Günter Molz
Eines vorweg: Die Analyse des „Cold Reading" durch R. Hyman (1977) ist immer noch aktuell. Selbstverständlich sind zwischenzeitlich weitere Veröffentlichungen zu diesem und verwandten Themen erschienen. Deshalb würde Hyman heute sehr wahrscheinlich andere Autoren erwähnen als vor dreißig Jahren; auch könnte er mehr über die kognitionspsychologischen Grundlagen schreiben. Aber keine der von Hyman gemachten Ausführungen hat sich bisher als empirisch nicht haltbar erwiesen.
In einer Hinsicht ist er sogar vielen Beiträgen skeptischer Provenienz auch heute noch überlegen: Er versucht nicht primär, die mangelnde Zuverlässigkeit einer Praktik herauszustreichen, indem er Fälle anführt, in denen sie sich als nicht zielführend erwiesen hat. Vielmehr analysiert Hyman, warum Menschen den Anwendern des „Cold Reading" so viel Vertrauen entgegenbringen. Diese Analyse betrifft die „Psycho-Logik", die bei der Anwendung des Verfahrens greift. Seine Herangehensweise ist deshalb so verdienstvoll, weil Mechanismen analysiert werden, die bei vielen Phänomenen aus dem parapsychologischen Bereich relevant werden: Astrologie, Geistheilung, Hellsehen, Kaffeesatzlesen, Kartenlegen, Numerologie, schamanische Lebensberatung, Traumarbeit etc. So kann man das Vertrauen erklären, das solchen Techniken entgegengebracht wird. Das Aufdecken dieser Mechanismen ist für die Aufklärung meines Erachtens ökonomischer und deutlich erfolgversprechender als das Aufführen von Beispielen, bei denen das jeweilige Verfahren gescheitert ist. Diese Ansicht vertritt auch Hyman explizit: „Die (...) Auseinandersetzung über den wissenschaftlichen Status der Astrologie geht vermutlich völlig an der Frage vorbei, warum Leute an sie glauben. Fast allen Astrologieanhängern (...) sind Argumente für oder gegen die astrologische Theorie völlig egal. Sie sind überzeugt vom Wert der Astrologie, weil sie ‚funktioniert'. (...) Astrologie gibt ihnen Rückmeldungen, die sich ‚richtig anfühlen' und sie davon überzeugen, dass man auf der Basis von Horoskopen sich selbst besser verstehen (...) könne." (S. 4-5)
Zentral ist die Erkenntnis, dass Personen, die bei der Bewältigung persönlicher Probleme helfen wollen, die Neigung der Menschen nutzen, in vielen Situationen und Handlungen einen Sinn zu erkennen. Fairerweise muss man sagen, dass für die Durchsetzung dieser Erkenntnis in der akademischen Psychologie der von Hyman selbst zitierte, eigene Aufsatz aus dem Jahr 1955 bedeutungslos war. Dieser Gedanke wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Arbeiten der Psychologen Fritz Heider und George A. Kelly verbreitet. Auf der Suche nach Sinn begehen Menschen Fehler beim Denken, Urteilen und Erinnern. Viele dieser Fehler sind systematisch. Die bewusste oder unbewusste Nutzung dieser Systematik ist Hauptursache für die (Pseudo-)Effizienz oder das „Funktionieren" dubioser Beratungspraktiken und somit für das Vertrauen, das den entsprechenden Anbietern entgegengebracht wird. Die von Hyman erwähnten Arbeiten von Asch, Forer, Snyder, Sundberg und anderen Autoren zeigen, dass Beschreibungen, die für sehr viele Personen gelten, fälschlicherweise als für die eigene Person zutreffend angesehen werden. Paul E. Meehl (1956) hat diese Beobachtung als Barnum-Effekt bezeichnet. Dieser Effekt tritt auf, weil Personen bei der Prüfung, ob Personenbeschreibungen auf sie zutreffen, eher zu bestätigen („Ja, die Beschreibung trifft auf mich zu, weil ...") als zu falsifizieren versuchen („Nein, dieses Beschreibung trifft nicht auf mich zu, weil ..."). Die Bevorzugung dieser bestätigenden, positiven Teststrategie ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger systematischer Fehler. Snyder und Swann (1978) veröffentlichten das in diesem Kontext am häufigsten zitierte Experiment. Die Versuchspersonen hatten die Aufgabe, ein Interview mit einer Person vorzubereiten, um deren Persönlichkeit zu testen. Der Hälfte der Versuchspersonen wurde mitgeteilt, diese Person sei vermutlich extravertiert, der anderen Hälfte, sie sei vermutlich introvertiert. Für das Interview gab der Versuchsleiter 36 Fragen vor, aus denen zwölf ausgewählt werden mussten. Es zeigte sich, dass die Versuchspersonen, die sich auf die Befragung einer vermutlich extravertierten Person vorbereiteten, relativ häufig Fragen stellten, die man sinnvollerweise nur Extravertierten stellen kann (z. B. „Was würdest du tun, um eine Party zu beleben?"). Entsprechend wurden unter der anderen Versuchsbedingung häufiger Fragen gewählt, die nur auf Introvertierte zutreffen (z. B. „Was macht es für dich schwierig, einer anderen Person gegenüber offen zu sein?").
Die einseitige Auswahl von Fragen ist Folge einer vorgefassten Meinung. Wären die Interviews tatsächlich durchgeführt worden, hätten sie in vielen Fällen zu einer ungerechtfertigten Bestätigung der nicht zutreffenden Vermutung geführt. Wenn zum Beispiel einer eher introvertierten Person die Frage nach der Party gestellt worden wäre, hätte sie diese wahrscheinlich beantwortet, ohne die Sinnhaftigkeit der Frage bezüglich der eigenen Person in Zweifel zu ziehen. Genau dies wird bei Techniken wie dem Cold Reading ausgenutzt: Von der Rat gebenden Person wird eine Feststellung getroffen, die die Rat suchende Person für sich eher zu bestätigen als zu falsifizieren sucht. Zusätzlich handelt es sich meist um positive Feststellungen. Dieses betrifft einen zweiten systematischen Fehler: Man hält eher nicht zutreffende positive Beschreibungen der eigenen Person für passend als nicht zutreffende negative Beschreibungen. Deshalb wird bei einschlägigen Beratungsangeboten oft das unterstellt, was man gerne hören möchte (siehe Regel Nr. 13 nach Hyman).
Achten Sie auf die Nutzung beider systematischer Fehler (Bestätigung statt Falsifikation, Bevorzugung positiver Information), wenn Sie das nächste Mal einer Lebensberatung im Fernsehen zuschauen!
Cold Reading und andere dubiose Beratungstechniken funktionieren vor allem deshalb, weil die Rat suchenden Personen sich an suggestiven Richtungszuweisungen der Rat gebenden Personen orientieren. Diese Orientierung kann sich nicht „nur" auf Urteilsund Denkprozesse auswirken, sondern auch auf Erinnerungen. Erinnern ist ein Rekonstruktionsprozess, der unter anderem durch die Art der Fragen an zurückliegende Ereignisse manipulierbar ist. Hierzu wurde ebenfalls seit Mitte der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts verstärkt geforscht. So konnte Loftus (1975) durch eine einfache Technik eine Erinnerung experimentell manipulieren: Versuchspersonen schätzten die Geschwindigkeit zweier Unfallwagen aus einem Film um ein Viertel höher, wenn gefragt wurde, wie schnell die Autos fuhren, als sie zusammenkrachten, als wenn sie sich in der Fragestellung lediglich berührten. Erinnerungen können auf diese Art nicht nur verzerrt werden: Durch geschicktes Fragen kann man sich sogar an etwas „erinnern", also etwas (re)konstruieren, das es nie gegeben hat. In einem anderen Experiment erinnerte sich ein Fünftel der Testpersonen an eine im Film nicht vorhandene Scheune, nur weil Loftus fragte: „Wie schnell fuhr das Auto, als es an der Scheune vorbeikam?" Ein Forschungsansatz, der Hyman beim Verfassen seines Aufsatzes noch nicht bekannt sein konnte, betrifft die Fähigkeit von Personen – keinesfalls nur von Cold Readern –, aufgrund der Analyse weniger Merkmale (z. B. der Körperhaltung) auf andere komplexe Sachverhalte zu schließen. Bekannt waren damals lediglich einige Arbeiten in der Folge eines bahnbrechenden Beitrages von Meehl (1954), in denen die Effizienz der klinischen im Gegensatz zur statistischen Urteilsbildung untersucht wurde. Bei der statistischen Urteilsbildung erfolgt der Schluss auf z. B. bestimmte Persönlichkeitsmerkmale nach expliziten Entscheidungsprozessen, die aufgrund vorhergehender statistischer Analysen formuliert wurden. Bei der klinischen Urteilsbildung setzt hingegen eine Person ihre Expertise intuitiv ein, um zu entsprechenden Schlüssen zu kommen. In den Untersuchungen Meehls stellte sich heraus, dass die klinische Urteilsbildung weniger valide ist als die statistische Urteilsbildung. Schon damals wurde zugestanden, dass in bestimmten Situationen die klinische Urteilsbildung statistischen Verfahren überlegen sein könnte. Dieser Position schloss sich auch Meehl (1957) an, wenn auch seiner Ansicht nach diese Situationen seltene Ausnahmen sein sollten. Andere Beiträge, die in dieser Hinsicht weniger konservative Positionen besetzten, waren vielfach eher spekulativer Natur; in einigen Fällen wurde gar – fern jeder Empirie – rein programmatisch argumentiert (Stichworte: Verstehende oder Emanzipatorische Psychologie). Inzwischen ist es jedoch gelungen, intuitive Prozesse formal zu modellieren, sie also als statistische Entscheidungsregel darzustellen. In diesem Zusammenhang sind vor allem Arbeiten aus dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin zu nennen (Gigerenzer, Todd, ABC Research Group 1999; Gigerenzer, Selten 2001). Die Autoren konnten zeigen, dass solche einfachen Heuristiken in vielen Situationen (beispielsweise bei der Bewertung von Personen in Bewerbungssituationen) zu besseren Urteilen führen als die Anwendung komplexer statistischer Standardverfahren. Auf diese und ähnliche Forschungsbeiträge könnte sich Hyman heute berufen, um die Wichtigkeit seiner siebten Regel zu belegen: In vielen Fällen kann zumindest die Augenscheinvalidität einer Analyse aufgrund von Kleidung, Schmuck u. ä. höher sein als die Analyse aufgrund von wissenschaftlich fundierten Persönlichkeitstests. Und es gilt immer noch, was Hyman damals schrieb: Diese Tests sind im Vergleich zu Leistungs- und Fähigkeitstests psychometrisch, d. h. die Theorie und Methoden der psychologischen Messung betreffend, relativ unbefriedigend.
Hymans Beitrag wurde in einer Zeit veröffentlicht, in der auch andere Autoren verstärkt über systematische Fehler beim Urteilen, Denken und Erinnern forschten. Diese Arbeiten trugen dazu bei, dass solche kognitiven Täuschungen sich in den darauf folgenden zwei Jahrzehnten zu einem der am intensivsten untersuchten Forschungsgebiete in der Psychologie entwickelten. In jüngerer Zeit sind zwar andere Forschungsthemen deutlicher en vogue, aber das Gebiet ist immer noch sehr prominent. Lesern, die an einer integrativen Gesamtdarstellung dieses umfangreichen und immer unübersichtlicher gewordenen Themengebiets interessiert sind, sei ein sehr gelungenes Buch von Pohl (2004) empfohlen. In diesem finden sich auch instruktionelle Hinweise, wie man beispielsweise in Jugendgruppen, Schulklassen, Universitätsseminaren oder VHS-Kursen einige dieser kognitiven Täuschungen in Gruppenexperimenten demonstrieren kann. Ein nicht mehr ganz aktuelles, aber hervorragendes deutsches Buch wurde von Hell, Fiedler und Gigerenzer (1993) herausgegeben. Leser, die weniger an einer analytischen Darstellung und Wiedergabe des Forschungsstandes als an einer anschaulichen Einführung in die für kognitive Täuschungen relevanten Mechanismen (insbesondere im Bereich Denken) interessiert sind, seien auf die recht kompakten und sehr gut lesbaren Bücher von Bördlein (2002), Dubben und Beck-Bornholdt (2005) sowie Gigerenzer (2004) verwiesen – und nicht zuletzt auf die Bücher von Walter Krämer (z.B. 1998), die als erste im deutschsprachigen Raum eine interessierte Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert haben. Recht knapp geht Vyse (1999) auf kognitive Täuschungen ein. Dieses Buch ist aber möglicherweise für Skeptiker-Leser interessant, weil es dem durch den Titel vorgegebenen roten Faden „Aberglauben" folgt und somit – im Gegensatz zu den meisten anderen genannten Büchern – immer wieder explizit skeptische Themen behandelt. Dies gilt ebenso für das Buch von Hergovich (2005).
Dr. Günter Molz, geb. 1965, 1987-1993 Studium der Psychologie in Berlin und Amsterdam. 2000 Dissertation zum Thema „Subjektives Hypothesentesten als Entscheiden" bei Prof. Robert König, Justus-Liebig-Universität Gießen. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität München (1994), Justus-Liebig-Universität Gießen (1994 – 2004). Seit 2004 Wissenschaftlicher Angestellter an der Bergischen Universität Wuppertal, Fachgebiete: Psychologische Methodenlehre und Diagnostik, Angewandte Kognitionsforschung, Differenzielle Psychologie. Anschrift: Bergische Universität Wuppertal, Fachbereich G – Bildungswissenschaften, Fachgruppe Psychologie, Gaußstr. 20, 42119 Wuppertal
Literatur
- Bördlein, C. (2002): Das sockenfressende Monster in der Waschmaschine. Eine Einführung ins skeptische Denken. Alibri, Aschaffenburg.
- Dubben, H.-H., Beck-Bornholdt, H.-P. (2005): Mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit. Logisches Denken und Zufall. Rowohlt, Reinbek.
- Gigerenzer, G. (2004): Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin-Verlag, Berlin.
- Gigerenzer, G., Selten, R. (Hrsg., 2001): Bounded rationality: The adaptive toolbox. MIT Press, Cambridge, MA.
- Gigerenzer, G., P., Todd, M.; ABC Research Group (1999): Simple heuristics that make us smart. Oxford University Press, Oxford.
- Heider, F. (2005): Ding und Medium. Kadmos, Berlin (Reprint).
- Hell, W., Fiedler, K., Gigerenzer, G. (Hrsg., 1993): Kognitive Täuschungen. Fehl-Leistungen und Mechanismen des Urteilens, Denkens und Erinnerns. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg.
- Hergovich, A. (2005): Der Glaube an Psi. Huber, Bern. Hyman, R. (1977): 'Cold Reading': How to convince Strangers that you know all about them. The Zetetic 1(2), 18-73.
- Kelly, G. A. (1991): The psychology of personal constructs. Vol. I, II. Routledge, London, New York (Reprint).
- Krämer, W. (1998): Denkste! Trugschlüsse aus der Welt der Zahlen und des Zufalls. Piper, München. Loftus, E. (1975): Leading questions and the eyewitness report. Cognitive Psychology 7, 560–572.
- Meehl, P. E. (1954): Clinical versus statistical prediction: A theoretical analysis and a review of the evidence. University Press, Minneapolis.
- Meehl, P. E. (1956): Wanted – a good cookbook. American Psychologist 11, 262–272. Meehl, P. E. (1957): When shall we use our heads instead of the formula? Journal of Counseling Psychology 4, 268–273.
- Pohl, R. (Hrsg., 2004): Cognitive Illusions. A Handbook on fallacies and biases in thinking, judgment and memory. Psychology, Hove. Snyder, M., Swann, W. B. Jr. (1978): Hypothesistesting processes in social interaction. Journal of Personality and Social Psychology 36, 1202–1212.
- Vyse, S. A. (1999): Die Psychologie des Aberglaubens. Schwarze Kater und Maskottchen. Birkhäuser, Basel.