Das Böse im Spiegel
Bernd Harder
„Wenn Du vor einem Spiegel stehst, dann sag 40-mal Bloody Mary oder 20-mal blutige Maria, dann siehst Du eine Art Zombie, aber doch ist es keiner. Es ist unfassbar ... Eine Art verschimmelte Leiche geht auf Dich zu, kommt immer näher und näher. Zuerst hebt sie die Hand und legt sie Dir auf die Schultern. Aber dann wird der Druck immer fester, immer fester. Plötzlich, wenn Du zwinkerst, siehst Du die verschimmelte Leiche vor Deinen Augen davonschweben. Wer weiß, was verbirgt sich hinter Deinem Spiegel? Probier es einfach mal aus!" Dieses Internet-Grusical von der Seite www.unterhaltungsspiele.com ist eine der zahllosen Varianten eines neuen Geisterglaubens. Immer mehr Eltern, Lehrer oder Okkultismusbeauftragte werden von Schülern mit Fragen zu einer schaurigen Gespensterbeschwörung konfrontiert, die sogar Gläserrücken und Pendeln den Rang abzulaufen scheint. Mal heißt die Prozedur „Spiegelritual" oder es ist von „Maria im Spiegel" oder von „Bloody Mary" die Rede. Gemeinsam ist allen Erzählungen, dass man sich in völliger Dunkelheit um Mitternacht mit einer brennenden Kerze vor einen Spiegel stellen muss. Über das, was dann geschieht, kursieren unterschiedliche Ansichten: Im „Forum" der grenzwissenschaftlichen Webseite www.einsamer-schuetze.com liest man: „Es gibt auch diese Zeremonie, wo man sich im Dunklen, mit einer Kerze in der Hand, vor einen Spiegel stellen muss und dreimal ,heilige blutige Maria‘ sagt, dann würde sie im Spiegel erscheinen und eine Hand herauskommen, die einen würgen soll."
Bei www.hexenboard.de wird das Ganze hingegen so beschrieben: „Dein Zimmer muss dunkel sein, bei Tag oder Nacht. Setz dich vor deinen Spiegel, zünde um dich die zwölf Kerzen an und sage konzentriert in den Spiegel: ,Blondi, Blondi, Blondi‘. Es erscheint eine Frau mit einem Messer. Erschrecke nicht, du musst ihr den Namen deines/deiner Ex sagen, und sie wird verschwinden und ihn/sie über die Woche jede Nacht schlaflos legen vor Angst. Sie kommt aber wieder und will einen angemessenen Lohn haben." In der harmlosen Version der Geschichte soll nach einer entsprechenden Anrufung die heilige Jungfrau Maria im Spiegel zu sehen sein. Und genau diese vielen verschiedenen Ausformungen des immer selben Erzählkerns sind es, die das „Spiegel-Ritual" als lupenreine Wandersage entlarven. Die amerikanische Erzählforscherin Janet Langlois konnte schon 1978 mehr als 100 Variationen dieser urbanen Legende identifizieren: Überwiegend wird der Geist „Bloody Mary" genannt, manchmal aber auch „Hell Mary", „Mary Worth", „Mary Lou", „Mary Whales", „Mary Jane" oder „Mary Johnson". Die Anzahl der Kerzen, die notwendig sind, um das Gespenst herbeizuzitieren, variiert ebenso wie die „richtige" Beschwörungsformel, die mal gesungen, mal gesummt und mal geflüstert werden muss. Auch die irdische Identität der Geisterfrau wird von jedem nachbetenden Mund leicht abgewandelt. In der populärsten Version war „Bloody Mary" eine junge Frau, die bei einem Autounfall schwere Gesichtsverletzungen davontrug und schließlich daran starb. Und seither trachtet ihr rachsüchtiger Geist danach, jedem das Gesicht zu zerkratzen, der sie in ihrer düsteren Twilight Zone zwischen Leben und Tod anruft. Andere dagegen erzählen den „Bloody-Mary"-Mythos als die Geschichte einer im Mittelalter verbrannten Hexe - oder es geht um eine Kindermörderin oder schlicht um eine „verrückte Alte", der ein lokaler Hintergrund verpasst wird.
Dass die Erscheinung „Mary" heißt, könnte auf die englische Königin Maria I. aus dem Hause Tudor zurückgehen, die 1553 den Thron bestieg und einige hundert Protestanten als Ketzer verbrennen ließ, was ihr den Beinamen „Bloody Mary" (die blutige Maria) einbrachte. Denkbar ist auch, dass die Urheber der Gruselstory das katholische Mariengebet „Hail Mary" (Gegrüßet seist du, Maria) sprachlich zu „Hell Mary" abwandelten. Wie auch immer: „Bloody Mary" oder „Hell Mary" ist eine in den USA seit Jahrzehnten sehr populäre „Campfire Tale" - eine gruselige Geschichte fürs allabendliche Lagerfeuer im Ferienlager. Sie bedient sich des klassischen Märchenmotivs vom Spiegel als Tor zur Geisterwelt („Spieglein, Spieglein an der Wand ...") ebenso wie der unwiderstehlichen Faszination, die Rituale und Nerven kitzelnde Mutproben auf Adoleszente ausüben. Aber wie gelangte „Bloody Mary" nach Deutschland? Üblicherweise waren es die Massenmedien, die für die Vektorierung (zu Deutsch etwa: verbreitende Wiedergabe) der Wandersage sorgten. 1989 kam „Candyman's Fluch" in die Kinos, der auf der Kurzgeschichte „Das Verbotene" im fünften „Buch des Blutes" von Clive Barker basiert. Darin geht es um den mordlüsternen Geisteines getöteten Sklaven, der sich aus einem Spiegel ins Diesseits materialisiert, wenn jemand fünfmal laut seinen Namen ausspricht. Wie sehr dieser Film bis heute nachwirkt, zeigt ein Interview, das die Jugendzeitschrift „Bravo" in ihrer Halloween-Ausgabe 2003 (Nr. 45 vom 29. Oktober) mit der Boygroup „B3" führte. Unter anderem wollte das Pop-Blatt wissen: „Hattet ihr Monster unterm Bett, als ihr klein wart?" Darauf antwortete Tim, der Sänger der Band: „Das nicht, aber man sagt doch, dass du niemals in den Spiegel blicken und dreimal ,Candy Man' sagen darfst. Ich habe es zweimal gesagt - und hatte dann voll Panik, dass ich sterben muss. Drei Monate lang habe ich danach nicht mehr in den Spiegel geguckt!" „Candyman's Fluch" zog zwei Fortsetzungen nach sich, und auch in dem Teenhorrorstreifen „Düstere Legenden" sowie in der „Akte-X"-Folge „Energie" spielten die „Bloody-Mary"-Sage und ein entsprechendes Ritual eine Rolle. „Man muss wohl kaum betonen, dass niemand Bloody Mary je zu Gesicht bekommen hat", schreibt die amerikanische Autorin Jane Goldman dazu in ihrem Buch „Die wahren X-Akten". Doch das dürfte zumindest ergänzungsbedürftig sein. Wie stellt ein namenloser User auf der Webseite „Der einsame Schütze" als Response auf das eingangs geschilderte Erlebnis wohl zu Recht fest: „Ich denke mir auch, dass das nicht funktioniert. Aber es könnte den Hintergrund haben, dass die Leute, die so etwas machen, sich vor lauter Angst und Aufregung eine Frau im Spiegel einbilden. Das kann ich mir sehr gut vorstellen."
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 1/2005.