Die moderne Physik hat viele Erkenntnisse geliefert, die unserem alltäglichen Vorstellungsvermögen widersprechen. Nach der Relativitätstheorie bilden Raum und Zeit eine gekrümmte vierdimensionale Raumzeit, und die Zeit verläuft nicht für alle Beobachter gleich schnell. Aus der Quantenmechanik wissen wir, daß Atome und Elementarteilchen sowohl Wellen- als auch Teilchencharakter haben. Sie bewegen sich nicht auf klar definierten Bahnen mit einer klar definierten Geschwindigkeit, sondern es ist immer nur entweder ihr Ort oder ihre "Geschwindigkeit" (richtiger: ihr Impuls), niemals aber beides gleichzeitig exakt meßbar. Elementarteilchen können feste Wände durchtunneln und haben noch viele weitere unbegreiflich erscheinende Eigenschaften. Natürlich regen solche Aussagen zu weiteren Gedanken an: Wie kann man sich denn diese seltsamen Eigenschaften vorstellen? Was bedeuten sie für unser Weltbild? Gibt es Parallelen zu Philosophie und Religion? Kann die Quantenmechanik vielleicht "unerklärliche", "übersinnliche" Phänomene erklären? Können denn diese merkwürdigen Gesetze überhaupt stimmen, oder ist nicht einfach alles falsch?
Populär wurde die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Quantenmechanik und Religion durch das 1975 erschienene Buch "Das Tao der Physik" des Physikers Fritjof Capra, das zu einem Kultbuch der New-Age- und Esoterik-Bewegung wurde und auch vielen Physikern und physikalisch interessierten Laien bekannt ist. Darin spricht Capra von der "Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie": Die Physik (speziell die Quantenmechanik) und die östliche Mystik (speziell Hinduismus, Buddhismus und Taoismus) seien mit völlig verschiedenen Methoden, nämlich Experimenten auf der einen Seite und Meditation und der Suche nach innerer Einsicht auf der anderen Seite, zu im wesentlichen dem gleichen Weltbild gelangt. Nach Ansicht der New-Age-Anhänger ist die Welt "ganzheitlich" und darf nicht in Teilbereiche zertrennt werden, alles im Universum ist dynamisch und - wie im Hinduismus der kosmische Tänzer Shiva - immer in Bewegung. Eine besondere Rolle spielt die Einheit der Gegensätze: Ebenso wie Zen-Meister ihren Schülern paradoxe Aufgaben stellen, um sie für ein neuartiges Bewußtsein der Wirklichkeit zu öffnen, zeige uns die Quantenmechanik, daß die Welt grundlegend paradox und nicht mit "westlicher Logik" zu verstehen sei.
Aus der Sicht der modernen Physik sind solche Aussagen sehr problematisch und stehen auf schwankendem Grund. Die Quantenmechanik führt durchaus nicht zu einem ganzheitlichen Weltbild, in dem stets alles mit allem innig verknüpft ist. Man kann vielmehr die Zustände von Quantenobjekten sehr genau berechnen, ohne das ganze Universum in die Rechnung mit einzubeziehen. Auch das immer wieder ins Feld geführte Einstein-Podolsky-Rosen-"Paradoxon", das bestimmte Korrelationen bei Messungen an verschiedenen Teilchen voraussagt, ändert daran nichts, da diese Korrelationen nur nach einer direkten Wechselwirkung auftreten, aber nicht bei unabhängigen Teilchen. Sehr viele wichtige quantenmechanische Systeme sind stationär, also zeitlich unveränderlich, keineswegs ist stets alles in Bewegung. Und die Quantenmechanik widerspricht auch nicht der klassischen Logik, sie ist vielmehr eine umfassende, in sich widerspruchsfreie Theorie, die klare und eindeutige Voraussagen macht, die durch Experimente sehr gut bestätigt werden. Die Welt der Quantenmechanik ist nicht "paradox" oder logisch widersprüchlich, nur sehr unanschaulich.
Aber auch aus der Sicht östlicher Religionen sind Zweifel an dem Weltbild der "New-Age-Physik" angebracht. Die östlichen Philosophien haben keineswegs ein einheitliches Weltbild, und es gibt viele Richtungen, deren Welt statisch-unveränderlich (z.B. Advaita Vedanta) oder pluralistisch ist (z. B. Sarvastivada-Buddhismus) und damit dem dynamischen, ganzheitlichen Weltbild der New-Age-Physik vollständig widerspricht. Insgesamt bleibt der Eindruck, daß die "New-Age-Physik" gezielt diejenigen Elemente aus der Wissenschaft und der Mystik aufgenommen hat, die ohnehin in ihr vorgefertigtes Weltbild passen, und widersprechende Elemente ignoriert. Die moderne Physik läßt sich nur mit Mühe in dieses Weltbild pressen, und die gefundenen Ähnlichkeiten bleiben ziemlich oberflächlich.
Viele andere Autoren beschränken sich nicht darauf, nur diese Deutungsfragen der modernen Physik zu diskutieren, sondern behaupten, diverse paranormale Phänomene physikalisch "erklären" zu können. So meinen einige "Parapsychologen" (siehe auch Abschnitt "Parapsychologie"), Telekinese sei auf Quanteneffekte zurückzuführen. Sie berufen sich auf den "Beobachtereffekt" in der Quantenmechanik, von dem viele Lehrbücher - etwas diffus - schreiben, der "Beobachter" (Experimentator) "beeinflusse das quantenmechanische System". Solche Formulierungen führen jedoch leicht zu grundlegenden Mißverständnissen: Der Experimentator kann zwar die Versuchsbedingungen festlegen, und davon hängt es ab, welche Beobachtungsgröße (Observable) gemessen werden kann, aber er (oder gar sein Bewußtsein) kann keinen Einfluß darauf nehmen, welchen Wert die gewählte Beobachtungsgröße bei einer Messung annimmt.
Auch die Wirkung höchster Verdünnungen in der Homöopathie (siehe Abschnitt "Homöopathie"), Levitationen, Geistererscheinungen, Erdstrahlen oder gar die Unsterblichkeit und Auferstehung des Menschen werden mit Hilfe der modernen Physik angeblich "bewiesen". Unabhängig davon, daß schon die tatsächliche Existenz dieser Phänomene nicht hinreichend belegt ist, kennen Naturwissenschaftler auf jeden Fall die Naturgesetze gut genug, um zu wissen, daß bei diesen "Beweisen" die Theorien falsch angewendet werden. Und Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Bewußtsein oder nach der Auferstehung können physikalische Theorien nicht beantworten, weil sie dafür nicht konstruiert wurden.
Es sei noch darauf hingewiesen, daß immer wieder einzelne Personen versuchen, gut bestätigte physikalische Theorien, etwa die Relativitätstheorie, zu widerlegen. Die vorgebrachten Argumente zeigen meist deutlich einen erheblichen Mangel an Kenntnissen über Physik und sind für jeden Physiker mühelos und schnell zu entkräften. Sie verkennen auch, daß Theorien wie die Quantenmechanik oder die spezielle Relativitätstheorie nicht etwa "abgehobene Spinnereien" sind, sondern zum täglichen Handwerkszeug Tausender von Physikern gehören und in unzählige Experimente eingehen. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, daß ihre Voraussagen mit extremer Genauigkeit mit den Versuchsergebnissen übereinstimmen.
Literatur:
- Lambeck, Martin (1991) Zur Quantenphilosophie und Parapsychologie des Franz Moser. Skeptiker 2, S. 44 - 47.
- Lambeck, Martin (1992) Experimental-Vorschlag zur Prüfung der Homöopathie nach Thorwald Dethlefsen. Skeptiker 3, S. 58.
- Lambeck, Martin (1993) Die Deutungen der Quantenphysik durch F. Capra und seine Nachfolger. Praxis der Naturwissenschaften/Physik 2/42, S. 17 - 24.
- Lambeck, Martin (1994) Wissenschaft und Parawissenschaften - Versuch einer Standortbestimmung. Skeptiker 3, S. 70 - 76.
- Lambeck, Martin (1995) Physik und New Age (I) - Können sich New Age, Parawissenschaften und Esoterik auf die moderne Physik stützen? Berliner Dialog - Michaelis, S. 51 - 53.
- Lambeck, Martin (1995) Physik und New Age (II) - Das EPR - Paradoxon. Berliner Dialog - Weihnachten.
- Lambeck, Martin (1996) Physik und New Age (III) - Das EPR - Paradoxon und Capras Erben. Berliner Dialog - Ostern.
- Lambeck, Martin (1997) Können paranormale Phänomene physikalisch erklärt werden? Skeptiker 2/1997, S. 52 - 55.
- Lambeck, Martin (1999) Bewertung des Radonrisikos durch Vergleich mit Radonkurorten. 12. Statusgespräch zum Problemkreis "Radon". Berlin 26./27. Oktober. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
- Lambeck. Martin (1997) Können Paraphänomene durch die Quantentheorie erklärt werden? Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, 39, Nr.1/2, S. 103 - 116 (PDF mit Artikel und Diskussion)
- Lucadou, W.v. (1997) Muß die Quantentheorie durch Paraphänomene ergänzt werden? - Bemerkungen zu Professor Lambecks Thesen. Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, 39, Nr. 1/2, S. 117-122
- Lambeck, Martin (1997) Antwort auf die Replik von Dr. Dr. von Lucadou. Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, 39, Nr. 1/2, S. 123.
- Lambeck, Martin (2001) Eine Revolution der Physik? Die Unterstützung der Homöopathie und ähnlicher Therapierichtungen durch die Krankenkassen. Skeptiker 3/1997, S. 117-122.
- Park, Robert L. (1997) Alternative Medicine and the Laws of Physics. In: Skeptical Inquirer September/Oktober.
- Stenger,Victor J.(1997) Quantum Quackery. In: Skeptical Inquirer, January/February.
- Hümmler, Holmn (2002) Tachyonen: Schnelles Geld mit schnellen Teilchen - oder ohne? Ein missbrauchter Begriff der Physik. In: Skeptiker 4/2002, Seite 154 - 155
- Lambeck, Martin (2003) Irrt die Physik? Über alternative Medizin und Esoterik, Beck'sche Reihe. Ausführliche Infos zu dem Buch.
Linktipps:
- Skeptic's Dictionary: "tachyons and takionics "und "energy".
- Vortrag von Dr. Holm Hümmler: Tachyonen, Felder, Freie Energie – wie die Esoterik die Begriffe der Physik missbraucht (PDF-File ca. 900 KByte).