haben, aber doch einige Anreize hatten, die Namen recht bald zu können („He, Du da“ kommt bei den wenigsten gut an). Psychologen untersuchen gerne noch besser verstecktes implizites Lernen. Stellen Sie sich vor, Sie erhielten eine lange Liste von Ziffern und müssten „raten“, welche als jeweils nächste kommt. Die Liste sieht auf den ersten und den zweiten Blick völlig unregelmäßig aus und dementsprechend sind Ihre anfänglichen Leistungen ganz viele falsche Vorhersagen, unterbrochen von seltenen Glückstreffern. In solche Listen verstecken Psychologen gerne unauffällige Regeln, die vielleicht noch nicht einmal immer gelten. So könnte in 80% der Fälle auf eine 5 eine 8 folgen. Es kann unter diesen Umständen sein, dass Sie nach einiger Zeit diese Regel gelernt haben und sich danach verhalten, ohne dass das Ihnen überhaupt bewusst ist. Sie würden der Versuchsleiterin auf deren offene Frage sagen, dass Sie immer noch genauso „dumm rumraten“ wie am Anfang, aber diese würde bei einem Blick in die Auswertung merken, dass Sie ab circa 1000 Durchgängen nach einer 5 ein wenig häufiger eine 8 vorhersagen (und damit auch in 8 von 10 Fällen richtig liegen) als vorher. Ihr Verhalten hat sich also schon der Regelmäßigkeit angepasst, aber Sie selbst haben noch keine Ahnung davon, dass das so ist.
Carpenter-Effekt
Der alte deutsche Name für diesen Effekt war „Ausdrucksbewegungen“, der etwas neuere war „ideomotorische Bewegung“, eine überflüssige Rückübersetzung für die englische Übersetzung des alten deutschen Ausdrucks. Wenn Sie sich eine Bewegung vorstellen, dann machen Sie oft kleine, Ihnen kaum bewusste reale Bewegungen. Den Trainern von Hochspringern sieht man manchmal mit der Kamera bei einem Sprung Ihres Schützlings zu. Achten Sie dann mal auf die kleine Mitbewegung parallel zum realen Sprung, mit der der Trainer gedanklich „mitspringt“. Der kluge Hans (Pfungst 1907/1983) war ein Pferd, das schwere Rechenaufgaben „lösen“ konnte und die Antwort mit dem Huf stampfte. Die Anzahl der Huftritte war die fast immer richtige Antwort. Erst nach genauer Beobachtung und Tests konnte Pfungst feststellen, dass das wirklich kluge (wenn auch in anderem Sinne) Pferd aufhörte, mit dem Huf zu klopfen, wenn sein Besitzer unbewusst kurz vor der richtigen Anzahl der Hufschläge die Körperspannung änderte und ganz leicht seinen Kopf bewegte. Ein ganz einfaches modernes Experiment (Gordon, Rosenbaum 1984) sah so aus: Es gab drei Versuchsbedingungen, bei denen jeweils die Bewegungsgeschwindigkeit des rechten Arms gemessen wurde.
- Bedingung 1: „Bewegen Sie Ihren Arm so langsam wie möglich nach rechts!“
- Bedingung 2: „Halten Sie Ihren Arm ruhig!“
- Bedingung 3: „Halten Sie Ihren Arm ruhig, aber stellen Sie sich vor, eine Kraft würde von links gegen Ihren Arm drücken!“
Das Ergebnis war, dass die Probanden in Bedingung 3 eine langsamere Bewegung nach rechts machten als in Bedingung 1. Menschen können also Bewegungen machen, die real, aber so gering sind, dass sie sie selbst nicht wahrnehmen. Wünschelrutengehen, Tischrücken, Ouija-Brett kann man sich auf diese Weise erklären.
Blindsight
Im Striatum (einer wichtigen Schaltstelle im Großhirn) geschädigte hirnverletzte Menschen können auf Reize reagieren, die sie nicht sehen können (Cowey, Stoerig 1991). Auch dies ist wieder ein Hinweis darauf, dass handlungsrelevante Reize uns nicht immer bewusst sein müssen. Der neuronale „Pfad“ zum Bewusstsein nimmt nicht denselben Verlauf wie der zum Handeln.
Subliminales Kartenraten
Diesen Versuch möchte ich Ihnen genauer schildern, weil er den Bezug zwischen der Grundlagenforschung und der Parapsychologie herstellt. Crawley et al. (2002) hatten für ihre Versuchspersonen eine in der Parapsychologie übliche Kartenrateaufgabe programmiert. Die Rückseiten der Karten waren ununterscheidbar und die Vorderseiten zeigten eines von fünf in der Parapsychologie oft benutzen Symbolen (Kreis, Wellenlinie, Stern Kreuz, Quadrat, Abb. 3).
Abb. 3: Die so genannten Zener-Karten, ein Satz Karten mit fünf einfachen Symbolen, die insbesondere für parapsychologische Experimente häufig verwendet werden.
Diese Vorderseite war zu erraten. In einem von fünf Fällen (20%) gelingt einem das auch ohne jegliche paranormale Fähigkeiten. In einem Teil der Versuche wurde, ohne dass die Versuchspersonen dies mitbekamen, ganz kurzzeitig die (richtige) Vorderseite eingeblendet. Das geschah so kurz, dass niemand diese Vorderseite bewusst wahrnehmen konnte. Die meisten haben noch nicht einmal gemerkt, dass sich etwas verändert hat. Die interessante Frage war nun: Konnten die Versuchspersonen von dieser ihnen nicht bewussten Information leistungssteigernd Gebrauch machen? Und falls ja, galt das für alle von ihnen oder gibt es „empfindlichere“ und welche sind das? Um dies herauszufinden, wurde in einem Fragebogen das Ausmaß der Transliminalität (Thalbourne 2001) der Versuchspersonen gemessen. Wir erinnern uns, dass Schafe (an parapsychologische Fähigkeiten Glaubende) transliminaler sind als Ziegen (nicht Glaubende). Das verblüffende und wunderschöne Ergebnis war, dass in der Bedingung, in der kurz die zu ratende Vorderseite eingeblendet wurde, „Schafe“ eher davon Gebrauch machen konnten als „Ziegen“. Die „Schafe“ waren also im Schnitt besser als die „Ziegen“ und zwar umso besser, je höher ihre Transliminalität war (positive Korrelation zwischen Ausmaß an Transliminalität und Zahl der richtigen Vorhersagen). Das Ergebnis in der Kontrollbedingung (keine kurze Einblendung der Vorderseite) fiel erwartungsgemäß aus. Beide Gruppen waren gleich schlecht, rieten auf Zufallsniveau und es gab keine signifikante Korrelation zwischen Leistung und Ausmaß an Transliminalität. Beide Gruppen konnten also ohne Zusatzinformation ihre Trefferquote nicht über das Zufallsniveau heben. Abe mit einer nicht bewusst wahrnehmbaren korrekten Zusatzinformation konnte ein Teil der Versuchspersonen mehr Treffer landen als per Zufall zu erwarten war Das waren ausgerechnet diejenigen, die mehr transliminal waren, also auch ehe an Paranormales glaubten.
Vorahnungen lassen sich auf schwache Reize zurückführen, die nicht bewusst wahrgenommen werden. Wer sie nutzen kann, liegt in vielen Situationen mit seinem Bauchgefühl richtig – weiß aber nicht warum.
Quelle: © Yvonne Prancl – Fotolia.com
Modellvorstellungen
Wenn man annimmt, dass es
- eine autonome und eine aufmerksamkeitsgesteuerte (bewusste) Verarbeitung mit verschiedenen neuronalen Pfaden gibt,
- die Schwelle für die bewusste Verarbeitung höher liegt (nicht so schnell überschritten wird) als die für die autonome Verarbeitung,
- die autonome Verarbeitung auch dann schon handlungslenkend wirken kann, wenn die aufmerksamkeitsgesteuerte Verarbeitung nicht angesprochen wird und
- die Differenz zwischen beiden Schwellen von Person zu Person unterschiedlich groß ist,
dann kann man sich das Ergebnis des zuletzt geschilderten Experimentes einfach erklären. Die autonome Verarbeitung ist schnell, oft unbewusst, wird üblicherweise nicht ins Langzeitgedächtnis aufgenommen und den meisten Menschen ist die Quelle dieser Verarbeitung (durch welches Sinnessystem sie „angeworfen“ wurde) nicht bekannt. Auf diese Weise gewonnene Informationen sind oft schwer in Worte zu fassen („ich habe da so ein Gefühl“). Die bewusste Verarbeitung gelangt ins Langzeitgedächtnis, ist verbalisierbar und man kennt auch die Quelle („ich habe da etwas gehört“). Transliminale (Schafe) haben einen besseren Zugriff als Ziegen auf das autonome System ohne Quelleninformation, das schwer zu verbalisieren ist, („Gefühl“). Wenn sie sich auf ihr „Gefühl“ verlassen, liegen sie häufiger richtig als per Zufall zu erwarten ist. Sie wissen aber nicht warum. Diese Erklärung lässt sich aber noch leicht über das spezielle Experiment hinaus generalisieren.
Erklärungsbreite
Schafe machen solche Erfahrungen nicht nur im Labor, sondern auch im Leben. Sie haben oft ein unbestimmtes „Gefühl“ und die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, diesem Gefühl zu vertrauen. Dass sie unter solchen Umständen dazu neigen, übersinnliche Fähigkeiten als die Quelle dieses Gefühls zu betrachten, weil ihnen die ganz normale sensorische Quelle des Gefühls (ein kaum hörbares Knacken, ein Hauch von Luftzug, eine geringe Wärmestrahlung auf der Wange, eine fast unsichtbare Bewegung) wegen der Schwäche des sensorischen Eindrucks verborgen bleibt, ist kein Wunder. Aus der Sicht des Forschers ist die normale Erklärung einfach: Ein ganz schwacher Sinneseindruck auf einem ganz natürlichen Kanal ist stark genug, handlungsrelevant zu werden (man dreht sich um, man tritt zur Seite, man scheut zurück), aber zu schwach, um ins Bewusstsein zu kommen. Die Personen, die solche Erfahrungen machen, schreiben eine ihnen nicht bewusste Wahrnehmung fälschlicherweise einer übernatürlichen Quelle zu. Personen, die solche Erfahrungen nicht machen (Ziegen), sehen keinen Sinn in übernatürlichen Erklärungen, da die Erfahrung ihres eigenen Lebens (unbestimmte Gefühle sind ihnen unbekannt oder sind unbrauchbar, weil man sich auf sie nie verlassen kann) solche Erklärungen nicht nahe legt. Aber auch in dieser Erklärung bleibt die Reaktion der Schafe aus deren Perspektive nachvollziehbar. Sie haben die Erfahrung, dass sie manchmal ohne bewussten Sinneseindruck ein „Gefühl“ haben, das sich häufig als richtig herausstellt. Wenn Ihnen persönlich das oft passiert, dann wird es Ihnen nicht einfach fallen, Ziege zu bleiben, weil ihnen das Wissen für eine „ziegenhafte“ Erklärung fehlt. Und die Ziegen sollen sich bloß nicht überlegen fühlen. Sie haben zwar die richtige Erklärung (ohne die normalen Sinnesorgane gibt es keine Information), aber das manchmal hilfreiche „Gefühl“ für beispielsweise eine Gefahr fehlt ihnen. Damit bin ich fast am Ende angelangt. Mit diesen Vorstellungen über die Unterschiede zwischen den Schafen und Ziegen kann man gut erklären, woher eigentlich deren unterschiedliche Weltsicht kommt, nämlich aus unterschiedlichen Erfahrungen mit unbestimmten „Gefühlen“. Die Schafe haben Recht, wenn sie sich danach richten, aber wenn es um die Erklärung geht, sollten sie auf die Ziegen hören. Dieses Modell erklärt auch ganz gut einige empirische Daten, womit ich wieder am Beginn, dem Sheep-Goat-Effekt bin und womit ich auch schließen will:
- Der Sheep-Goat-Effekt: „Gläubige“ schneiden in manchen parapsychologischen Experimenten besser aber als „Ungläubige“. Erklärung: In Experimenten mit ganz kleinen Fehlern (doch kaum merkliche Unterschiede in den Bedingungen) können Schafe davon profitieren, Ziegen aber nicht. Diese Erklärung funktioniert nur, wenn man kleine Fehler in der Durchführung von Experimenten vermutet.
- Der „sechste“ Sinn. Das ist einfach jeder der anderen, wenn die Reizung so schwach ist, dass sie zwar handlungslenkend wird, aber nicht das Bewusstsein erreicht.
- „Unterschwellige“ Einflüsse. Das sind Einflüsse über der Schwelle, die Handlungen auslöst, aber unter der Schwelle, die das Bewusstsein anspricht.
- Gedankenlesen. Sie interpretieren Ihnen nicht bewusste, ganz schwache Signale des Gegenübers korrekt.
- Extrasensorische Wahrnehmung bei Tieren (der Hund, der an die Türe läuft, obwohl noch nichts zu hören ist).
Wenn Sie noch nichts hören, dann heißt das noch lange nicht, dass auch Ihr Hund noch nichts gehört haben kann. Auch in anderen Sinnesorganen sind uns manche Tiere überlegen. Es gibt sogar Tiere, die Sinnesorgane (z.B. für Wärmestrahlung) haben, die uns völlig fehlen. Ein Tier, das aus Ihrer Sicht eine unfassbare „Ahnung“ hat, reagiert vielleicht nur auf eine schwache Sinnesreizung, die Ihnen notwendigerweise entgehen muss. Ich bin eine Ziege und was immer Sie sind, zum Schluss will ich Sie noch „beleidigen“. Wenn Sie wie ich eine Ziege sind, dann mögen Sie ja die richtige Meinung haben, aber Ihr Wahrnehmungsapparat ist Schrott. Wenn Sie ein Schaf sind, dann mögen sie ja einen prima Wahrnehmungsapparat haben, aber die Erklärung, die Sie sich dafür zurechtgebastelt haben, die ist Schrott. Sie meinen, das hätte ich auch noch netter sagen können? Stimmt, hätte ich.
Ich danke Stephan Matthiesen für Verbesserungsvorschläge und Übersetzungen von Zitaten ins Deutsche.
Wolfgang Hell ist Professor für Angewandte Psychologie an der Universität Münster und Mitglied im Wissenschaftsrat der GWUP. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Literatur
- Cheesman, J.; Merikle, P. M. (1984): Priming with and without awareness. Perception and Psychophysics, 36, 387-395.
- Cowey, A.; Stoerig, P. (1991): The neurobiology of blindsight. Trends in Neuroscience, 14, 140-145.
- Crawley, S.E.; French, C.C.; Yesson, S.A. (2002): Evidence for transliminality from a subliminal card-guessing task, Perception, 31, 887-892.
- Gordon, A. M.; Rosenbau, D. A. (1984): Conscious and subconscious arm movements: Application of signal detection theory to motor control. Bulletin of the Psychonomic Society 22, 214-216.
- Merikle, P. M. (2000): Subliminal Perception. In: Encyclopedia of Psychology, Oxford University Press, New York, Band 7, 497-499.
- Pfungst, O. (1983): Der Kluge Hans: Ein Beitrag zur nichtverbalen Kommunikation. Frankfurter Fachbuchhandlung für Psychologie, Frankfurt am Main, (Neuauflage des Originals von 1907).
- Schmeidler, G. (1945): Separating the sheep from the goats. Journal of the American Society for Psychical Research, 39, 46-49.
- Schmeidler, G. (1959): Additional data on sheep-goat classification. Journal of the Society for Psychical Research, 40, 63-72.
- Simons, D.J.; Chabris, C.F. (1999): Gorillas in our midst: Sustained inattentional blindness for dynamic events. Perception, 28, 1059-1074.
- Thalbourne, M. A. (2000): Transliminality: A review. International Journal of Parapsychology, 11, 1-34.
- Thalbourne, M. A. (2001): Measures of the sheep-goat variable, transliminality, and their correlates. Psychological Reports, 88, 339-350.
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 2/2010.